Wie arabische Herrscher und Beherrschte auf den russischen Angriffskrieg reagieren und welche Lehren der Westen daraus ziehen sollte.
Dass die syrische Regierung die russische Lesart des Kriegs in der Ukraine eins zu eins übernimmt, verwundert niemanden. Schließlich ebnete Russlands Intervention im syrischen Bürgerkrieg den Weg dafür, dass die Regierung in Damaskus weite Teile des Landes wieder unter ihre Kontrolle bringen konnte. Eine ähnliche Haltung Russland gegenüber findet sich auch unter den religiösen Minderheiten, in deren Augen der Sieg über die islamistische Opposition die eigene Existenz im Land sicherte. Oppositionsgruppen im Land und der Großteil der Syrer im Exil schließen sich stattdessen der westlichen Position an.
Im Gegensatz zu solchen Haltungen, die logisch und leicht erklärbar scheinen, sind andere Sichtweisen auf den russischen Einmarsch in arabischen Gesellschaften und Herrschaftseliten schwieriger nachzuvollziehen. Mit Blick auf arabischsprachige Facebook-Seiten fällt zunächst auf, dass viele Nutzer den Ukraine-Krieg als einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Russland und dem Westen verstehen. Demzufolge hat Russland das Recht, seine Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen.
Dabei klingt häufig ein antiwestlicher, meist antiamerikanischer Unterton mit. Es wird vor allem darauf hingewiesen, dass auch westliche Staaten Kriege geführt haben und fest an der Seite Israel stünden, wodurch sie die Rechte der Palästinenser mitunterdrückten. Der Irak-Krieg 2003 wird dabei stets als Beispiel genannt, um Russland und den Westen, insbesondere die USA, in einen Topf zu werfen und beide Seiten moralisch gleichermaßen zu diskreditieren.
Russland findet in allen politischen Lagern Unterstützung
Auch im Westen ist diese Sichtweise unter Personen mit arabischer Herkunft prominent. Es ist zwar nicht so, dass im arabischen Diskurs keine anderen Meinungen zu finden sind. So benennen einige Nutzer den klaren Bruch des Völkerrechts seitens Russlands, das die Souveränität der Ukraine durch seine militärische Invasion missachtet. Diese Stimmen sind allerdings sehr leise.
Um die Haltungen arabischer Gesellschaften zum Krieg in der Ukraine passend zu beschreiben, ist »erbärmlich« das richtige Wort. Die zerstörerischen Auswirkungen eines Angriffskrieges dieser Dimension auf jegliche internationale Ordnung scheinen dem arabischen Betrachter noch nicht klar zu sein. Oder genauer gesagt, zieht dieser es vor, von einem Kampf der Systeme zu schwadronieren, statt überhaupt von einem Angriffskrieg zu sprechen. Von diesem Standpunkt aus ist es dann auch das legitime Interesse Russlands, die Ukraine in seiner Einflusssphäre zu behalten und zu kontrollieren.
Der Ukraine wird somit das Recht abgesprochen, selbstständig über ihre Innen- und Außenpolitik zu bestimmen. In dieser Haltung schwingt auch eine gewisse Begeisterung für Putin als starken Führer mit. Der russische Präsident ist in der arabischen Welt für viele ein Held, der die »imperialistische Wirtschaftsmacht« USA herausfordert. Diese Meinung ist nicht nur innerhalb der arabischen Linken zu finden, sondern in allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Strömungen verbreitet.
Entscheidend ist die Systemfrage
Es sind hauptsächlich zwei Aspekte des Putin-Regimes, die zusammen mit einer stark antiwestlichen Haltung beim arabischen Publikum für Begeisterung sorgen: die Personalisierung der Macht und eine starke Ablehnung des politischen und gesellschaftlichen Liberalismus. Die arabischen Gesellschaften solidarisieren sich primär mit einem Regime, welches ihrer eigenen Auffassung von Herrschaft entspricht und drücken daher mit ihrer Unterstützung für Russland vor allem auch ihre Ablehnung der Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates westlicher Prägung aus.
In diesem Punkt lässt sich eine Gemeinsamkeit zwischen Herrschern und Beherrschten feststellen, denn auch arabische Regierungen sind sehr zurückhaltend, was Kritik am russischen Angriffskrieg betrifft. Einige geben sogar dem Westen die Schuld, da dieser Russland zu diesem Krieg genötigt habe. Zwar haben die meisten arabischen Staaten durchaus wirtschaftliche Interessen und in vielen Fällen insbesondere in den Bereichen Waffenhandel und Waffentechnologie gute Beziehungen zu Moskau, doch reicht dies nicht, um ihre Haltung zu erklären. Die meisten von ihnen haben nämlich viel stärkere Wirtschaftsbeziehungen und gemeinsame Interessen mit westlichen Ländern. Die eigentliche Ursache liegt demnach in der Systemfrage.
Dies lässt sich auch mit Blick auf Syrien erkennen. Als sich nach dem Zerfall der Sowjetunion die übrig gebliebenen arabisch-sozialistischen Staaten von Moskau abwendeten und in Richtung Westen orientierten, strebte auch Damaskus zu Beginn der 2000er-Jahre ein Assoziierungsabkommen mit der EU an und unterhielt zudem sehr gute Wirtschaftsbeziehungen zu mehreren Mitgliedsstaaten. Die Assad-Regierung nahm ab 2011 die Hilfe Russlands in Anspruch, weil Russland – im Gegensatz zu westlichen Staaten – sie weiterhin als legitim betrachtet und eine Einmischung von außen, insbesondere in Form eines »Regime-Changes«, ablehnt. Es war also die Systemfrage, die Russland und Syrien wieder zueinander brachte.
Es ist Zeit, zu den eigenen Werten zu stehen
Für den Westen ist es Zeit zu verstehen, dass das Narrativ des unentschuldbaren russischen Angriffskriegs bei arabischen Regierungen und Gesellschaften auf taube Uhren stößt, denn die Mehrheit kann mit dem vom Westen propagierten friedensbasierten, politischen und gesellschaftlichen Liberalismus nichts anfangen. Das arabische antiwestliche Narrativ ist zu einer Ideologie geworden, die innerhalb aller Gesellschaftsschichten und politischen Richtungen populär ist.
Es ist eine westliche Illusion, dass ein liberaler Verfassungsstaat arabischer Prägung - oder zumindest ein gesellschaftliches Fundament dafür – entstehen könnte. Wenn man sich darüber im Klaren ist, versteht man auch die Beharrung der Golfstaaten, an den Vereinbarungen mit Russland in Bezug auf Erdöl- und Gasexporte festzuhalten, als aktiv antiwestliche Politik. Schließlich spielt der Energiesektor in dem Konflikt eine zentrale Rolle.
Wir befinden uns in einer Zeit des Wir-und-Ihr. Es ist Zeit, zu den eigenen politischen und gesellschaftlichen liberalen Werten zu stehen und deutlich diejenigen zu benennen, die diese Werte nicht teilen. Dass dies keine Methode der Konfliktdeeskalation ist, steht außer Frage. Dennoch ist die Selbstbehauptung der einzige Weg, um die Zukunft des friedlichen und liberalen Gedankenguts in Staat und Gesellschaft sicherzustellen. Der Liberalismus kann nicht auf Staaten und Gesellschaften warten, die von der Geschichte nicht gelernt haben und von der Gegenwart überrannt sind.
Dr. Naseef Naeem ist Staats- und Verfassungsrechtler, Fellow der Candid Foundation, Forschungsleiter von Zenith Council und Autor des Buches »Der Staat und seine Fundamente in den Arabischen Republiken«.