Die Bundesanwaltschaft bringt erstmals die Verbrechen des Assad-Regimes vor Gericht. Warum ist das in Deutschland möglich?
Irgendetwas stimmt nicht mit der Gruppe von Menschen, die vor dem Gericht in Koblenz zusammenstehen. Locker haben sie sich auf der Grünfläche an der Karmeliterstraße zu einer Demonstration versammelt, doch ihre aufrechten Körper wirken leblos. Starr ragen ihre Arme in die Höhe, eine junge Frau ist im Rennen eingefroren. Beim Näherkommen fällt auf, dass die Hände der Demonstrantinnen fehlen, ihre Gesichter klaffen wie Megafone auseinander.
»The Muted Demonstration« heißt die Installation, die der syrische Künstler Khaled Barakeh an diesem Mittwoch im Juli vor dem Oberlandesgericht Koblenz aufgestellt hat. Die Demonstrierenden sind Schaufensterpuppen, sie tragen die Kleider von Aktivistinnen und Aktivisten aus Syrien. Stumm blicken sie auf die Fenster des Saales 128, in dem um halb zehn die beiden Angeklagten ihre Plätze einnehmen: Anwar R., ehemaliger Leiter der Ermittlungen in der Damaszener Geheimdienstabteilung 251, und Eyad A., ein niederrangigerer Beamter, der Demonstrierende im Auftrag der Abteilung 251 festgenommen haben soll (Namen von der Redaktion gekürzt).
»Diese Typen hatten alle Macht der Welt über die Gefangenen, doch jetzt sind sie selbst machtlos«, sagt Barakeh, der schon um sechs Uhr morgens mit dem Aufbau begonnen hat, in der Hoffnung, dass die Angeklagten auf dem Weg zum Gericht an den Figuren vorbeifahren. »Sie sollen sehen, dass sie immer noch hier sind. Der Prozess ist eine Fortsetzung dessen, was die Menschen 2011 auf Syriens Straßen begonnen haben.«
Die deutsche Justiz kann mithilfe des Weltrechtsprinzips völkerrechtswidrige Straftaten auch ohne direkten Bezug zu Deutschland vor Gericht bringen.
Barakeh hat seine Figuren vor dem Gericht aufgestellt, um all die zu repräsentieren, die nicht vor Ort sein können: weil die Fahrt nach Koblenz zu weit ist oder sie gar nicht in Deutschland leben; weil sie wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen in Syrien getötet wurden oder in einem der vielen unterirdischen Gefängnisse verschwunden sind. Eigentlich ist dieser Prozess für sie: Zum ersten Mal weltweit wird syrische Staatsfolter vor Gericht gestellt.
Den zwei Angeklagten, Anwar R. und Eyad A., werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Während ihrer Zeit beim syrischen Geheimdienst sollen sie in den Jahren 2011 und 2012 für 58 Tötungen, 4.000 Fälle von Folter und zwei Fälle von Vergewaltigung oder sexualisierter Gewalt mitverantwortlich gewesen sein.
Vor fast zehn Jahre wanderte die Protestbewegung, die »Arabischer Frühling« genannt wird, von Nordafrika nach Westasien und erreichte im März 2011 Syrien. Das Regime reagierte auf die Massendemonstrationen im ganzen Land mit oft tödlicher Gewalt – auf den Straßen sowie in den Gefängnissen, wo Zehntausende Syrerinnen und Syrer im Laufe der Jahre willkürlich eingesperrt und gefoltert wurden, wo viele starben oder für immer verschwanden.
Die Bundesanwaltschaft sieht in diesem Vorgehen einen ausgedehnten und systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung und somit die Voraussetzung für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Internationale Strafgerichtshof kann aber nicht tätig werden, weil Syrien kein Mitglied ist und Russland eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates blockiert.
Doch die deutsche Justiz kann mithilfe des Weltrechtsprinzips völkerrechtswidrige Straftaten auch ohne direkten Bezug zu Deutschland vor Gericht bringen. Während der Krieg in Syrien kein Ende findet, hat sie internationale Haftbefehle gegen hochrangige Regimeangehörige ausgesprochen, in Koblenz das weltweit erste Gerichtsverfahren eröffnet und bereits weitere Verdächtige festgenommen. Viele Exil-Syrer und -Syrerinnen, Opfer und ihre Angehörigen hoffen, dass die Täter des Assad-Regimes nun endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Andere fürchten, dass ein Prozess weit weg von Syrien und ohne Beteiligung der Bevölkerung keine echte Chance auf Gerechtigkeit bietet.
Im Laufe des Prozesses werden die Aussagen von ehemaligen Insassen oder Mitarbeitern ein immer klareres Bild der Abteilung zeichnen.
»Mit Kabeln auf den Rücken und in den Leistenbereich geschlagen«, »konnte anschließend nicht mehr laufen«, »mit Vergewaltigung gedroht«, »an zusammengebundenen Händen an der Decke aufgehängt«, das sind nur Ausschnitte dessen, was laut Anklageschrift in der Abteilung 251 des Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus passiert sein soll.
Während Khaled Barakehs Figuren draußen stumm anklagen, sagt drinnen an diesem Juli-Tag ein ehemaliger Häftling aus. Sein Name ist wie alle Informationen aus dem Gerichtssaal öffentlich, doch weil inzwischen mehrere Zeugen von Drohungen gegen ihre Familien im Ausland berichtet haben, soll er hier nicht noch einmal genannt werden. Der 30-Jährige aus Damaskus verbrachte im Sommer 2012 etwa vierzig Tage im Gefängnis der Abteilung 251, auch Al-Khatib-Abteilung genannt.
Er zittert, als er von den Zuständen in den brütend heißen, überfüllten Zellen berichtet. »Wir waren bis zu 800 Menschen auf etwa 50 Quadratmetern. Menschen lagen übereinander, zwischen ihnen Leichen«, erinnert sich der ehemalige Hotelbesitzer, der festgenommen wurde, nachdem er flüchtenden Familien aus Homs einen Schlafplatz angeboten hatte. Die Zelle im Al-Khatib-Gefängnis sei komplett verschlossen gewesen wie eine Flasche – ohne Luft, ohne Licht. »Es hat keinen dort interessiert, ob man schuldig war. Sie wollten einfach das ganze Volk vernichten«, so der Zeuge.
Im Laufe des Prozesses werden die Aussagen von ehemaligen Insassen oder Mitarbeitern ein immer klareres Bild der Abteilung zeichnen, die mitten in einem Wohngebiet im Zentrum von Damaskus liegt: Nach Blut und Schimmel habe es in den Zellen gerochen und die Schreie der Gefangenen habe man durch den Innenhof bis in die Caféteria des Personals gehört. Auf dem Zellenboden habe zentimeterhoch der Schweiß gestanden, viele Gefangene seien bis auf die Unterhose nackt gewesen.
Sein Lebenslauf, den er der deutschen Botschaft im Zuge des Aufnahmeprozesses übersandt hatte, begann mit den Worten: »Ich bin Oberst Anwar R.«
Essen habe es kaum gegeben, und das gelegentliche Stückchen Brot oder Kartoffel hätten die Gefangenen vor Durst nicht herunterbekommen. Regelmäßig seien sie unter Schlägen zu den Büros der Vernehmungsbeamten gebracht worden, vor denen sie mit verbundenen Augen und Händen knien mussten.
Behält die Anklage recht, so könnte einer dieser Beamten Anwar R. gewesen sein, der 2012 desertierte und sich der syrischen Exil-Opposition in Jordanien anschloss. Zwei Jahre später landeten er und seine Familie mit dem Flieger in Berlin-Tegel. Die deutsche Botschaft in Amman hatte ihnen im Rahmen des humanitären Aufnahmeprogramms Visa für die Einreise nach Deutschland ausgestellt – und das, obwohl der ehemalige Geheimdienstfunktionär nie einen Hehl aus seiner beruflichen Vergangenheit gemacht hatte. Sein Lebenslauf, den er der deutschen Botschaft im Zuge des Aufnahmeprozesses übersandt hatte, begann mit den Worten: »Ich bin Oberst Anwar R.«
Dass der Angeklagte, seine Frau und fünf Kinder Plätze im begrenzten Kontingent des Bundesaufnahmeprogramms erhielten, verdanken sie Riad Seif, einem der prominentesten syrischen Oppositionellen. Der heute 73-jährige Geschäftsmann war seit vielen Jahren ein enger Vertrauter der deutschen Auslandsvertretung in Syrien gewesen und hatte diese Kontakte genutzt, um R. für die Aufnahme zu empfehlen.
Auch Seif wusste, dass R. ein hochrangiger Mitarbeiter des Geheimdienstes gewesen war – er habe R. auf Anraten seines Schwiegersohns geholfen, weil er sich von dem desertierten Oberst Informationen erhofft habe, so Seif bei seiner Zeugenaussage Ende August. Er wusste auch, was so eine Position bedeuten musste: »Es gab keine Geheimdienstabteilung ohne Folter, und wer das Gegenteil behauptet, der lügt«, sagte Seif per Video-Call, da sein Gesundheitszustand die Anreise aus Berlin nicht zuließ.
Die Ermittlungen gegen ihn löste der Angeklagte selbst aus: weil er überzeugt war, vom syrichschen Geheimdienst verfolgt zu werden, wendete er sich 2015 hilfesuchend an die Berliner Polizei.
Dennoch zeigte er sich gegenüber den Richtern in Koblenz reumütig: »Hätte ich damals irgendetwas Negatives über ihn gewusst, hätte ich ihn nicht unterstützt.« Dann allerdings hätte der Prozess in Koblenz vielleicht niemals stattgefunden.
Die Ermittlungen gegen ihn löste der Angeklagte jedoch selbst aus: weil er überzeugt war, vom syrichschen Geheimdienst verfolgt zu werden, wendete er sich 2015 hilfesuchend an die Berliner Polizei, der er auch von seiner beruflichen Vergangenheit berichtete. Aufgrund dieser Angaben landete seine Akte schließlich beim Bundeskriminalamt und der Bundesanwaltschaft, die bereits seit 2011 in mehreren Strukturermittlungsverfahren Beweise für Völkerrechtsverbrechen in Syrien sammelt.
Auch die Akte des zweiten Angeklagten, Eyad A., wurde an das BKA weitergeleitet. Er hatte bei seiner Asylanhörung zu offen über seine Tätigkeit in Syrien gesprochen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist verpflichtet, dem BKA zu melden, wenn Asylanwärter von völkerrechtlichen Verbrechen in ihrer Heimat berichten.
Anwar R. und Eyad A. sind sicher nicht die wichtigsten Figuren des syrischen Sicherheitsapparats. Doch hochrangige Regime-Mitglieder wie der ehemalige Chef des Luftwaffengeheimdienstes Dschamil Hassan, gegen den mehrere internationale Haftbefehle vorliegen, konnten bislang nicht festgenommen werden.
Für den prominenten syrischen Menschenrechtsanwalt Anwar Al-Bunni ist der Prozess dennoch ein Meilenstein auf dem Weg in Richtung einer Übergangsjustiz. »Unser Ziel ist es nicht, zwei kleine Rädchen der Höllenmaschinerie zu verurteilen, die nach wie vor Menschen tötet«, erklärte der Anwalt im Vorfeld des Prozesses, in dem er inzwischen als Zeuge ausgesagt hat. »Wir wollen diese Rädchen vielmehr nutzen, um die Existenz der Maschinerie und das Ausmaß ihrer Höllenhaftigkeit zu nachzuweisen.«
»Verhaftung, Verschwindenlassen, Folter – darauf basiert das Regime der Assads«, sagt Al-Bunni vor Gericht in Koblenz.
Al-Bunni kennt diese Maschinerie in- und auswendig. Als in den 1970er Jahren drei seiner Geschwister und viele Freunde nach und nach verhaftet wurden, entschied sich der damals 21-Jährige, zurück an die Uni zu gehen, um Jura zu studieren.
»Sie waren alle politische Aktivisten – ich nicht, also entschied ich, Anwalt zu werden, um sie zu verteidigen«, erzählt der heute 61-Jährige, der sein Leben der Verteidigung politischer Gefangener in Syrien gewidmet hat.
Nach der Flucht aus Syrien 2014 gründete er in Berlin das Syrische Zentrum für juristische Studien und Forschung und bereitet seitdem Klagen gegen die Schergen des Assad-Regimes vor. Al-Bunni ist in Deutschland nicht als Anwalt zugelassen, doch er verfügt über ein riesiges Netzwerk innerhalb der syrischen Exil-Community, einige waren schon in Syrien seine Mandanten.
Am Tag von Al-Bunnis Zeugenaussage Anfang Juni ist der Zuschauerraum zum ersten Mal seit Prozessauftakt voll. Prominente Oppositionelle wie Mazen Darwish und Dschumana Seif sowie Vertreter von Adopt a Revolution, des Syria Justice and Accountability Centers und anderen Exil-Organisationen sind gekommen, um die Aussage des Mannes zu hören, der mehr als zwanzig Jahre lang politische Gefangene verteidigte, bis er 2006 selbst für fünf Jahre inhaftiert wurde. »Verhaftung, Verschwindenlassen, Folter – darauf basiert das Regime der Assads«, sagt Al-Bunni vor Gericht in Koblenz. »Wenn diese drei Pfeiler nicht wären, hätten sie sich nicht mal ein Jahr an der Macht halten können.«
Den Beginn der syrischen Revolte im März 2011 erlebte Al-Bunni im Adra-Gefängnis durch den Telefonhörer. Regelmäßig sprach er mit Freunden und Kollegen über die Ereignisse, schickte Statements aus der Zelle nach draußen. Er glaubt, dass Gerechtigkeit – oder vielmehr deren Abwesenheit – eine Wurzel der Revolution war. »Die Kontrolle des Regimes basierte darauf, Gerechtigkeit vorzuenthalten«, erklärt er einige Wochen nach seiner Zeugenaussage in seinem Büro in Prenzlauer Berg, wo es nach Holz und E-Zigarette riecht, und immer irgendein Aktivist oder eine Anwaltskollegin auf der Couch sitzen.
Für viele Opfer und ihre Angehörigen bedeutet der Prozess in Koblenz endlich Anerkennung und Aufarbeitung dessen, was sie durchlebt haben. Für andere trägt er einen bitteren Beigeschmack.
Der Präsident könne laut Verfassung rechtlich nicht belangt werden, und auch den Sicherheitskräften habe Assad Immunität gewährt. »Das Gefühl der Ungerechtigkeit war bei den Syrern so groß, weil das Regime ohne Sorge töten und verhaften konnte.« Der Prozess in Koblenz habe also die Grundfesten des Assad-Regimes erschüttert: »Ein Verbrecher aus Baschars System wird vor Gericht gestellt, ohne Immunität und ohne besonderen Schutz.«
Für viele Opfer und ihre Angehörigen bedeutet der Prozess in Koblenz endlich Anerkennung und Aufarbeitung dessen, was sie durchlebt haben. Für andere trägt er einen bitteren Beigeschmack. »Dass ein Fremder uns Gerechtigkeit bringt, fernab des Tatorts, der Opfer und ihrer Familien«, mache ihn traurig, so ein ehemaliger Gefangener in einer Reihe von Statements, die das MENA Prison Forum aufgezeichnet hat.
»Seit ich vom Prozess gegen Anwar R. weiß, habe ich wieder Hoffnung, dass die Verbrechen gegen das syrische Volk bestraft werden. Ich hätte mir aber gewünscht, dass das syrische Volk ihm den Prozess macht. Denn das hätte bedeutet, dass die Revolution triumphiert und ihre Ziele erreicht hätte«, gab ein anderer zu Protokoll.
In Koblenz sind bis Ende des Jahres fast jede Woche Verhandlungstage angesetzt – Prozessbeteiligte schätzen die Dauer des Verfahrens auf mehrere Jahre. Inzwischen ist eine gewisse Routine eingekehrt. Während die Angeklagten durch Kopfhörer den Dolmetschern lauschen, Anwar R. mit enger Schrift Din-A5-Blätter füllt und Eyad A. das Gesicht in die Hände stützt, sitzt stets ganz hinten im Zuschauerraum Luna Watfa.
Die 39-Jährige aus Damaskus lebt seit 2015 mit ihrer Familie in Koblenz und berichtet als einzige Journalistin regelmäßig für arabische Medien über das Verfahren. Es ist ihr ein persönliches Anliegen: Vor ihrer Flucht nach Deutschland hatte sie in Syrien über die Giftgasangriffe in Ost-Ghouta recherchiert und war dafür 2014 für mehr als ein Jahr inhaftiert worden. Einen Monat verbrachte sie in der Al-Khatib-Abteilung, wo sie körperlich und psychisch misshandelt wurde.
Der Prozess in Koblenz ist ein wichtiger Schritt für die Opfer und deren Angehörige – davon ist Watfa überzeugt. Dass er einen Einfluss auf die Lage in Syrien haben könnte, glaubt sie aber nicht. »Dieser Prozess hätte nach dem Sturz des Regimes stattfinden und der Beginn einer Übergangsjustiz sein sollen«, sagt sie bei einer Zigarette am Ende eines weiteren Prozesstages. Stattdessen gehe es nur um Einzelpersonen, während weiterhin Menschen in den Geheimdienstabteilungen gefoltert würden.
Dementsprechend gering sei das Interesse im arabischsprachigen Raum, auch unter Syrerinnen und Syrern. Das liegt nicht nur daran, dass der Prozess auf Deutsch ohne Übersetzung für die Öffentlichkeit stattfindet. »Es herrscht Verzweiflung, weil das Regime ja immer noch an der Macht ist«, sagt Watfa. »Aber eines Tages, wenn das Regime stürzt, werden dieser und weitere Prozesse die Systematik der Folter beweisen können.« Wann und wie es dazu kommen soll? Sie schüttelt ratlos den Kopf.
Hannah El-Hitami ist freie Journalistin in Berlin. Sie verfolgt den Prozess in Koblenz aus nächster Nähe.