Saudi-Arabien investiert viel Geld, um sich im Profifußball zu etablieren. Doch wie steht es jenseits neuer Stadionprojekte und Mega-Transfers um die Fußballkultur im Land?
Mit seinem gelb-schwarz gestreiften Trikot, das um die Taille etwas spannt, fällt Kamal auf. Tagsüber arbeitet der IT-Techniker nur wenige Gehminuten entfernt in Al-Balad, im Herzen der Altstadt von Dschidda. An diesem Spätnachmittag im Februar hat er sich die Zeit genommen, einen Einblick in seinen unbezahlten Zweitjob und seine wahre Leidenschaft zu geben: Al-Ittihad, seinen Fußballklub.
Für uns ist dieser Termin die erste Station auf einer Entdeckungsreise hinter die Schlagzeilen, die Saudi-Arabien in der Welt des Fußballs produziert. Von ebenso prestigeträchtigen wie teuren Transfers und dem Bestreben, die größten Turniere der Welt ins Land zu holen. In mancher Hinsicht also eine Fortsetzung der Themen, die auch die umstrittene Fußball-Weltmeisterschaft im Nachbarland Katar begleitet haben.
Wie dort wollen wir auch in Saudi-Arabien fragen: Wie sieht sie aus, die saudische Fußballkultur? Wie verändert das Vorzeigeprojekt Fußball die saudische Gesellschaft?
Eine erste Antwort finden wir auf nicht einmal zwanzig Quadratmetern: Einen offiziellen Namen trägt das Museum für Kamals Herzensverein nicht. Auch das Interieur könnte nicht weiter von der opulenten, aber sterilen Gestaltung staatlicher Museumsbauten entfernt sein. 2017 eröffnete ein Geschäftsmann und Ittihad-Fan das private Museum. Tatsächlich kümmert sich aber vor allem Kamal um die Besucher aus aller Welt, die seit der Klub-WM im Dezember immer zahlreicher werden.
»Wir waren die ersten«, sagt Kamal stolz und zeigt auf die verwitterten, akkurat gerahmten Schwarz-Weiß-Mannschaftsfotos an der Wand. Die ältesten Bilder stammen aus den 1950er-Jahren. Doch der erste Fußballklub des Landes wurde bereits 1927 gegründet, wenige Jahre nach der Eroberung des Hedschas und noch vor der Gründung des Königreichs Saudi-Arabien. »Dschidda war dem Rest immer einen Schritt voraus«, ist Kamal überzeugt.
Tatsächlich galt die zweitgrößte Stadt Saudi-Arabiens lange Zeit als liberaler und weltoffener als die Hauptstadt Riad. Nicht zuletzt, weil sie als »Tor zur Hadsch« einen einzigartigen multikulturellen Bevölkerungsmix hervorgebracht hat. Besonders eng war der Austausch mit den Menschen auf der anderen Seite des Roten Meeres. Ägypter, vor allem aber Sudanesen brachten den Fußball nach Dschidda und trugen so zur Entstehung einer Fankultur bei.
Die Herausbildung einer organisierten Fanszene – inklusive Auswärtsfahrten, Choreografien und Gesängen – war in Dschidda auch deshalb möglich, weil der saudische Staat im Kleinen viel mehr gesellschaftliche Freiheiten gewährte. »Inzwischen feiern die Kids in Riad härter, als wir es je getan haben«, sagt Kamal und spielt damit auf den gesellschaftlichen Wandel an, der durch eine Vielzahl von Freizeit- und Konsumangeboten unter Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) entstanden ist. Der Nachholbedarf sei in der konservativen Hauptstadt einfach größer gewesen, ob beim Feiern oder Anfeuern.
Die saudische Liga feiert 2024 ihr 50-jähriges Bestehen. Doch trotz vieler Zugeständnisse hat der saudische Staat den einstigen Freiraum Fußball auch eingeschränkt. »Früher konnten wir uns mehr erlauben«, ist Kamal überzeugt. Autokorsos oder unangemeldete Fanfeiern nach gewonnenen Derbys habe es früher häufiger gegeben. Dass die neuen gesellschaftlichen Freiheiten in Saudi-Arabien mit einer immer stärkeren Überwachung des öffentlichen Raums einhergehen, hört man in Saudi-Arabien oft, wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand.
»Dieser Raum ist unseren Legenden gewidmet«, sagt Kamal. Der Mittdreißiger ist seit frühester Kindheit Anhänger der schwarz-gelben »Tiger«. Schon sein Vater habe Al-Ittihad die Daumen gedrückt, andere in der Familie dagegen dem 1937 gegründeten Stadtrivalen Al-Ahli. Rivalität hin oder her: »Was uns verbindet, ist die Liebe zu unserer Heimatstadt – und die Geschichte des Fußballs in Dschidda.« Neben Pokalen, Medaillen, Fanschals und anderen Erinnerungsstücken hängen vor allem Mannschaftsfotos und Spielerposter aus den vergangenen Jahrzehnten an den Wänden. Zum Beispiel das Porträt von Kamals Lieblingsspieler Muhammad Nur. Der Stürmer schnürte ab Mitte der 1990er-Jahre über 20 Jahre lang in mehr als 500 Spielen die Schuhe für Al-Ittihad.
»Ich wünsche mir, dass Spieler wie er nicht in Vergessenheit geraten«, sagt Kamal und hat dabei vor allem die Jugend im Blick. »Wenn wir uns Spiele anschauen, hängen die jungen Leute oft am Handy, statt auf den Fernseher zu schauen.« Das Museum ist für Kamal und die Ittihad-Fans in der Altstadt auch eine Art Fankneipe. Dass Fußball heute so viel mehr Aufmerksamkeit bekommt und eine neue Generation prägt, sieht Kamal mit gemischten Gefühlen. »Viele sind eher Fans eines bestimmten Spielers, dem sie dann auch in den sozialen Medien folgen«, meint er. Dabei schwingt auch Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation des eigenen Klubs mit: Al-Ittihad gehört zu den vier Vereinen, die der saudische Staatsfonds PIF übernommen hat und die so mit viel Geld entsprechend spektakuläre Transfers landen konnten.
Mit Stürmer Karim Benzema wechselte im Sommer 2023 nicht nur der damals amtierende Weltfußballer, sondern auch einer der populärsten muslimischen Spieler nach Dschidda. Wenige Monate später machte der Franzose jedoch vor allem Schlagzeilen, weil er das Training schwänzte und seine Rückkehr nach Europa zu forcieren schien. Dass der 36-jährige Stürmer auf dem Platz weit hinter den Erwartungen zurückblieb, überrascht Kamal nicht: »Manche Stars werden vor allem wegen ihrer Werbewirkung geholt.« Weder Benzema noch sein Landsmann N’Golo Kanté oder der brasilianische Nationalspieler Fabinho sorgten dafür, dass der Verein mit dem höchsten Zuschauerschnitt der saudischen Liga in den Titelkampf eingreifen konnte. In der Vorsaison war Al-Ittihad noch Meister geworden.
Der von Kamal gemanagte Ort befindet sich in einer ebenso unscheinbaren wie guten Lage: Rund um das Al-Ittihad-Museum laufen die Bauarbeiten auf Hochtouren. Al-Balad soll als touristisches Zentrum wieder auferstehen. Die jahrhundertealten Wohnhäuser aus Korallengeröll, Lehmmörtel und verzierten Holzbalkonen sind schließlich UNESCO-Weltkulturerbe. Doch an die Stelle der über die Jahre verfallenen Stadtstruktur ist eine sterile Überrenovierung dessen getreten, was die Altstadt von Dschidda einst berühmt gemacht hat.
Die Händler haben neue Lizenzen für den modernisierten Basar erhalten, viele Bewohner sollen nach und nach in ihre Häuser zurückkehren, auch Kamals Familie. »Ich weiß noch nicht, wann wir wieder einziehen können«, sagt er, die Verfahren bei den saudischen Behörden zögen sich in die Länge. Inzwischen hat er ein Büro in der Altstadt gemietet, wo er auch aufgewachsen ist. Zusätzliche Kosten, sagt Kamal, die aufs Portemonnaie drücken. Obwohl er als IT-Techniker gut verdient, spürt er die steigenden Lebenshaltungs- und Immobilienkosten. »Ich war seit fast zwei Jahren nicht mehr im Stadion«, sagt er. »Die Karten sind auf Dauer einfach zu teuer.«
Tatsächlich sind Tickets meist erst wenige Tage vor dem Spieltag erhältlich, Dauerkarten bietet bislang nur Al-Nasr aus Riad an. Wer eines der Spiele der vier großen Vereine aus Riad und Dschidda im Stadion sehen will, zahlt dann oft deutlich mehr als die offiziellen Preise. Dennoch genießen die Stadtderbys einen guten Ruf, die Atmosphäre stimmt, die Spiele sind stets ausverkauft. In den übrigen Arenen der Liga, so bemängeln Kritiker und neuerdings auch einige der europäischen Legionäre, herrsche dagegen oft gähnende Leere vor einer Zuschauerkulisse im dreistelligen Bereich.
Bleiben gesellschaftlicher Wandel, Fußball- und Fankultur also auf Millionenstädte wie Dschidda und Riad beschränkt?
Antworten auf diese Fragen suchen wir an einem Ort, der gleichermaßen abgelegen, geschichtsträchtig und konfliktbeladen ist: Najran gehört gerade einmal zu den zwanzig größten Städten des Landes. Doch kaum eine andere Stadt in Saudi-Arabien wächst schneller als die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im äußersten Süden des Landes. Keine 50.000 Einwohner zählte Najran Mitte der 1970er Jahre, heute sind es 400.000. Die namensgebende Oase ist bis heute die Lebensader der Siedlung, entlang des saisonal gefüllten Wadis breitet sich die Stadt immer weiter aus.
Najran gehört zu jenen lange vernachlässigten Orten, die in den letzten Jahren zunehmend vom wachsenden Wohlstand profitieren. Doch die Abschaffung der Sittenpolizei, der Muttawa, macht sich in Najran vielleicht noch stärker bemerkbar als in anderen Landesteilen. Denn bis weit in die 2000er-Jahre hinein gerieten die lokalen ismailitischen Gemeinden immer wieder mit den staatlichen (Religions-)Behörden aneinander. Von solchen Konflikten ist heute nichts mehr zu spüren, auch wenn die ismailitische Präsenz nur noch indirekt auszumachen ist. So ist der allabendliche Gebetsruf über Lautsprecher in Najran, anders als in sunnitisch geprägten Städten, in vielen Wohnvierteln kaum zu hören – öffentliche Gebetszeiten sind für Ismailiten nicht verbindlich.
Ein gefährlicher Konflikt hat dagegen in den letzten Jahren das Grenzgebiet erfasst: Jenseits der markanten schwarzbraunen Berge am Stadtrand beginnt der Jemen. Rund fünfzig Kilometer entfernt liegt Saada, die Hochburg der Huthis. Die exponierte Lage rückte Najran immer wieder ins Visier der Miliz, die gerade wegen ihrer Fähigkeit, auch auf saudischem Territorium zuzuschlagen, den eigentlich überlegenen Kriegsgegner schließlich an den Verhandlungstisch zwang. Denn inzwischen haben sich die Prioritäten in Riad verschoben: Statt den Krieg im Jemen mit allen Mitteln zu gewinnen, will die Regierung vor allem Ruhe und Stabilität, um das Wirtschaftswachstum nicht zu gefährden.
Ein Balanceakt, schließlich ist die saudische Luftabwehr seit Monaten damit beschäftigt, Huthi-Raketen auf ihrem Weg zum Roten Meer abzufangen. Ankommende Flüge müssen deshalb einen Umweg über das Landesinnere nehmen, was die Reisezeit mitunter verdoppelt. Doch trotz der Flugabwehrbatterien außerhalb der Stadt ist der Konflikt im städtischen Leben kaum zu spüren – ebenso wenig wie der Gaza-Krieg. Najran baut, arbeitet, wächst – und kümmert sich vor allem um sich selbst.
Nicht nur der Wohlstand nährt dieses Selbstbewusstsein, sondern auch die lokale Identität. Wie in anderen Teilen des riesigen Landes hat der saudische Staat in der Toleranz der kulturellen (aber eben nicht politischen) Vielfalt des Landes eine Möglichkeit erkannt, noch mehr potenzielle Zentren für Tourismus und Industrie zu schaffen und gleichzeitig soziale Konflikte zu befrieden.
Als touristisches Ziel steckt Najran noch in den Kinderschuhen. Die Petroglyphen mit Tierdarstellungen sind in den Fundamenten der antiken Stadtmauer verbaut und leicht zu übersehen. Ohnehin erinnert der riesige archäologische Park eher an einen wilden Acker. Dennoch sind die Menschen in Najran stolz auf ihr historisches Erbe: Es ist neben den altsüdarabischen Felseninschriften vor allem verbunden dem Namen, den auch die archäologische Stätte trägt: Al-Okhdood.
Im Koran taucht der Begriff ein einziges Mal auf: Sure 85, Al-Burudsch (»Die Sternzeichen«) spricht von den »Leuten des Grabens« (Ashab al-Okhdood). Dabei handelt es sich vermutlich um Christen, die sich nach koranischer Überlieferung weigerten, ihrem Glauben abzuschwören und deshalb in den ausgehobenen Gräben den Feuertod fanden. Die Geschichte spielt vor der Ankunft des Islam – ob sich die Christen von Najran gegen einen jüdischen oder einen polytheistischen Herrscher auflehnten, bleibt unklar. Jedenfalls ist die koranische Parabel über Glaubensfeste heute um eine Lesart reicher: Denn für die Fans des hier ansässigen Erstligisten steht ihr Vereinsname für ihre Rolle als Underdogs auf der Fußballbühne.
Einen Titel hat Al-Okhdood Najran noch nie gewonnen. Der 1976 gegründete Verein ist im vergangenen Jahr erstmals in die höchste saudische Liga aufgestiegen. Der Klub wird von einem Geschäftsmann aus Najran geführt, die Investitionen reichen aber bei weitem nicht an die der großen Klubs aus Riad und Dschidda heran. Der Marktwert des Kaders liegt bei umgerechnet 15 Millionen Euro und damit in etwa auf dem Niveau des deutschen Zweitligisten Eintracht Braunschweig.
Auch bei Al-Okhdood nehmen ausländische Spieler einen wichtigen Platz im Kader ein. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Stars à la Neymar oder Cristiano Ronaldo. Zu den Leistungsträgern zählen mit dem Rumänen Florin Tănase oder dem Georgier Solomon Kvirkvelia eher unauffällige Fußballarbeiter, gleiches gilt für den slowakischen Trainer Martin Ševela. Im Sturm soll Leandre Tawamba für Tore sorgen. Der Routinier aus Kamerun spielte bereits in der slowakischen, kasachischen und libyschen Liga.
An einem Freitagabend Mitte Februar erweist sich diese Mischung als das richtige Rezept. Der Aufsteiger empfängt Al-Ahli aus Dschidda, den Erzrivalen von Al-Ittihad. Mit Roberto Firminho und Riyad Mahrez stehen bei den Gästen zwei Stars auf dem Rasen, die zuletzt in der Premier League und im Europapokal auf höchstem internationalem Niveau glänzten. Allein in der laufenden Saison hat der Verein mehr als 180 Millionen Euro in den Kader investiert. An der Seitenlinie steht mit Matthias Jaissle ein Trainertalent, das bereits mit Julian Nagelsmann verglichen wurde. Auf dem Platz ist der Klassenunterschied kaum zu erkennen – Al-Ahlis Topverdiener bleiben blass, am Ende gewinnen die Underdogs von Al-Okhdood mit 3:2.
Schon bevor die Tore für die Heimmannschaft fallen, ist die Stimmung auf den Rängen erstklassig. Knapp 40 Kilometer außerhalb der Stadt liegt das neu gebaute Rund, das der Verein 2020 bezogen hat. Offiziell fasst das Stadion 12.000 Zuschauer – mit bloßem Auge wirkt es aber deutlich kleiner. Laut Anzeigetafel verfolgen knapp 5.000 Zuschauer das Spiel. Beim Anpfiff bleiben nur wenige Plätze frei. Auf beiden Seiten der Haupttribüne konzentrieren sich die organisierten Fangruppen beider Vereine: Aus Dschidda hat sich ein beachtliches Auswärtskontingent auf den Weg in den Süden gemacht. Allerdings hat der Verein auch über die Hafenstadt hinaus eine große Anhängerzahl im Land.
Überraschender ist, dass auch die Gastgeber mit einem veritablen Ultra-Block von fast Tausend Fans aufwarten. Während des gesamten Spiels verbinden sie Elemente der Ultrakultur, wie das vom Vorsänger angestimmte Wechselspiel von Gesang und Gegengesang, mit rhythmischem Trommeln und Choreografien, die deutlich an die auf der arabischen Halbinsel verbreiteten Schreittänze erinnern. Nach etwa einer Stunde erstrahlt der Block in einer dichten roten Wolke: Politische Parolen, Abzeichen und Transparente – darauf achten die zahlreichen Ordner penibel – sind in saudischen Stadien verboten. Doch das Abbrennen von Pyrotechnik ist erlaubt und mittlerweile bei fast allen organisierten Fangruppen im Land verbreitet. Ein Widerspruch, der die Grenzen des Sag- und Machbaren im neuen Saudi-Arabien auf den Punkt bringt.
Seit Anfang des Jahres alle anderen potenziellen Mitbewerber abgesprungen sind, steht so gut wie fest: Saudi-Arabien wird die Fußball-Weltmeisterschaft 2034 ausrichten. Die Notwendigkeit, mit reichweitenstarken Stars für den Austragungsort zu werben, ist damit eigentlich erst einmal hinfällig. Bereits für die Asienmeisterschaft 2027 sollen viele Stadien modernisiert werden. Doch angesichts der Aufstockung der WM von 32 auf 48 Mannschaften werden wohl noch einige neue Spielstätten mit Kapazitäten von mindestens 40.000 Plätzen aus dem Boden gestampft. Dann rückt auch Najran als möglicher Spielort in den Fokus. Dabei reichen an einem Freitagabend bei Flutlicht und Rauch schon ein paar Tausend Fans für eine tolle Atmosphäre.