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Forschung in Deutschland und der Gaza-Krieg

Der Skandal um Ghassan Hage

Kommentar
Forschung in Deutschland und der Gaza-Krieg
Ghassan Hage (l.) zu Gast beim Sydney Writers Festival im vergangenen Jahr Sweatshop Literary Movement

Ein renommierter Gastforscher äußert sich wütend in sozialen Medien über den Gaza-Krieg und seine Opfer. Die Max-Planck-Gesellschaft setzt ihn vor die Tür und macht sich Antisemitismus-Vorwürfe zu Eigen, die bei genauerer Betrachtung haltlos sind.

Der 1957 in Beirut geborene libanesisch-australische Wissenschaftler Ghassan Hage gilt als Koryphäe seines Faches; sein 1998 erschienenes Buch »White Nation – Fantasies of White Supremacy in a Multicultural Society« zählt zu den Standardwerken in Anthropologie und Ethnologie. Sein neuestes, 2021 erschienenes Buch »The Diasporic Condition« ist ein Meilenstein der Anthropologie der Migration. Die deutsche, öffentlich finanzierte Max-Planck-Gesellschaft zeigte sich daher stolz, als sie Hage 2023 als Gastwissenschaftler an ihr gleichnamiges Institut in Halle berufen konnte. Als Intellektueller äußert Hage sich regelmäßig in Interviews zum Nahostkonflikt und propagiert seit Langem die Idee einer Ein-Staatenlösung für Palästinenser und Juden.

 

Seit dem 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Ausbruch des Kriegs in Gaza schreibt er viel in sozialen Medien oder auf seinem Blog im Internet. Einiges davon ist von Wut geprägt und lässt wissenschaftliche Differenziertheit vermissen. So publizierte er am Tag des Hamas-Überfalls auf Israel – also zu einem Zeitpunkt, da die wenigsten ein klares Bild vom wahren Ausmaß und der Brutalität der Attacke hatten – ein Gedicht mit dem Titel »The endless Dead-End that will not end«. Es handelt von der zyklisch wiederkehrenden Gewalt in Gaza. Am Ende heißt es darin, trotz aller militärischer Übermacht sei der »Widerstand der Palästinenser« endlos – sie könnten sogar »über Mauern fliegen«. Kritiker sahen darin eine Verherrlichung der Hamas.

 

Hage vertritt gerne provokante Standpunkte, die weder im Westen noch in der arabischen Welt populär sind. So schrieb er am 30. Dezember auf X (ehemals Twitter): »Ich habe keinen Zweifel daran, dass Israel aufhören wird, als jüdischer Staat zu existieren. Es wird aufhören zu existieren, indem es sich wieder in das auflöst, was es als Palästina war: ein multireligiöser Raum […] mit all seinen Höhen und Tiefen.« Mit diesem Satz setzt er sich sowohl gegen Islamisten und arabische Nationalisten, als auch gegen Israels westliche Unterstützer. Laut einem am 5. Februar 2024 erschienenen Bericht der Welt am Sonntag aber war damit der Beweis erbracht: Hage predige Israel-Hass, Antisemitismus und verharmlose den Holocaust, weil er etwa Methoden der israelischen Kriegführung in Gaza als jenen der Nationalsozialisten »ähnlich« nannte: etwa die systematische Erniedrigung der Palästinenser in Gaza. Es wäre schlimm, wenn ein Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft Judenhass verbreitet hätte. Nur stimmt es überhaupt?

 

Hages Statements richten sich vor allem gegen die israelische Politik und die Idee des ethnischen Nationalismus

 

Als jemand, der seit Jahrzehnten in der arabischen Welt forscht, kenne ich die arabische Version des Antisemitismus gut. Er ist durch den palästinensisch-israelischen Konflikt geprägt, bedient sich aber auch aus Denkmustern, Themen und Schlagwörtern des europäischen und nationalsozialistischen Judenhasses, verbrämt mit religiös begründeten Ressentiments. Kurz: Ich weiß mehr davon, als mir lieb ist.

 

Wer den Fall Hage untersucht und dabei der fachkundigen Analyse das letzte Wort lässt, kann den Vorwurf, Hage sei Antisemit und verbreite antisemitische Propaganda, nicht bestätigen. Seine Schriften sind nicht antisemitisch. Sie werten weder Juden noch Israelis als Menschen oder als religiöse oder ethnische Gemeinschaft herab; auch seine Statements sind es nicht. Sie sind polarisierend und polemisch zugespitzt. Sie richten sich vor allem gegen die israelische Politik und die Idee des ethnischen Nationalismus, die er im politischen Projekt Israels verkörpert sieht. Antisemitismus kann darin nur sehen, wer Kritik an Israel und der Besatzung mit Judenhass gleichsetzt.

 

Über diese Tendenz in Medien und Politik wird viel diskutiert und geschrieben. Einen Antisemitismus-Skandal gab es am Max-Planck-Institut dennoch nicht. Die »Beendigung der Zusammenarbeit«, also die Entlassung Hages durch die Max-Planck-Gesellschaft in Reaktion auf Kritik an seinen Äußerungen, ist hingegen tatsächlich ein Skandal, der die Freiheit von Wissenschaft und Meinungsäußerung berührt.

 

Hage belässt es nicht bei der Wut – viel öfter denkt er über die Geschehnisse nach, redet uns ins Gewissen

 

In ihrer kurzen Presseerklärung vom 7. Februar zum Fall Hage wirft die Max-Planck-Gesellschaft Hage vor, er habe mit seinen Äußerungen »die Wissenschaft beschädigt«. Die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber sei genauso wichtig wie das gesetzlich verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit. Sie beendete die Mitteilung mit dem denkwürdigen Satz: »Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Diskriminierung, Hass und Agitation haben keinen Platz in der Max-Planck-Gesellschaft.« Was genau davon Hage begangen habe, hat die Max-Planck-Gesellschaft nicht erläutert. Am 23. Februar hat Hage angekündigt, juristisch gegen seine Entlassung vorzugehen. Diese Frage wird also noch vor Gericht diskutiert.

 

Für jeden, der sich selbst ein Urteil bilden will, empfehle ich seinen englischen Aufsatz »Gaza und das kommende Zeitalter des Kriegers« vom November 2023, online auf Allegra Lab erschienen. Dort nennt Hage den Terror gegen israelische Zivilisten beim Namen. Auch diskutiert er, warum viele Menschen außerhalb Europas die Trauer um die israelischen Opfer nicht hätten teilen wollen: Diese werde als exklusiv wahrgenommen und gelte nicht gleichermaßen den Palästinensern, die durch Israels »Strafexpedition« (Hage) in Gaza getötet würden – mit dem Segen Europas und der westlichen Welt. Dasselbe kann man freilich über viele arabische Stimmen sagen, die das Leid von Israelis ignorierten. Aber zweimal falsch bleibt falsch. Hage ist einer, der sehr wohl Schrecken und Trauer für das Leid von Freund und Gegner empfindet. Darum sollten wir ihm zuhören, wenn er dasselbe von anderen einfordert.

 

Nicht nur Trauer, auch Wut ist zulässig und verständlich: Über die kaltblütige Tötung von fast 1.200 jüdischen Israelis sowie ausländischen Touristen und Gastarbeitern. Über die nicht minder kaltblütige Tötung von inzwischen über 29.000 Palästinensern in Gaza durch Israels Armee. Welche davon sollte uns mehr in Schrecken versetzen? Im Krieg sind wir parteiisch, uns rührt das Leiden von manchen Menschen mehr als das von anderen. Das ist schwer zu ändern. Aber ein Mindestmaß an Anstand gebietet es, dass wir anderen die Trauer und die Wut über die Tötung von so vielen Menschen nicht verbieten. Insbesondere, wenn wir Ghassan Hages Arbeiten kennen: Darin belässt er es nicht bei der Wut – viel öfter denkt er über die Geschehnisse nach, redet uns ins Gewissen.

 

Es ist wohl legitim, Hages Standpunkt zu kritisieren oder auf ihn wütend zu sein, genauso wie er andere kritisiert und auf andere wütend ist. All das bewegt sich eindeutig im Rahmen der Freiheit zur Meinungsäußerung im Sinne des Grundgesetzes. Und entsprechend müssen Medien und Wissenschaft es aushalten. So unterstützt Hage zwar die Idee der umstrittenen Bewegung »Boycott, Divest, Sanction« (BDS), die durch einen Boykott gegen israelische Institutionen einen Politikwandel erzwingen möchte. Er selbst reist deshalb nicht nach Israel, arbeitet aber, wie er selbst erklärte, mit israelischen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Eine Gruppe israelischer Wissenschaftler hat das zuletzt in einer öffentlichen Stellungnahme zu seiner Unterstützung bestätigt.

 

Für viele Kollegen im In- und Ausland ist die innerdeutsche Debatte schwer nachvollziehbar

 

Inzwischen hat Hage zu den Vorwürfen auf seinem Blog Stellung genommen: »Wenn einige rechte Journalisten, die meine policy nicht mögen, aus all dem, was ich geschrieben habe, meine Kritik an Israel herauszupicken und mich des Antisemitismus zu beschuldigen, erwarte ich, dass mein Arbeitgeber davon weiß oder zumindest meine Akte untersucht und mich gegen solche Anschuldigungen verteidigt.« Zu seinen Äußerungen stehe er nach wie vor: Er vertrete ein politisches Ideal, »für das ich in Bezug auf Israel und Palästina immer gekämpft habe. Es ist das Ideal einer multireligiösen Gesellschaft, in der Christen, Muslime und Juden gemeinsam in diesem Land leben.«

 

Der Weg hin zur pluralen Gesellschaft erfordert auch pluralistische Diskussionen, die Standpunkten Raum geben, welche sich vorerst unversöhnlich gegenüberstehen. Die Entscheidung der Max-Planck-Gesellschaft ist eine betrübliche Aussage über die Zukunft des Wissenschaftsstandorts Deutschland. Für viele Kollegen im In- und Ausland ist die innerdeutsche Debatte, in welcher jegliche Auseinandersetzung über den Nahostkonflikt mit dem Antisemitismus-Vorwurf abgeschnitten werden kann, schwer nachvollziehbar.

 

Und warum sollten sie nach Deutschland kommen, wenn sie zugleich Angst haben müssen, Ziel einer politisch motivierten Kampagne zu werden? Zumal wenn sie biografisch mit einer Region verbunden sind, die von deutschen Befindlichkeiten und Erinnerungskultur weit entfernt, dafür aber direkt von einem bewaffneten Konflikt betroffen ist, in dem Israel eine zentrale Rolle spielt.

 

Ich selbst bin nach Deutschland emigriert, weil ich hier neben guten Arbeitsbedingungen auch mehr kritischen Geist und Vielfalt als in meiner finnischen Heimat vorfand – einer Kultur, die ich zwar als frei, aber eben auch kleingeistig und nationalistisch empfunden habe. Heute frage ich mich, ob ich dieselbe Entscheidung wieder treffen würde. Die Max-Planck-Gesellschaft wurde vor die Wahl gestellt: Die Tradition des kritischen Diskurses und Weltoffenheit fortzusetzen – oder aber sich auf Druck einiger Aktivisten und Medien einzumauern und einen ihrer renommiertesten Wissenschaftler de facto zu zensieren. Sie hat sich für letzteres entschieden.


Der Sozial- und Kulturanthropologe Dr. Samuli Schielke, 1972 in Finnland geboren, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin.

Von: 
Samuli Schielke

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