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Islamwissenschaft im Wandel

Fragt doch mal was Neues

Essay
Islamwissenschaft im Wandel

Die Auf- und Umwertung hat die Islamwissenschaft in eine kleine Sinnkrise gestürzt. Kann das Fach zu einem neuen Selbstverständnis finden?

Vor ein paar Jahren feierte die universitär organisierte Islamwissenschaft in Deutschland ihr hundertjähriges Jubiläum: Im Jahr 1908 hatte Carl Heinrich Becker den neugeschaffenen Lehrstuhl für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients am Hamburger Kolonialinstitut übernommen, das später zur Universität der Hansestadt wurde. Sinn und Zweck der damaligen Einrichtung war zumindest teilweise ein politisch-praktischer: Dort wurden Beamte des Reichkolonial- und des Reichmarineamtes, Konsularanwärter des Auswärtigen Amtes sowie Kaufleute auf den Einsatz in den Kolonien des Deutschen Reichs vorbereitet.

 

Ein Jahrhundert später ist die Islamwissenschaft in Deutschland in gewisser Weise wieder an ihren Ursprüngen angelangt: Stärker denn je ist das Fach heute gefragt, um praktisch anwendbare Kenntnisse zu erwerben. Nicht nur aus der Sicht vieler Studenten, sondern auch von Teilen der Öffentlichkeit sind Islamwissenschaftler keine Bewohner des akademischen Elfenbeinturms mehr, sondern vielseitig einsetzbare Spezialisten.

 

Sie arbeiten in den Sicherheitsbehörden, in Regierungsstellen, in nationalen und internationalen Organisationen, in den Institutionen der interkulturellen Vermittlung, Bildung und Integration, in den Medien. Dort sind sie als Sprachkundige und als Experten islamischer Kulturen und Lebenswelten gefragt. Mit etwa 40 vollen Professuren an 20 Standorten und mehr als 2.500 Hauptfachstudenten (inklusive der Arabistik) gehört die Islamwissenschaft immer noch zu den sogenannten Kleinen Fächern an den deutschen Universitäten.

 

Den einen ist die Islamwissenschaft an den Universitäten zu sehr postkolonial, den anderen zu wenig.

 

Dennoch passiert es wohl nicht mehr, dass man, wie noch Ende der 1990er-Jahre, Leuten erklären muss, um was für ein Studienfach es sich handelt. Damals gab es jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung auch noch keine so deutliche islamische Präsenz in Deutschland. Islamdebatten wurden zwar auch seinerzeit schon geführt, es ging um das Aushandeln grundsätzlicher Positionen, nicht um die Bewertung und Regulierung konkreter Verhaltensweisen von Bevölkerungsgruppen in Deutschland.

 

Die Einführung des Bachelor- und Mastersystems hat vielerorts zu einer Verlagerung der Studienschwerpunkte geführt. Spezialisierte Master-Studiengänge etwa zu Friedens- und Konfliktforschung oder »Security Studies« ermöglichten es denjenigen Studenten, die keine akademische Karriere anstreben, sich im Studium spezialisierte Kenntnisse anzueignen, die früher nur jenseits der Universitäten zu finden waren. Manche bedauern das, weil dadurch die Zahl der Masterstudenten in der Islamwissenschaft sinkt. Der Hamburger Islamwissenschaftler Thomas Eich hält es aber »nicht unbedingt für eine schlechte Entwicklung« – könnten doch bestimmte Arbeitgeber auf Absolventen zurückgreifen, die besser auf das Berufsfeld vorbereitet sind.

 

Müsste in den Seminaren nicht etwas anderes als früher erforscht und gelehrt werden angesichts der Tatsache, dass die Globalisierung auch Gruppen, Institutionen und Ideen in der islamischen Welt erfasst und zur Auflösung herkömmlicher Grenzen geführt hat – und damit auch der Idee einer fest umschlossenen islamischen Welt selbst? Müsste es nicht eine doppelte Neuorientierung geben angesichts einer immer stärkeren Präsenz des Islams in Deutschland und zugleich einer immer weniger einheitlichen Vorstellung von diesem Islam unter den Muslimen?

 

Ungeachtet dessen werden heute von zwei ganz unterschiedlichen Seiten Vorwürfe gegen die universitäre Islamwissenschaft vorgebracht: Den einen ist sie zu sehr postkolonial, den anderen zu wenig. An den Universitäten säßen lauter Edward-Said-Apologeten, behauptete in seinem Blog Transatlantic Annotations kürzlich etwa der Politikwissenschaftler Michael Kreutz. Er meint in der deutschen Islamwissenschaft »eine enorme Ideologisierung« zu erkennen, »die kritische Ansätze gegenüber dem Islam und seiner Geschichte mittlerweile kaum noch erlaubt«. Als Beleg dienen ihm zwei neuere Bücher der Fachvertreter Thomas Bauer und Frank Griffel, denen er eine übermäßige Verherrlichung der islamischen Zivilisation vorwirft.

 

Beschäftigt sich die Islamwissenschaft nun mit dem Islam oder mit dem Nahen Osten oder nur mit dem Islam im Nahen Osten oder mit beidem?

 

Den Gegenpol bilden Einwürfe wie in dem Nahost-Blog Alsharq (mittlerweile dis:orient), wo die Arabistin Leonie Nückell Ende 2018 der universitären Islamwissenschaft vorwarf, zu »kartoffelig« zu sein (also zu wenig Personal mit Migrationshintergrund zu haben), und im Einklang mit postkolonialer Theorie forderte, die Universität müsse »ihre eigenen Mechanismen von Zugang und Ausschluss weiter hinterfragen. Und ihre Art zu denken«.

 

Eine weitere Herausforderung kommt von den neugegründeten Instituten für Islamtheologie. Dort sollen Lehrer für den islamischen Religionsunterricht an Schulen sowie Imame ausgebildet werden. Die islamische Theologie, die aus einer Innenperspektive betrieben wird, ist etwas ganz anderes als die Islamwissenschaft mit ihrem Blick von außen. Eich glaubt dennoch, für Außenstehende liege die Verwechslungsgefahr der beiden Fächer »bei hundert Prozent«. Von den Studierenden hingegen werde der Unterschied sehr schnell verstanden.

 

Dennoch hat die Entscheidung zur Einrichtung der islamtheologischen Institute Wellen geschlagen, die auch die Islamwissenschaft erreicht haben. Der Bamberger Islamwissenschaft-Professor Patrick Franke forderte daraufhin eine klare Abgrenzung der beiden Fächer voneinander. Bemerkenswerterweise schlug er in einem Positionspapier von 2010 gerade nicht vor, die Islamwissenschaft stärker als Regionalwissenschaft auszurichten, die Geschichte, Kultur, Politik, Literatur und Religion des Nahen Ostens erforscht. Franke wollte eine »Besinnung« auf ihren »thematischen Kern« erreichen, der religionswissenschaftlich sei. Demzufolge legte er auch nahe, das Fach müsse sich von seinem regionalen Fokus auf den arabischen Nahen Osten lösen, und brachte langfristig eine institutionelle Anbindung an die Religionswissenschaft ins Spiel.

 

Danach sieht es derzeit nicht aus. Die deutsche Islamwissenschaft ist heute ein bunter Gemischtwarenladen, das Studienangebot weist über alle Universitäten hinweg eine breite Vielfalt auf, deren gemeinsamer Nenner vielleicht am ehesten ist, dass insgesamt kein gemeinsamer klarer und theoretisch fundierter Begriff das Fach beschreibt – ungeachtet aller klugen Gedanken, die sich viele einzelne Islamwissenschaftler zu diesem Thema machen. Nach wie vor dürften die Sprachen und Kulturen des Nahen und Mittleren Ostens seit der Entstehung des Islams der vorherrschende Fokus sein, also eine historisch-kulturwissenschaftliche Regionalwissenschaft auf Grundlage der Sprache und unter besonderer Berücksichtigung der Religion.

 

Die »Gefahr, dass das Fach immer mehr ausfranst«, die Patrick Franke 2010 konstatierte, scheint mithin auch fast zehn Jahre später nicht gebannt. Beschäftigt sich die Islamwissenschaft nun mit dem Islam oder mit dem Nahen Osten oder nur mit dem Islam im Nahen Osten oder mit beidem? Und wie steht sie zu dem Umstand, dass auch Begriffe wie Islam und Nahost immer stärker problematisiert werden, dass immer stärker grenzüberschreitende Phänomene und Wechselwirkungen beziehungsweise sich überlagernde Einflüsse untersucht werden? Positiv gewendet, könnte man sagen, dass das Studium der Islamwissenschaft in besonderem Maße ein Problembewusstsein für diese Phänomene schaffen könnte.


Christian Meier gehört zu den Gründern und Herausgebern von zenith. Seit 2016 ist er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) als Redakteur im Politik-Ressort.

Von: 
Christian Meier

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