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Die Opfer des IS

Die Unbezwingbaren

Feature
Die Unbezwingbaren
Als der »Islamische Staat« (IS) kam, musste es schnell gehen. Die Geschwister Sevo und Chero hielten zusammen. Chero Merza Shamo trug seinen Bruder ­Sevo allein über die Berge, als sie aus Sindschar fliehen mussten. Foto: Philipp Spalek

Die Kämpfer des IS sind im Irak zwar stark in die Defensive ­geraten, doch sie hinterlassen ein trauma­tisiertes Land. Auch wenn die seelischen Wunden nie ganz verheilen werden, entwickeln viele Opfer ­ungeahnte Kräfte.

Jede von Hasiba Shamos seltenen Bewegungen scheint durchdacht. Als wolle sie nicht auffallen, als sei ihr die neu errungene Freiheit nicht geheuer. Als würden sich der süß duftende Tee und das frisch gebackene Brot ihrer Mutter mit einem Mal in Luft auflösen und das Tageslicht erlöschen, das sich seit ihrer Ankunft so zuverlässig den Weg durch die Kunststofffenster des Rohbaus im Flüchtlingslager Derabon im Nord­irak bahnt. Doch die 20-Jährige möchte ihre Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die im August 2014 beginnt, als die Kämpfer des IS eine Offensive zur Eroberung des Sindschar-Gebirgszuges starteten – der Heimat vieler jesidischer Familien wie den Shamos.

Hasiba Shamos
Hasiba Shamos seelische Wunden sind tief. Drei Jahre lang musste sie in Mosul im Haus eines IS-Kämpfers leben und ihm und seiner Familie dienen. Foto: Philipp Spalek Philip Spalek

»Es ging so schnell. Wir hörten Schüsse und Einschläge von Geschossen. Und wir versuchten, zu entkommen. Doch sie holten uns ein und zwangen uns, auf die Ladeflächen ihrer Pick-ups zu steigen. Dann brachten sie uns nach Raqqa«, erinnert sich Hasiba. Die wichtigsten Informationen über die Gefangenen hätte der IS akribisch in Akten in seiner ehemaligen Hochburg im syrischen Norden festgehalten, sagt sie. »Es gab dort ein Büro, das nur den Zweck hatte, uns wie auch viele andere zum Kauf anzubieten.«

In den meisten Fällen waren es Kämpfer der Miliz, die die Frauen zu ihren Sklavinnen machten. Manchmal, wie im Fall von Hasibas Mutter Sachari und Hasibas drei jüngeren Schwestern Lina, Lucy und Lura, traten aber auch Angehörige der Verschleppten über Mittelsmänner mit dem Büro in Kontakt und kauften sie frei. Doch für Hasiba kam diese Hilfe zu spät. Schon kurz nachdem sie gefangen genommen wurde, zahlte ein IS-Kämpfer aus Mosul den Kaufpreis für die damals 17-Jährige. Er lag bei 800 US-Dollar.

Hasem
Sakhari Mahmud Wadi hält das Bild ihres Sohnes Hasem in der Hand. Hasem Shamo, 17, war vom IS in Raqqa als Soldat eingezogen worden. Seine Mutter wollte Raqqa nicht ohne ihn verlassen. Foto: Philipp Spalek

Hasibas Wunden in der Seele sind frisch und gehen tief. Erst im Frühjahr 2017, als die irakische Armee und ihre Verbündeten den Belagerungsring um Mosul enger zogen, konnte sie aus der Gefangenschaft des Mannes entkommen, der sie in seinem Haus in der nordirakischen Stadt eingesperrt hatte. »Er und seine Familie behandelten mich wie Vieh«, sagt Hasiba heute. Drei Jahre hatte sie in einem kleinen, fensterlosen Raum verbracht und jeden Abend gebangt, ob ihr Peiniger wiederkehren würde, um sich an ihr zu vergehen. »Er kam immer nachts. Alle sahen weg, seine Frau, seine Kinder, sein Vater, seine fünf Schwestern.« Was ihr in dieser verzweifelten Situation den Mut zum Weiterleben gab, waren die Gedanken an ihre Familie. Und der Wille, dass der IS nicht auch noch ihre Seele bekommt.

Dass die Jesidin so offen und gefasst über ihr Schicksal berichten kann, sei nicht ungewöhnlich nach einer traumatischen Erfahrung, meint Meryam Schouler-­Ocak, die als Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Berliner Charité arbeitet. Ihr zufolge reagieren viele Menschen, die Unvorstellbares erlebt haben, mit sogenannten Dissoziationen. »Das heißt, dass die Betroffenen Erinnerungen, Gedanken, Bilder, Gefühle und Körperwahrnehmungen in Bezug auf die traumatischen Erlebnisse und Erfahrungen innerlich abspalten, um von ihnen nicht überflutet zu werden«, erklärt Schouler-Ocak, die regelmäßig mit traumatisierten Flüchtlingen und Migranten arbeitet und auch zu dem Thema forscht. Dissoziationen können sogar zu einer kompletten Amnesie führen, bei der gesamte oder große Teile des Erlebten in der Erinnerung der Betroffenen einfach fehlen. Sie sind dann wie ausgelöscht. Andere Folgen extremer Erfahrungen seien Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Beschwerden und Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), erklärt Schouler-Ocak.

Letztere werden häufig als Soldatenkrankheit wahrgenommen, da die charakteristische Kombination aus Symptomen wie Flashbacks – also plötzlich wieder auftauchenden Erinnerungen an eine Extremsituation –, Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen, Schreckhaftigkeit und einer hohen Reizbarkeit etwa nach Kriegen in besonders hoher Zahl diagnostiziert wird. PTBS tritt aber genauso bei anderen Opfern und Zeugen von Gewalt auf – und ist schwer zu behandeln.

Nabil Fatmji
Nabil Fatmji, 54, bekommt Medikamente gegen Rückenschmerzen und Allergien. Seine Allergie sei psychosomatisch, meint er. Sie trat nur während der Fluchtphasen auf. Viermal wurde er bisher in seinem Leben zur Flucht gezwungen. Foto: Philipp Spalek

Auch bei Nabil Fatmi wirkt sich die psychische Belastung immer wieder körperlich aus. Er deutet auf seinen Arm, auf dem sich ein trockener Ausschlag ausgebreitet hat, und schiebt die Ärmel nach oben. »Ich bekomme ihn immer dann, wenn wir wieder um unser Leben fürchten müssen«, erzählt er bei seinem Besuch in einer mobilen Klinik des Caritas-Partners Capni in Mala Barwan, einem Dorf zwischen den Großstädten Erbil und Dohuk. Der Mitfünfziger stammt aus Mosul, wegen seines Glaubens wurde der Christ in der Vergangenheit immer wieder bedroht und erpresst. Insgesamt vier Mal musste er aus seiner Heimatstadt fliehen, vier Mal hat er seinen gesamten Besitz verloren und musste von vorn anfangen. Einmal fand er ein Fass mit Kerosin und einem Zünder in seiner Garage. »Es war eine ziemlich deutliche Warnung.« Das letzte Mal bekam er den Ausschlag, als der IS sein Viertel unter Beschuss nahm.

Die Laatus
Um den Dschihadisten nicht ausgeliefert zu sein, entschied sich die muslimische Familie Laatus 2014, wie viele ihrer christlichen und jesidischen Nachbarn, zur Flucht in den Norden des Landes. Foto: Philipp Spalek

Ein Fall wie dieser gehört für seinen Arzt noch zu den harmloseren und ist mit solchen wie dem Hasibas kaum zu vergleichen. Für die körperlichen Symptome verschreibt der 32-jährige Anas Zeki Mattis seinem Patienten eine Kortisonsalbe und bittet ihn, wieder einen Arzt aufzusuchen, wenn sich keine Besserung einstellt. Um die tieferen Ursachen kann sich Mattis in Zeiten wie diesen nicht kümmern. Immer wieder hört man im Irak den Satz, dass es die Menschen hier nicht anders kennen würden. Sicherheit, einen stabilen Staat ohne Korruption und einige Monate ohne Anschläge oder Gefechte in mindestens einem Teil des Landes. Wann habe es das zuletzt gegeben? Man kann sich darüber streiten, zu welchen Anteilen diese Aussagen von Hilflosigkeit zeugen oder von Resilienz, also der psychischen Widerstandsfähigkeit, die es ermöglicht, Krisen zu bewältigen und daraus sogar gestärkt hervorzugehen.

Laut der Psychiaterin Schouler-Ocak liegt der Prozentsatz derjenigen, die auf traumatische Erlebnisse langfristig positiv – mit einem sogenannten Posttraumatischen Wachstum – reagieren, bei 60 bis 80 Prozent. Doch dass viele Menschen nach einer Extremsituation neuen Lebensmut und neue Motivation schöpfen, heißt nicht, dass sie die schlimmen Eindrücke der Vergangenheit verarbeitet haben. Und außerdem bleiben da noch die anderen 20 bis 40 Prozent, die in dieser Rechnung fehlen. Diejenigen, die seelische Verletzungen erlitten haben und bei denen sich keinerlei Zeichen einer Besserung erkennen lassen. »In vielen Fällen müssen wir Patienten mit schwerwiegenden psychischen Problemen ins Krankenhaus weiterverweisen«, erklärt Allgemeinmediziner Mattis. Auch wenn das nächste in der Großstadt Dohuk fast 60 Kilometer entfernt liegt und die Kosten für Medikamente oder gar eine langfristige Psychotherapie für kaum einen seiner Patienten tragbar sind.

Khairy und Sandy
Geburt auf der Flucht: Khaira war mit ihrer Tochter Sandy ­schwanger, als sie aus Sindschar vor dem IS fliehen musste. Foto: Philipp Spalek

Im Flüchtlingslager in Derabon zeigen sich Anzeichen des Posttraumatischen Wachstums in kollektivem Gelächter. Fast alle der Jesidinnen, die das von der Caritas Irak betriebene Sozialzentrum in der kargen Grenzregion zu Syrien und der Türkei besuchen, haben in den vergangenen drei Jahren extreme Gewalt erlebt. Doch die Stimmung ist ausgelassen. Mit einfachen Mitteln bringen Sozialarbeiter die überwiegend jungen Frauen auf andere Gedanken. Einmal binden sie zwei von ihnen mit einer Kordel je zwei Luftballons an die Beine, die sie bei ihrem Gegenüber zertreten müssen. Ein Knall, ein zweiter. Niemand zuckt zusammen, stattdessen jubeln die rund 50 Anwesenden der Gewinnerin zu. Ein anderes Mal müssen zwei Kontrahentinnen einen improvisierten Geschicklichkeitsparcours meistern. Damit es nicht zu einfach ist, balancieren sie beim Laufen eine Plastiktasse auf dem Kopf. Weil fast jede an die Reihe kommen möchte, dauern die Spiele länger als geplant. Doch die Sozialarbeiter sind froh, dass viele der traumatisierten Jesidinnen zu den Treffen kommen, um sich abzulenken, anstatt die Einsamkeit zu suchen. Es ist für alle ein kleiner Schritt nach vorn.

Ob jemand aus einer extrem belastenden Situation belastet herausgehe oder nicht, hänge von vielen Faktoren ab, erklärt Schouler-Ocak. »Wir wissen, dass insbesondere von Menschenhand erzeugte Traumatisierungen die tiefsten Narben hinterlassen.« Außerdem spiele es eine Rolle, ob vorher schon extreme Situationen erlebt wurden oder es in der Familie eine entsprechende Vorgeschichte gebe. Je kürzer die Erlebnisse sind und je abgeschlossener, desto besser die Heilungschancen. Am gravierendsten wirke sich aus, wie das Umfeld mit den Betroffenen umgeht. Hasiba Shamo kann sich hier glücklich schätzen. Ihre Mutter Sachari kümmert sich rührend um ihre Tochter, die sie schon fast verloren glaubte. »Damals, als sie mir genommen wurde, habe ich daran gedacht, mein Leben an Ort und Stelle zu beenden. Doch ich wollte weiterkämpfen, das war ich auch meinen anderen Kindern schuldig.«

Seminar
Die Hilfsorganisation Caritas bietet für Frauen im kurdischen Zakho, nördlich von Mosul, Seminare für medizinische Aufklärung an. Foto: Philipp Spalek

Als sie sich erinnert, wie Hasiba plötzlich vor der Tür stand, rollen Tränen über ihre Wangen. »Ich konnte es kaum fassen. Es war völlig unwirklich. Wir haben uns umarmt und nur noch geweint. An Schlaf war die nächsten Tage nicht zu denken, für niemanden von uns. Es ist, als wäre sie neu geboren worden«, sagt sie und lässt mit ihren Worten ein Lächeln über Hasibas Gesicht huschen. In der kommenden Woche möchte sie ihre Tochter mit in das Sozialzentrum in der improvisierten Siedlung nehmen. Hasiba verspricht, sie zu begleiten, auch wenn beide wissen, dass all die schrecklichen Erinnerungen durch ein paar Stunden in Gesellschaft nicht verschwinden werden. Bis es so weit ist, muss sich Hasiba erst einmal wieder an ihr neues Leben gewöhnen. »Drei Jahre konnte ich nicht vor die Tür gehen, nicht ein einziges Mal frische Luft atmen. Es ist unglaublich, jetzt frei zu sein.«

Von: 
Holger Vieth
Fotografien von: 
Philipp Spalek

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