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Palästina-Proteste und Handelspolitik in der Türkei

Erdoğans Gaza-Dilemma

Feature
Palästina-Proteste und Handelspolitik in der Türkei
Protestierende der Bewegung »Filistin Için Bin Genç« in Istanbul Filistin Için Bin Genç

Mit dem Handelsstopp nach Israel wollte die türkische Regierung im Mai den Worten auch Taten folgen lassen. Neue Zahlen aber legen nahe, dass Ankara seine Exporte einfach umleitet oder gar verschleiert. Werden die Proteste gegen diesen Widerspruch zum Problem für Erdoğan?

Am 25. August sorgte eine Protestaktion der Bewegung »Filistin Için 1000 Genç« (»Tausend Junge für Palästina«) während einer vom öffentlich-rechtlichen Sender TRT World organisierten Podiumsdiskussion zu Palästina für Aufsehen. Die Protestierenden hielten ein Plakat mit dem Slogan »Erdoğan: Stop Feeding Oil to Zionists. End the Complicity in Genocide« in den Zuschauerraum und riefen die AKP-Regierung zum Stopp von Öllieferungen nach Israel auf. Im Nachgang der Aktion wurden mehrere Demonstranten festgenommen, darunter auch zwei palästinensisch-jordanische Studierende, die sich in Abschiebungshaft befanden. Mittlerweile wurden beide aus dem Deportationszentrum entlassen, doch ihnen droht noch immer die Gefahr einer Ausweisung.

 

Hossam Mohamed, einer der Aktivisten von »Filistin Için 1000 Genç«, erklärt auf Nachfrage von zenith: »Wir sind sehr enttäuscht von dem regierungsfinanzierten Diskurs in den Medien, der sich angeblich gegen den Genozid in Gaza richtet, während die türkische Regierung diesen weiterhin technisch durch den Treibstoff finanziert, der über die Türkei nach Israel gelangt.« Die jungen Protestierenden verstehen sich als Teil einer Embargo-Bewegung, die den Lieferstopp von Gütern und Öl nach Israel fordert.

 

Die türkische Regierung hatte im Mai 2024 die Einstellung aller Ein- und Ausfuhren von Produkten aus und nach Israel sowie über Drittländer angekündigt. Eine kürzlich erschienene Studie des Fachportals »Oil Change International« deckt nun aber auf, dass vom 21. Oktober 2023 bis zum 12. Juli 2024 insgesamt 65 Lieferungen von Rohöl und raffinierten Erdölerzeugnissen nach Israel geliefert wurden. Mehr als die Hälfte davon verließen ihren Heimathafen nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 26. Januar 2024, wonach die Palästinenser im Gazastreifen einklagbare Rechte gemäß der Völkermordkonvention haben.

 

»Dieses Thema Israel-Türkei reiht sich ein in eine Serie von Initiativen zur Wiederannäherung«

 

Aserbaidschan, enger wirtschaftlicher und politischer Partner Israels in der Region, bleibt einer der wichtigsten Öl-Lieferanten und stellt rund 28 Prozent der Rohölversorgung über die größtenteils der BP gehörenden Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline (BTC) sicher. Das aserbaidschanische Öl der staatlichen Ölgesellschaft SOCAR wird im Hafen Ceyhan im Südosten der Türkei auf Tanker verladen und dann nach Israel verschifft. Aus den Zahlen des türkischen Exporteurverbands geht hervor, dass die Exporte nach Israel weiterhin über griechische Häfen abgewickelt werden.

 

Nahe liegt auch, dass die Türkei den Handel über Palästina über das Westjordanland nutzt, um den Handelsverkehr mit Israel aufrechtzuerhalten. Die Zahlen weisen für den August eine Ausfuhrsteigerung nach Palästina um satte 1.156 Prozent auf. Der Verdacht liegt nahe, dass der bilaterale Handel mit Israel über die Einbeziehung einer dritten Partei aufrechterhalten, zumindest aber die Umgehung des Exportverbotes geduldet wird. Eine weitere Umgehung des Embargos bieten die Freihandelszonen. Israel kann seinen Handel mit der Türkei problemlos über die Freihandelszonen von Izmir und Mersin fortsetzen.

 

Wirtschaftsjournalist Ozan Demircan erklärt, dass diese Annäherung der Türkei nicht als etwas Außergewöhnliches zu verstehen sei. »Dieses Thema Israel-Türkei reiht sich ein in eine Serie von Initiativen zur Wiederannäherung an verschiedene Länder, darunter mit Syrien, Armenien und Griechenland«, analysiert Ozan Demircan. Dabei spiele auch die Umstellung im Kabinett eine Rolle. »Einen wichtigen Posten besetzt der neue Außenminister Hakan Fidan, der den Auftrag bekommen hat, die kriselnden Beziehungen zu den Ländern in der Umgebung der Türkei zu kitten und aufzubauen« erklärt der Wirtschaftsjournalist gegenüber zenith.

 

»Erdoğan versucht, Identitätspolitik zu betreiben und gleichzeitig Gaza für die eigenen ökonomischen Interessen zu nutzen«

 

Auch aufgrund geopolitischer Interessen ist die Türkei an Israels Stabilität interessiert. Seit Jahrzehnten verfolgt Ankara politische, wirtschaftliche und auch kulturelle Einflussnahme in der östlichen Mittelmeerregion – in den letzten zehn Jahren vor allem auch im Zusammenhang mit den zutage geförderten Erdgasvorkommen. Im Jahr 2000 wurde 35 Kilometer vor der Küste Gazas das Erdgasfeld »Gaza Marine« entdeckt »Erdoğan versucht, Identitätspolitik zu betreiben und gleichzeitig Gaza für die eigenen ökonomischen Interessen zu nutzen«, analysiert Politikwissenschaftler Hüseyin Çiçek von der Universität Wien.

 

Die Verhaftung und drohende Abschiebung von palästinensischen Studierenden und anhaltende und möglicherweise verdeckte Öl- und Güterlieferungen nach Israel stehen im Widerspruch zur Identitätspolitik der AKP, die sich im öffentlichen Diskurs gerne als Verteidiger des palästinensischen Volkes inszeniert. Erdoğan befindet sich nun mit seiner eigentlich pragmatischen Außenpolitik in einem Dilemma. Denn die Sympathie mit den Palästinensern ist in der Türkei stark ausgeprägt, und zwar quer durch alle politischen Lager.

 

Die möglichen Folgen dieses Widerspruchs bekam Erdoğan bei den Kommunalwahlen am 31. März 2024 zu spüren, als die AKP eine Niederlage erlitt und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei (YRP) im Vorfeld der Wahlen gegen die AKP und ihre Handlungsbeziehungen zu Israel Stimmung machte. »Viele Passanten auf den Straßen der Türkei sympathisieren mit den Protestierenden« sagt Hossam Mohamed. »Die Leute fragen sich oft: Handeln wir noch immer mit Israel? Die Mainstream-Medien berichten nicht darüber, was noch immer vor sich geht. Genau darauf wollen wir aufmerksam machen.«

Von: 
Simone Keller

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