Der afghanischen TV-Sender TOLOnews ist eine Erfolgsgeschichte. Direktor Lotfullah Najafizada steht auf der Todesliste der Taliban und will trotzdem mit ihnen ins Gespräch kommen – und mit seinem Sender mehr bieten als Schreckensmeldungen.
zenith: Der Nachrichtensender TOLOnews feiert gerade sein 15-jähriges Bestehen. Ist Ihnen und Ihren Kollegen angesichts der Lage in Afghanistan denn nach Feiern zumute?
Lotfullah Najafizada: In den vergangenen Jahrzehnten haben wir Monarchie, Kommunismus, Bürgerkrieg und dann die Taliban erlebt. Erst seit 2001 garantiert die Verfassung Pressefreiheit – und die afghanische Medienlandschaft blüht seitdem auf. So betrachtet, haben wir allen Grund zum Feiern.
Was zeichnet Afghanistans Medienlandschaft denn aus?
Mittlerweile gibt es über 70 Fernsehsender, dazu hunderte Radiostationen und Zeitungen. Der Medienbetrieb beschäftigt landesweit über 10.000 Menschen. Ein Grund zur Freude und deshalb geht es mir nicht darum, mit TOLOnews ein einzelnes Medium hervorzuheben. Was zählt, ist die neue Vielfalt.
Nicht jeder ist glücklich, sich kritischen Fragen stellen zu müssen.
Deshalb müssen wir die Bedeutung dieser Medienvielfalt würdigen! Es geht um die Zukunft unseres Landes, nicht um Arbeitsplätze. Wir müssen die Errungenschaften der gesellschaftlichen Revolution seit 2001 verteidigen. Heute schneidet Afghanistan mit Blick auf die Pressefreiheit besser ab, als die meisten Länder der Region. Darauf sind wir stolz. Und die Taliban müssen verstehen, dass diese Errungenschaft kein Import aus dem Westen ist. Das haben wir Afghanen uns selbst aufgebaut.
»Heute überlegen wir es uns zweimal, ob ein Vor-Ort-Bericht das Risiko tatsächlich wert ist.«
Wie lassen sich die Taliban in diese neue Gesellschaft einbinden?
Sie sind doch schon eingebunden. Ihre Vertreter sind zu Gast in unseren Fernsehsendungen, wir sind im permanenten Austausch. Die Taliban sind ein Teil Afghanistans, auch wenn wir andere Ansichten darüber haben, wie und in welche Zukunft dieses Land geführt werden soll.
Einerseits führen sie einen Dialog, andererseits töten Taliban gezielt Journalisten.
Ja, das stimmt. Sie töten uns. 2016 haben wir von TOLO bei einem Anschlag der Taliban sieben Kollegen verloren. Doch es sind nicht nur Kollegen, die sterben. Durch Selbstmordattacken, Autobomben und Artilleriebeschuss haben wir alle auch Freunde und Familienmitglieder verloren. Aber auch die Taliban haben Angehörige verloren.
2018 war das tödlichste Jahr für Journalisten seit Ende der Taliban-Herrschaft. 15 Journalisten wurden ermordet. Wie sieht journalistische Arbeit in einem derart gewalttätigen Umfeld aus?
Immerhin sitzen in Afghanistan derzeit keine Journalisten aus politischen Gründen im Gefängnis. Unser Problem ist also nicht, dass wir von Inhaftierung bedroht sind – dafür haben wir Angst um unser Leben. Aber auch hier gilt: Wir sind damit nicht allein. Ingenieure, Ärzte und allen anderen Berufsgruppen leben ebenfalls in ständiger Gefahr. Der Unterschied ist, dass wir uns dieser Gefahr immer wieder bewusst aussetzen. Wir fahren an die Front und in gefährliche Provinzen, in denen Taliban das Sagen haben. Wenn die meisten Menschen nach einem Anschlag rennen und Schutz suchen, fahren wir erst hin. Das ist kein Zustand und unser Handlungsspielraum schrumpft. Heute überlegen wir es uns zweimal, ob ein Vor-Ort-Bericht das Risiko tatsächlich wert ist.
Journalisten in Kriegsgebieten berichten oft, dass sie sich unbemerkt selbst zensieren. Was kann ich sagen, was nicht? Ist das eine Kalkulation, die Ihnen bekannt vorkommt?
Der Grad der Pressefreiheit lässt sich an der Resilienz der Branche ablesen. Starke Medien sind freie Medien. Deswegen lade ich regelmäßig die Leiter der großen afghanischen Fernsehsender ein. Wir tauschen uns aus und stimmen uns ab. Meiner Meinung nach sollten alle Medien im Land zusammenhalten, um sich nicht einschüchtern zu lassen. Nicht jeder hält diesem Druck stand und manch einer wird sicher vorsichtiger. Und wer könnte es ihm verübeln? Wenn du jemanden verärgerst, der bewaffnet ist, musst du mit den Konsequenzen leben.
»Anfang des Jahres veröffentlichten die Taliban einen Verhaltenskodex für Journalisten - eine rote Linie für uns.«
Als Direktor von TOLOnews müssen Sie das Risiko abwägen, das Ihre Kollegen auf sich nehmen.
Wir ermutigen niemanden, sich in Gefahr zu begeben. Oft geht die Initiative, brisante Geschichten zu verfolgen, vielmehr von den Kollegen selbst aus.
Wie gehen Sie mit den Todesdrohungen gegen sich um?
Ich bin mir der Gefahr sehr bewusst, der ich mich da täglich aussetze. 2015 veröffentlichten die Taliban ein Video mit meinem Foto, in dem sie alle Mitarbeiter meines Senders zu legitimen, militärischen Zielen erklärten. Diese Einschätzung haben sie nie öffentlich revidiert. Viele Kollegen haben seitdem ihr Leben verloren. Anfang des Jahres veröffentlichten die Taliban dann einen Verhaltenskodex für Journalisten, aber solch eine Zensur ist eine rote Linie für uns. Trotz allem versuche ich, mir nicht jeden Tag den Kopf über meine persönliche Sicherheit zu zerbrechen.
Erst kürzlich haben Sie in Katar eine hochrangige Taliban-Delegation getroffen. Wie spricht man mit jemanden, der einen umbringen will?
Wir versuchen weiterhin, den Taliban begreiflich zu machen, dass Afghanistan heute wie auch in Zukunft freie Medien braucht. Das ist im Interesse aller Afghanen, inklusive der Taliban, die ja ebenfalls von der Pressefreiheit im Land profitieren. Uns erreichen auch Beschwerden seitens der Regierung, die finden, dass wir den Taliban zu viel Aufmerksamkeit widmen. Dabei sollten sich Medien doch nicht danach richten, welche Gruppe wieviel Berichterstattung verlangt. Wir sind einzig unseren journalistischen Standards verpflichtet.
Wie ermüdend ist es, permanent über Terroranschläge berichten zu müssen?
Wir sind es leid. Aber in gewisser Weise haben wir uns daran gewöhnt. Zumal uns eine solche Kriegsberichterstattung inzwischen leicht von der Hand geht: Die Kollegen sind routiniert darin, Material zu sammeln und innerhalb eines halben Tages eine runde Story zu produzieren. Bei positiven Geschichten betreten sie hingegen oft unbekanntes Terrain. Dann müssen sie viel Zeit investieren, um eine solche Geschichte zu erzählen, Interviews führen, recherchieren. Solche Berichte sind aufwändiger, aber wir brauchen viel mehr davon.
»Wenn in Europa eine Bombe hochgeht, ist das eine Schlagzeile wert. Hier ist das anders.«
Halten Sie aktiv Ausschau nach positiven Geschichten?
Dazu rufe ich meine Kollegen bei jedem Morgenmeeting auf. Einmal hat ein Journalist dann eine Reportage über einen Fall häuslicher Gewalt vorgeschlagen, der damit endete, dass die Nachbarn zu Hilfe kamen. Klar, das ist ein wichtiges Thema – aber so sieht doch keine positive Berichterstattung aus. Trotzdem fühlt es sich wie Fortschritt an, wenn wir einmal einen Tag nicht über Terrorismus berichten. Dabei tut sich gerade so viel in Afghanistan! Neue Cafés eröffnen, Geschäfte werden aufgemacht, junge Menschen übernehmen Verantwortung und sind auf dem besten Weg, zu Weltbürgern zu werden – zumindest solange ihnen ihre Zukunftschancen nicht genommen werden. Insbesondere unsere Frauen haben das Potenzial, Afghanistan grundlegend zu verändern, schließlich kämpfen sie seit Jahrzehnten gegen Hunger, Armut, soziale Ausgrenzung und Diskriminierung. Und unsere Erfahrungen zeigen, dass die Menschen solche Geschichten mögen, denn sie verzeichnen höhere Einschaltquoten und bekommen mehr Klicks.
In westlichen Medien läuft es meistens andersherum: Mord und Terror schaffen es auf die Titelseite, Erfolgsgeschichten finden im Innenteil ihren Platz.
Was außergewöhnlich ist, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Wenn in Europa eine Bombe hochgeht, ist das eine Schlagzeile wert. Hier ist das anders.
Neben der Sicherheitslage ist die grassierende Korruption im Land oft ein Thema Ihrer Berichterstattung. Transparency International listet Afghanistan auf Platz 172 von 180. Wie schlimm ist die Situation?
Die Behörden sind voller korrupter Beamter. Die Veruntreuung öffentlicher Gelder – insbesondere im Vorfeld von Wahlen, wie in diesem Herbst – beschäftigt mich nicht nur als Journalist, sondern vor allem als Bürger. Ich bin darüber nicht nur besorgt, ich schäme mich für das Ausmaß der Korruption in diesem Land. Das muss ein Ende haben.
Können Sie ein Beispiel für Korruption auf Regierungseben geben?
Wir arbeiten gerade an einer Geschichte über Finanzminister Mohammad Qayoumi. Er ist seit 2015 Berater von Präsident Aschraf Ghani. Im selben Zeitraum erhielt er vom US-amerikanischen »Institute for State Effectiveness« Zahlungen in Höhe von 250.00 US-Dollar. Dieser Thinktank wurde 2005 von Ghani in den USA gegründet und sitzt in Washington. Wir fragen uns: War es legal, solche Honorare anzunehmen? Wo nahm er die Zeit her, sich solch gut dotierten Aktivitäten zu widmen? Und gehören sich solche Engagements überhaupt für hochrangige Amtsträger?
»Die biometrischen Wahlboxen waren besonders anfällig für Wahlbetrug.«
Wird er seinen Hut nehmen müssen?
Die Rechenschaftspflicht gilt für jeden Afghanen. Ich bin ja auch dafür verantwortlich, was über meinen Sender läuft. Insofern erwarte ich, dass der Sache auf den Grund gegangen wird.
Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen am 28. September wurden noch immer nicht bekanntgegeben. Beobachter sehen auch hier Anzeichen für Betrug. Die niedrige Wahlbeteiligung scheint den Frust vieler Afghanen auszudrücken.
700.000 der 2,7 Millionen Stimmen wurden als ungültig gewertet, also fast 30 Prozent. Die biometrischen Wahlboxen waren besonders anfällig für Wahlbetrug. Ich habe das mal selbst getestet: Die Wahlkommission stellte mir eine dieser Maschinen für Testzwecke zur Verfügung. Ich konnte bis zu neun Mal abstimmen. Von 14 Millionen Wahlberechtigten gaben somit nur etwa zwei Millionen ihre Stimme ab. Das bedeutet, dass der künftige Präsident womöglich von gerade mal einer Million Menschen gewählt wurde. Allerdings setzt die afghanische Verfassung keine Mindestbeteiligung vor, deswegen lässt sich die Legitimität der Wahl aus rechtlicher Sicht zumindest in diesem Punkt schwer in Zweifel ziehen. Und die geringe Wahlbeteiligung ist auch auf die Gewaltandrohungen der Taliban zurückzuführen.
Und der mittlerweile stark holpernde Friedensprozess hat die Bedeutung der Wahlen ebenfalls fragwürdig erscheinen lassen.
Er hat zumindest Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung gehabt. Gespräche mit den Taliban nährten zwar die Hoffnung auf Frieden, parallel stieg aber die Angst vor Angriffen der Taliban auf die Wahllokale. Warum mussten die Wahlen gerade für diesen Zeitraum angesetzt werden? Bei den Wahlen in Afghanistan geht es am Ende aber auch nicht darum, einen freien und fairen Prozess zu gewährleisten. Sondern darum, ein Ergebnis zu produzieren, mit dem die politische Elite arbeiten kann.
Trotz allem haben viele Afghanen im Gespräch gesagt, dass sie stolz auf diese Wahl sind. Trotz aller Unzufriedenheit über den Prozess und seinen Ausgang.
Regierungen kommen und gehen. Politiker kommen und gehen. Aber der grundlegende Mechanismus muss bleiben. Genau das versuchen wir sowohl der internationalen Gemeinschaft als auch den Taliban zu vermitteln. Die Demokratie ist nicht das Nebenprodukt westlicher Militärpräsenz, sondern eine Errungenschaft der Afghanen.
Lotfullah Najafizada (31) ist Journalist und Direktor von TOLOnews, Afghanistans ältestem und erfolgreichstem Nachrichtensender. Seit 2015 steht Najafizada auf der Todesliste der Taliban, 2017 wurde er für seine Arbeit mit dem Kate Webb Preis der Nachrichtenagentur AFP ausgezeichnet. Trotz seines jungen Alters gilt er als einer der einflussreichsten Medienmacher des zentralasiatischen Landes.