Die Regime der arabischen Welt legen ihren Bürgern im Netz die Daumenschrauben an. Und doch verändern gerade die sozialen Medien die Region weit über den Arabischen Frühling hinaus.
»Das Internet lernt Arabisch« lautete die Überschrift meiner ersten »Netzgeflüster«-Kolumne, die ich vor zehn Jahren im Sommer 2009 für zenith schrieb. Eine Dekade später muss ich bilanzieren: Der Lernfortschritt ist bescheiden. Laut einer Studie des Netzmarktforschungsunternehmens W3Techs sind 2019 nur rund 0,6 Prozent der zehn Millionen erfolgreichsten Internetseiten arabischsprachig. Damit liegt das Arabische weltweit nur auf Platz 17. Selbst Tschechisch, das nur von etwas mehr als zehn Millionen Menschen gesprochen wird, ist im Internet verbreiteter als Arabisch mit mehr als 300 Millionen Muttersprachlern.
Die arabische Sprache hat also im World Wide Web noch immer Exotencharakter. Trotzdem ist das Internet in der arabischen Welt längst im Alltag angekommen. Mehr als 225 Millionen arabische Muttersprachler haben laut der W3Techs-Schätzung im April 2019 das Internet genutzt. Sie surfen nur keine arabischen Seiten an.
Das Internet ist in der arabischen Welt ein Ort der Meinungsfreiheit und des Dissens geworden – aber nicht das arabische Internet. Kritik an den repressiven Regimen und an Menschenrechtsverletzungen zwischen Marokko und Oman wird auf internationalen Plattformen wie Facebook, Twitter und Telegram geäußert – und meist auf Englisch oder Arabisch. Es sind Aktivisten und Journalisten, die eine englische oder französische Schulbildung genossen haben, die sich dort äußern. Und die oft nicht nur das heimische Publikum ansprechen, sondern auf Beachtung von Journalisten und Politiker weltweit hoffen.
Das arabische Internet hat sich dagegen in den vergangenen zehn Jahren deutlich weniger verändert als das Netz drumherum und als die arabische Offline-Welt selbst.
Das arabische Internet hat sich dagegen in den vergangenen zehn Jahren deutlich weniger verändert als das Netz drumherum und als die arabische Offline-Welt selbst. Im arabischen Netz dominieren nach wie vor die Nachrichtenportale der großen staatlich gelenkten Medien. Technische und inhaltliche Innovationen sucht man hier vergebens. Viele Seiten wirken so, als machten sie noch nicht einmal den Versuch, den Leser neugierig zu machen. Unabhängige, kritische arabische Onlineangebote wie Mada Masr in Ägypten oder Enab Baladi in Syrien sind noch immer eine Ausnahme und Randphänomene.
Eine noch wichtigere Funktion nehmen Facebook und Twitter ein. Während beide Portale in den USA und Europa ihren Zenit inzwischen überschritten haben und kaum noch neue Nutzer anziehen, sind sie in der arabischen Welt noch immer ein wichtiges Instrument für Information und Mobilisierung. Und genau deshalb haben sich die autokratischen Herrscher in der Region auf diese Plattformen eingeschossen.
In Ägypten fällt seit 2018 jeder Social-Media-Account mit mehr als 5.000 Followern per Gesetz unter die Aufsicht der obersten Medienbehörde. Das bedeutet, das allen Besitzern dieser Accounts Geldbußen und Haftstrafen drohen, wenn sie gegen politische, soziale oder religiöse Normen verstoßen. Ein Gummiparagraf, der staatlicher Willkür gegen unliebsame Kritiker Tür und Tor öffnet.
In Bahrain droht seit Juni 2019 schon Ärger mit der Justiz, wenn Bürger bestimmten Social-Media-Accounts auch nur folgen. Die Maßnahme zielt zum einen auf Accounts von schiitischen Oppositionellen, die ins Exil geflüchtet sind. Sie richtet sich zum anderen gegen Al-Jazeera und andere Medien des Nachbarlandes Katar, das seit der 2017 von Saudi-Arabien initiierten Boykottkampagne als Feindstaat der anderen Golfmonarchien gilt. »Das Vorgehen gegen Social-Media-Accounts, die gesellschaftliche Spaltung vorantreiben, ist eine nationale Pflicht und gehört zum Schutz der Sicherheit unserer Nation«, teilt das Innenministerium in Manama mit.
Die Regime sind den Demonstranten hoffnungslos unterlegen, wenn es darum geht, politische Botschaften über die sozialen Medien zu setzen.
Die arabischen Regime haben ihre Lehren aus dem Arabischen Frühling von 2011 gezogen. Damals trugen die sozialen Medien entscheidend dazu bei, Hunderttausende Menschen auf den Straßen von Kairo, Tunis und Sanaa zu mobilisieren. Aus Sicht von Saudi-Arabiens Kronprinz Muhammad Bin Salman und seiner Verbündeten Muhammad Bin Zayed in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Abdel-Fattah Al-Sisi in Ägypten war der Arabische Frühling ein historischer Fehler, der die Region ins Chaos gestürzt, die Muslimbrüder an die Macht gebracht und den Einfluss Irans in der arabischen Welt gestärkt hat. Damit sich dieses Szenario nicht wiederholt, regulieren die Autokraten die sozialen Medien massiv.
Und doch haben die Ereignisse in Algerien und im Sudan gezeigt, dass die sozialen Medien noch immer eine ungeheure Macht entfalten können. Und das ist unmittelbar eine Folge technischen Fortschritts: In Algerien waren zu Hochzeiten des Arabischen Frühlings soziale Medien noch längst nicht so weit verbreitet wie heute. Den Mobilfunkstandard 3G gibt es dort erst seit 2013. Facebook und Twitter kamen in ihrer Massenwirkung dort mit einigen Jahren Verspätung zur Geltung. Gleiches gilt für den Sudan, in dem bis vor einigen Jahren kaum mobiles Internet verfügbar war.
Nun mobilisieren in beiden Ländern Oppositionelle zu Massenprotesten, dokumentieren Menschenrechtsverletzungen der Regierungen, tragen den Protest in die Welt hinaus. Die Regime sind den Demonstranten hoffnungslos unterlegen, wenn es darum geht, politische Botschaften über die sozialen Medien zu setzen. Sie setzen auf stumpfe Repression, nicht auf die besseren Argumente. Im Zweifel schneiden sie wie im Sudan lieber das ganze Land tagelang vom Internet ab. Doch das hat 2011 dem damaligen ägyptischen Staatschef Husni Mubarak auch nicht geholfen.
Christoph Sydow gründete 2005 den Nahost-Blog Alsharq und ist seit 2012 Politik-Redakteur bei Spiegel Online. Seit 2009 zeichnet er gemeinsam mit Robert Chatterjee für die zenith-Rubrik »Netzgeflüster« verantwortlich.