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Marian Brehmer zu Sufismus in Afghanistan, der Türkei, Syrien und Iran

»Rumi ist noch immer Teil Afghanistans«

Interview
Sufismus in Afghanistan, der Türkei, Syrien und Iran
Rumi-Mosaik über den Marktständen auf einer Kreuzung in Masar-e Scharif Foto: Marian Brehmer

Für sein Buch »Der Schatz unter den Ruinen« hat sich Marian Brehmer vor den Taliban verstecken müssen und Sufi-Treffen in Iran besucht. Warum der Sufismus gerade in der Türkei wieder populär wird, erklärt er im Gespräch.

zenith: Sie haben die mutmaßliche Geburtsstätte von Jalal Al-Din Rumi (1207-1273) in Nord-Afghanistan besucht und sich auf die Spuren des Sufi-Mystikers begeben. Was haben Sie gefunden?

Marian Brehmer: Ich bin im Frühjahr 2019 in die Kleinstadt Balch in Nord-Afghanistan gereist. Zu der Zeit hatten die Taliban dort bereits viel Einfluss. Ich hatte afghanische Kluft an und versuchte, den dortigen Akzent möglichst gut nachzuahmen, um nicht aufzufallen. Von der hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung, die ich auf meiner ersten Reise nach Afghanistan 2012 erlebt hatte, war nichts mehr zu spüren.

 

Wie viel von dessen Vermächtnis ist in Rumis Geburtsort Balch noch übrig?

Ich hatte einen mystischen, erhebenden Ort erwartet. Das war aber überhaupt nicht so. Ich habe zum Freitagsgebet die Moschee besucht. Dort musste ich mir die Predigt von einem Mullah anhören, der sich in regelrechten Hasstiraden gegen die USA erging. In Balch habe ich einen starken Kontrast gefühlt: Rumi hatte versucht, den Menschen Toleranz, Weitsicht und auch mystische Liebe nahezubringen. In Balch spürt man das heute nicht mehr. Afghanistan ist ein Land, in dem über 40 Jahre Krieg herrschte. Vieles dieser alten Sufi-Kultur ist zerstört worden. Man muss wirklich graben, um Überbleibsel davon zu finden.

 

Haben Sie dennoch etwas entdecken können?

In Kabul habe ich einen Sufi-Meister kennengelernt. Er hat in der Stadtbibliothek jahrelang aus dem »Masnawi«, dem Hauptwerk von Rumi, unterrichtet und versucht, dessen Geist der Toleranz am Leben zu halten. Natürlich eine schwere Aufgabe in einer vom Krieg zerrütteten Gesellschaft. Die Afghanen hatten kaum Energie, um sich um ihr Seelenleben zu kümmern. Man lebte lange von der Hand im Mund und versuchte, nicht ins nächste Selbstmordattentat hineinzulaufen. Aber mit meinem Buch wollte ich zeigen: Afghanistan ist nicht nur Gewalt und Fundamentalismus. Rumi ist noch immer Teil dieses Landes.

 

Die Taliban haben im August 2021 Kabul erobert. Was bedeutet das für Afghanistans Sufis?

Die Taliban beanspruchen, den wahren Islam zu vertreten. Sie legen Koranverse buchstabengetreu aus und versuchen dann, diese Interpretation allen Afghanen mit Gewalt aufzuzwingen. Diese sehr naive Auslegung von Religion ist das Gegenteil des Sufismus. Denn der strebt an, über die Regeln hinauszugehen und die Bedeutung von religiösen Geboten oder Versen in sich selbst zu erfahren. Der Sufismus ist ein Weg, sich zu einem besseren Menschen zu entwickeln. Daraus entsteht ganz natürlich eine Toleranz gegenüber anderen Religionen. Die Sufis und die Taliban kommen deshalb kaum auf einen grünen Zweig. Sufis wurden zum Teil von den Taliban verfolgt oder mussten aus dem Land fliehen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Sufis, die mit den Taliban sympathisieren und aus manchen Sufi-Orden rekrutierten sich sogar Taliban-Kämpfer.

 

»Das ist vielleicht gar nicht so unähnlich der berüchtigten geheimen Party-Szene von Teheran«

 

Rumi ist aus Balch westwärts weitergezogen. Wie leben iranische Sufis heute?

Viele Iraner orientieren sich in ihrem Alltag an der Sufi-Dichtung. Sie haben einen privilegierten Zugang zum Sufismus, weil die meiste Sufi-Literatur auf Persisch verfasst wurde. Wenn man sich mit Iranern unterhält, holen sie gerne spontan Gedicht oder ein Zitat von Rumi hervor. Ich habe dort Menschen getroffen, die wie Gedichte auf zwei Beinen sind. Je mehr man sich mit der Poesie beschäftigt, desto mehr Dimensionen entdeckt man. Dieses Kulturerbe ist für viele Iraner eine sinngebende Stütze inmitten von politischen und wirtschaftlichen Problemen. Der Sufismus ist eine Quelle, aus der die Menschen Kraft schöpfen.

 

In Iran wird der organisierte Sufismus verfolgt. Wie wird die mystische Strömung des Islam trotzdem ausgelebt?

In Iran wurde der Islam auf eine bestimmte Ideologie reduziert und damit zum politischen Instrument. Alles, was sich dem nicht unterordnete, wurde an den Rand gedrängt. Die Iraner leben den Sufismus im Privaten aus. Eine Gruppe, die ich traf, praktizierte ihre Sufi-Rituale in einer Wohnung in Teheran: ein Zusammentreffen von jungen Menschen, abseits der Öffentlichkeit. Das ist vielleicht gar nicht so unähnlich der berüchtigten geheimen Party-Szene von Teheran. Aber in den peripheren Regionen Irans, wie zum Beispiel in Iranisch-Kurdistan, ist das anders. Dort treten Sufi-Orden recht selbstbewusst auf. Ich war zum Beispiel in einem kurdischen Bergdorf, in dem Derwische offen ihre Rituale pflegen.

 

Warum versuchen Regierungen immer wieder, den Sufismus zu unterdrücken?

Der Sufismus ist etwas sehr Persönliches. Sufis leben Religion in sich selbst aus, sie arbeiten an sich. Aber besonders, wenn Sufis sich organisieren, kann das zur Gefahr für die Herrschenden werden. Mit den Sufi-Orden entstanden historisch, etwa im Osmanischen Reich oder auch im Widerstand zu europäischen Kolonialregimen, parallele Räume, die sich mitunter nicht der Staatsideologie unterordnen. Der Sufismus wird in Iran und Afghanistan, aber auch in Syrien abgeschirmt von der Öffentlichkeit ausgelebt. 2009 habe ich in einer Moschee in Aleppo Zeit mit Sufis verbracht. Sie übten ihre Rituale aus, trafen sich, aber waren sehr vorsichtig. Heute hat der syrische Bürgerkrieg die Sufi-Kultur in Aleppo nahezu komplett zerstört. Aber auch in der Türkei, wo Rumi bis zu seinem Tod lebte, wurde der Sufismus schon einmal verboten.

 

»Atatürk sah den Sufismus als Hindernis auf dem Weg zur Modernisierung des Staates«

 

Aus welchem Grund?

1923 erließ Präsident Mustafa Kemal Atatürk ein Verbot. Die Sufi-Orden wurden geschlossen und Sufi-Rituale kriminalisiert. Der Sufismus wurde als Hindernis auf dem Weg zur Modernisierung des Staates gesehen. Verschiedene Sufi-Strömungen hatte in den Reihen der alten Staatselite des Osmanischen Reiches großen Einfluss gehabt. Atatürk wollte sich von diesem Vermächtnis trennen und die Türkei nach Europa orientieren. Während man den Sufismus in Afghanistan im Namen des Fundamentalismus bekämpft, wurde er in der Türkei im Zuge der Säkularisierung verboten. Das sind zwei völlig unterschiedliche Beweggründe, die aber zum gleichen Ergebnis geführt haben – der Marginalisierung des Sufismus.

 

Istanbul ist seit dem 15. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum des Sufismus. Was hatte das Verbot für Auswirkungen?

Mit diesem Schritt wurde die Verbindung zum kulturellen Erbe des Sufismus gekappt. Atatürk führte von einem Tag auf den anderen die lateinische Schrift ein und verbannte arabische und persische Lehnwörter aus dem Türkischen. Die meisten Bürger konnten bald keine Sufi-Texte mehr lesen und auch heutzutage ist der Zugang zur Sufi-Literatur für viele Türken nur schwer möglich. Allerdings übersetzen seit einigen Jahren vermehrt Verlage Sufi-Literatur und versuchen so, diesen Poesie-Schatz für die Allgemeinheit zugänglich zu machen.

 

Erlebt die Türkei ein Sufismus-Revival?

Viele junge Menschen in der Türkei sehnen sich nach einer anderen Form des Islam, weil sie sich nicht mit der etablierten, politisierten Form des Islam der AKP-Regierung identifizieren können. Junge Türken gehen den klassischen spirituellen Weg: Sie meditieren, machen Yoga und reisen nach Indien. Zurück in der Türkei erkennen sie dann, dass es diese mystische Tradition auch in der Türkei gibt. Von Yoga zu Rumi. Die Folge ist, dass Bücher über den Sufismus zu Bestsellern werden, Sufi-Gelehrte im Fernsehen auftreten oder auf Instagram viel Zulauf haben. Man muss nicht westliche Philosophen lesen oder in Indien meditieren, um tiefe Gedanken zu ergründen, sondern kann diese Tiefe auch in der eignen Kultur finden. Das gibt vielen jungen Türken auch ein neues kulturelles Selbstbewusstsein.


Marian Brehmer lebt in Istanbul. Sein Buch »Der Schatz unter den Ruinen« über Rumi und den Sufismus erschien Anfang 2022 beim Herder Verlag.

Von: 
Raphael Bossniak

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