Er war ein Kenner des sogenannten Islamischen Staats und anderer Mafias und Milizen im Irak, denn er nahm sie wirklich ernst. Nun wurde Hisham al-Hashimi in Bagdad ermordet. Ein Nachruf.
Er sprach oft in Zahlen und Daten. Mit leiser Stimme, die sein diskretes und freundliches Auftreten unterstrich, präsentierte er die Fakten. Hisham al-Hashimi leitete daraus seine Analysen ab, ohne Klischees oder Feindbilder zu produzieren. Selbst wenn er von den Dschihadisten des sogenannten Islamischen Staats sprach, einer nahezu weltweit geächteten Terrororganisation, die seine irakische Heimat verwüstete, tat er dies nüchtern und mit analytischem Vokabular.
Hisham war ein Historiker der Gegenwart. Er gelangte mit seiner Quellenarbeit nicht nur an viele Daten und Detailkenntnisse. Er konnte sich in die Akteure des Geschehens hineinversetzen. Er kannte die theologischen und theoretischen Schriften, auf die sich die Anführer der politischen Parteien, die Avantgarde der aufständischen Gruppen und der Milizen im Irak beriefen.
Der 1973 in Bagdad geborene Hisham forschte unter anderem über das Gedankengut des Damaszener Hadith-Sammlers und Chronisten Shams al-Din al-Dhahabi, auf dessen Schriften sich auch einige salafistische Prediger im Islam berufen. Im Vergleich zu anderen Koryphäen des islamischen Mittelalters konnte Hisham sein gesammeltes Wissen in konkrete Analysen, tagesaktuelle Schlüsse und Handlungsempfehlungen übersetzen. Auch später, als Analyst und Sicherheitsexperte, nahm er den Gegenstand seiner Studien ernst, anstatt, wie viele andere Beobachter des Geschehens, die Dschihadisten des »IS« nur als Gestalten ohne Seele und Verstand betrachten.
Im Lagerkampf der Irak-Experten blieb er eine Stimme der Vernunft
Die islamistischen und salafistischen Milieus kannte Hisham nicht nur durch äußere Anschauung. In den späten 1990er Jahren wurde er unter dem Vorwurf, ein salafistischer Prediger zu sein, von dem Regime Saddam Husseins ins Gefängnis geworfen. Womöglich traf er zu dieser Zeit schon viele Menschen, die später bei Al-Qaida oder dem IS zum Gegenstand seiner Forschung werden sollten. Die Geheimpolizei Saddam Husseins ließ ihn später verhaften. 2002, kurz vor dem Sturz des Regimes, kam Hisham wieder frei. Nach dem Sturz von Saddam 2003 arbeitete er als Rechercheur mit internationalen Journalisten zusammen und veröffentlichte auch eigene Beiträge. Spätestens mit dem Auftritt des IS in den internationalen Nachrichten erlangte er als Dschihadismus-Fachmann Bekanntheit.
In Interviews berichtete er freimütig über seine investigative Arbeit. Seine Erkenntnisse über die inneren Machtstrukturen des IS sollen den irakischen Sicherheitsbehörden hilfreich gewesen sein. Institute und Thinktanks verließen sich auf ihn, sein Name findet sich in den Quellenverzeichnissen vieler Monografien über den IS und andere Gewaltakteure im Irak wieder. Hisham teilte seine Daten großzügig mit anderen, half Journalisten, Akademikern, Aktivisten und Forschern wie mir, die verschleierten Machtstrukturen besser zu verstehen.
Hisham nahm kein Blatt vor der Mund und ließ sich nicht leicht einschüchtern. Besonders in den letzten beiden Jahren seines Lebens häuften sich die Anfeindungen und Drohungen gegen ihn. Der sunnitische Aufstand war besiegt, der IS wieder in den Untergrund gegangen. Einige der triumphierenden schiitischen Milizen des »Islamischen Widerstandes« stellten ihre Macht zur Schau. Hisham befasste sich mit den mafiosen Umtrieben solcher Milizen sowie mit dem Einfluss ausländischer Mächte wie Iran, die sich dieser Kräfte bedienen.
Erstaunlich war, dass er zu vielen Politikern, Milizenchefs und Paramilitärs persönliche Beziehungen pflegte, obwohl er diese energisch und manchmal sogar öffentlich kritisierte. Als 2019 hunderte Demonstranten der Protestbewegung getötet wurden, äußerte Hisham früh den Verdacht, dass Parteimilizen, Paramilitärs oder Teile des undurchsichtigen Sicherheitsapparats darin involviert waren.
Während der monatelangen Proteste auf dem Bagdader Tahrir-Platz pendelte Hisham zwischen Demonstranten und Politikern, um Botschaften zu übermitteln. Hier zeigte er sich als engagierter Bürger, der beide Sprachen beherrschte: diejenige der Straße und diejenige der Paläste.
In den Monaten vor seinem Tod lebte Hisham zeitweilig unter dem persönlichen Schutz des irakischen Präsidenten Barham Salih. Mehrere Freunde und Bekannte hatten ihm angeboten, ihn in Sicherheit zu bringen oder sogar im Ausland zu beherbergen. Hisham war umsichtig, aber er wollte sich sein Leben und das seiner Familie offenbar nicht vom Protokoll diktieren lassen.
Wir alle schulden ihm eine sachliche Aufklärung des Falles – keine vorschnellen Urteile
Hisham dachte selbst nicht in konfessionellen Kategorien. Aber er verstand deren Wirkung. Der Sektarismus, die machtpolitischen Gegensätze zwischen Schiiten, Kurden oder Sunniten, welche die irakische Politik bestimmen, schien ihm als das Grundübel des Irak. So zumindest äußerte er sich in seinem letzten Tweet. Im politisch befeuerten Lagerkampf der Thinktanks und Irak-Experten, in dem man schnell als »pro-iranisch« oder »pro-westlich« eingeordnet wird, blieb Hisham eine Stimme des Ausgleichs und der Vernunft.
In einer detaillierten Studie untersuchte er die dynamischen Spaltungen innerhalb der stark fragmentierten paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd al-Shabi). Kurz vor seiner Ermordung arbeitete er noch an einem Artikel über irakische Familien und Clans, die seinen Erkenntnissen zufolge mit dem IS sympathisiert hatten. Anders als manche Politiker und Kommentatoren im Irak versuchte Hisham auch hier, die Hintergründe zu verstehen. Er verschwieg nicht, dass der IS in Teilen ein Phänomen der gespaltenen irakischen Gesellschaft war und nicht bloß das Geschöpf einer ausländischen Verschwörung.
Am Abend des 6. Juli wurde Hisham al-Hashimi im Alter von 47 Jahren von offenbar mehreren Attentätern vor seinem Haus im Bagdader Stadtviertel Zayouna erschossen. Sein Tod löste nicht nur Fassungslosigkeit und Entsetzen bei Angehörigen, Freunden und Kollegen aus, sondern auch eine Propagandaschlacht darüber, wer hinter dem Anschlag steckt.
Es scheint unzweifelhaft, dass seine Ermordung politisch motiviert war. Ohne einen wie Hisham wird es schwer sein, die Täter zu ermitteln. Hisham suchte immer nach der Wirklichkeit in einem Ozean von Manipulationsversuchen, voreiligen Schlüssen und Verschwörungsdenken. Die irakische Führung, die Behörden, aber auch die internationalen Medien und Experten, die von Hishams Analysen profitierten, sind ihm nun zweierlei schuldig: Die wahren Täter zu ermitteln und seine Geschichte wahrhaftig zu erzählen – ohne Sensationsgier und vorschnelle Spekulation.
Hier finden Sie eine Sammlung von Hisham al-Hashimis Werken in arabischer Sprache.