Anfang September verließ der langjährige Chef der libyschen Zentralbank fluchtartig das Land. Nahost-Experte Andrea Cellino erklärt im Interview, welche Rolle Sadiq Al-Kabir im Machtkampf zwischen Tripolis und Tobruk spielt – und wie sich die Ereignisse in Libyen auch auf Europa auswirken.
zenith: Was ist über Sadiq Al-Kabirs Flucht bislang bekannt?
Andrea Cellino: Sadiq Al-Kabir und die ihm gegenüber loyalen Angestellten wurden von Milizen bedroht, ein weiterer sogar bereits entführt. Er musste also um Leib und Leben fürchten und setzte sich deshalb mitsamt seiner Familie und einigen Getreuen in die Türkei ab.
Warum ist die Personalie Sadiq Al-Kabir so wichtig?
Sadiq Al-Kabir ist einer der am längsten amtierenden Beamten in Libyen. Seit 2011 steht er der libyschen Zentralbank vor – und ist damit die zentrale Figur in der libyschen Wirtschaft. Überspitzt gesagt besteht diese aus der landeseigenen Ölgesellschaft (NOC) und der Zentralbank.
Seine Karriere hat er also schon vor Gaddafis Sturz begonnen.
Auch General Khalifa Haftar hatte einst seine militärische Karriere unter Gaddafi begonnen, bis er schließlich in Ungnade fiel, emigrierte und wahrscheinlich sogar für die CIA zu arbeiten begann. Trotzdem ist die Personalie Sadiq Al-Kabir einzigartig: Über ihn ist wenig bekannt. Und doch herrschte Sadiq Al-Kabir mehr als zehn Jahre über Öl- und Gaseinkommen – fast 80 Prozent des Staatshaushaltes, mehr als 30 Milliarden Fass Öl an Reserven.
Wie genau funktioniert eigentlich das innerlibysche Rahmenabkommen, das den Geldfluss in Libyen zwischen den beiden Verwaltungen in Ost und West reguliert?
Es ist ziemlich komplex: Nach dem Sturz Gaddafis kristallisierten sich zwei Blöcke heraus: Benghazi im Osten, so etwas wie die Hochburg der Anti-Gaddafi-Bewegung und von Haftar angeführt, und die international anerkannte Regierung in Tripolis. 2015 wurde mit dem Skhirat-Abkommen unter der Führung der Vereinten Nationen die Struktur festgelegt, mit dem paradoxen Resultat, dass das Repräsentantenhaus im Osten die Entscheidungen der Regierung im Westen mittragen und absegnen muss. Eine Sackgasse, aus der Libyen bis heute nicht herausgefunden hat.
»Auch die Katastrophe von Derna hat die Lage weiter zugespitzt«
Wie ist denn das derzeitige Machtgefüge zwischen beiden Seiten austariert?
Natürlich hat die Regierung in Tobruk im Osten immer versucht, die Macht zu übernehmen. Sie erkennt zwar die Administration von Interim-Premierminister Abdul-Hamid Dbeibah nicht an, arbeitet jedoch mit ihm und seinen Verbündeten zusammen, wenn es von Nutzen ist.
Wie spielt die Zentralbank da rein?
Im Grunde genommen hat sich der Streit rund um Sadiq Al-Kabir angebahnt. Haftar hat in den letzten zwei Jahren riesige Mengen an Bargeld anschaffen können: Der General wird von ausländischen Unternehmen finanziert und genießt die Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emiraten, Russlands und Ägypten. Vor kurzem wurden zudem Anschuldigungen laut, dass Haftar den Russen dabei half, Benghazi mit Falschgeld aus russischer Produktion zu überschwemmen.
Inwiefern hängen diese Vorwürfe mit Al-Kabirs Flucht zusammen?
Letztlich führte das dazu, dass die Regierung unter Dbeibah im Westen selber mehr Geld wollte, und dies von Al-Kabir einverlangte. Bis dieser sich 2023 weigerte, den Haushalt der Regierung in Tripolis zu finanzieren. Damit begannen die internen Kämpfe zwischen der Regierung in Tripolis und der Zentralbank. Und auch die Katastrophe von Derna hat die Lage weiter zugespitzt.
Inwiefern?
Der Wiederaufbau der Stadt nach der Flut vor einem Jahr wurde von den libyschen Behörden – wie üblich – völlig falsch gehandhabt. Ursprünglich versuchte die internationale Gemeinschaft, beide Regierungen zur Zusammenarbeit anzuregen. Und natürlich hat der Wiederaufbauplan für Derna enorme Geldsummen eingebracht – viele davon mit unklarer Herkunft. Gleichzeitig ernannte die Regierung im Osten einen von Haftars Söhnen zum Leiter des Wiederaufbaukomitees.
»Sobald das Geld nicht fließt, kann sich das Blatt schnell wenden«
Eine weitere Schwächung der Regierung in Tripolis?
Zurzeit läuft für Dbeibah vieles schief: Nachdem die militärische Niederlage der Administration von Tripolis vor ein paar Jahren durch Unterstützung vor allem der Türkei abgewendet werden konnte, versucht der Präsident des Repräsentantenhauses im Osten, Aguila Salah, die Verwaltung im Westen mehr und mehr durch politisches Taktieren auszumanövrieren, vor allem bei der Besetzung und Bezahlung von Beamten in der Bürokratie. Langfristig kann das durchaus zu einem Sturz der Regierung oder zumindest des Premierministers führen. Die Tatsache, dass Dbeibah im Frühling Al-Kabir dann auch ersetzen wollte, offenbart seine Schwäche. Und abgesehen von ein paar angeheuerten Milizen ist Dbeibahs Machtbasis sehr dünn. Sobald das Geld nicht fließt, kann sich das Blatt schnell wenden.
Warum ist der Osten, der über den Großteil der Ölreserven verfügt, überhaupt noch auf die Regierung in Tripolis angewiesen?
Erstens erkennt die internationale Gemeinschaft die Administration in Tripolis weiterhin als einzig legitime Regierung an. Und zweitens ist man an Tripolis gebunden, weil dieser Mechanismus den Ölreichtum über die Nationale Ölgesellschaft und die Zentralbank kontrolliert und verteilt. Eine Institution mit solchen Kompetenzen hat der Osten nicht und ist ohne ausländische Anerkennung auch schwer zu bilden.
Aber Öl lässt sich auch schmuggeln?
Sicherlich. Das passiert auch. So wie es ausschaut übrigens auch nach Al-Kabirs Flucht. Das ist sicherlich eine gewichtige Einnahmequelle – Bloomberg zufolge bis zu 300.000 Barrel Öl allein aus dem Hafen Sidra. Genauso wichtig aber ist der Menschenhandel –ein bedeutendes politisches Verhandlungskapital für General Haftar.
»Haftar versteht es bestens, Europas Migrationsängste auszunutzen«
Sie meinen die Schlepperorganisationen, die mit Haftars Milizen verbandelt sind?
Wichtiger als die Einnahmenquellen durch Schlepper sind deren politischer Tauschwert: Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni traf sich mit Haftar und seinem Sohn und behandelte die beiden wie Staatsoberhäupter. Das war die Abmachung, die Haftar einforderte: Ihr gewährt mir Anerkennung und ich helfe, Menschenhandel und Migration zu unterbinden. Haftar versteht es bestens, Europas Migrationsängste auszunutzen.
Sehen Sie überhaupt noch eine Möglichkeit für Europa, sich konstruktiv einzubringen?
Sich für eine nachhaltige Lösung einzusetzen, verlangt nicht nur viel politischen Willen, sondern auch Konsens unter den europäischen Staaten. Beides ist zurzeit nicht gegeben. Italien, das wirklich an Lösungen interessiert sein sollte, fällt vor allem durch populistische Diplomatie auf. Die meisten anderen Länder schauen gerade eher auf Palästina und die Ukraine. Und für die meisten Experten steht fest: Beginnen müsste der Prozess mit demokratischen Wahlen, so schnell wie möglich.
Wie geht es nun weiter für Sadiq Al-Kabir und die Zentralbank?
Die UN-Mission für Libyen (UNSMIL) hat die Initiative ergriffen und versucht, alle Seiten wieder zusammenzubringen. Berichten zufolge sind zwischen Al-Kabir und dem Repräsentantenhaus im Osten bereits Gespräche geführt worden. Geändert hat sich bisher nichts. Brisant ist eigentlich vor allem eines: Es scheint, als habe Al-Kabir sämtliche SWIFT-Codes der Zentralbank bei seiner Flucht mitgehen lassen. Damit ist die Bank faktisch gesperrt, mehrere Geldhäuser haben auf Anraten des US-Finanzministeriums beschlossen, mit der libyschen Zentralbank nicht mehr zusammenzuarbeiten. Es sieht ganz danach aus, als könne in Libyen derzeit nicht ein einziges Gehalt im öffentlichen Dienst ausgezahlt werden.
Andrea Cellino