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Alawiten, Milizen und der Staat im neuen Syrien

Die gefährliche Lage von Syriens Alawiten

Feature
Alawiten, Milizen und der Staat im neuen Syrien
Viele frühere Armeeangehörige aus der alawitischen Gemeinschaft erhielten in den vergangenen Monaten eine Aufforderung zur Wohnungsräumung.

Die Übergriffe gegen Alawiten in den Küstengebieten bedeuten die wohl wichtigste Belastungsprobe für die syrische Übergangsregierung.

Die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Syrien nimmt zu: Die »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« berichtet von mehreren Übergriffen in der Woche vor Beginn des Ramadan mit Toten und Verletzten, darunter in Latakia, Baniyas, Al-Ghab sowie im Umland von Hama. Sie richten sich in erster Linie gegen die Alawiten, die von vielen Menschen mit dem vor drei Monaten gestürzten Assad-Regime gleichgesetzt werden.

 

Zudem zogen sunnitische Demonstranten in Tartus über die größte Straße der Hafenstadt und drohten den Alawiten mit dem Tod. Sie wiederholten dieselben Slogans, die bereits vor Jahren auf ähnlichen Demonstrationen in Baniyas und Umgebung zu hören waren, bevor das Assad-Regime den Aufstand der Sunniten an der Küste niederschlug. Seitdem brodelt dieser Konflikt unter der Oberfläche und droht nun zu eskalieren.

 

In den vergangenen Monaten beschränkte sich die Reaktion der alawitischen Gemeinschaft meist darauf, solche Übergriffe im Netz zu dokumentieren. Je mehr sich die Aggressionen gegen die Alawiten aber häufen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Gemeinschaft auch mit militärischen Mitteln zur Wehr setzen wird.

 

Die von Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) und Ahmad Al-Shar’a geführte Regierung hat kein Interesse an einer solchen Eskalation. Das unkontrollierte Wüten einiger Milizen insbesondere in den Küstengebieten in Nordwestsyrien bereitet nicht nur einem sektaristischen Konflikt mit ungewissem Ausgang den Boden, sondern setzt die gerade entstehende neue politische Ordnung in vielfacher Hinsicht unter Druck.

 

Die Frage des religiösen Pluralismus verfolgt die internationale Gemeinschaft aufmerksam und knüpft die Gewährleistung von Minderheitenschutz an die Aufhebung von Sanktionen

 

Gerade die Frage des religiösen Pluralismus verfolgt die internationale Gemeinschaft aufmerksam und knüpft die Gewährleistung von Minderheitenschutz an die dringend benötigte Aufhebung oder zumindest Lockerung von Sanktionen. Die neue Regierung kann auch nur bedingt militärisch intervenieren, um Milizen in dieser Gegend Einhalt zu gebieten, da Israel zum Beispiel relativ unverblümt rote Linien in Bezug auf die Bewegungsfreiheit der syrischen Streitkräfte gezogen hat. Der zunehmende interne wirtschaftliche und sicherheitspolitische Druck könnte zu einem plötzlichen Zusammenbruch der fragilen politischen Struktur führen, die das Land zusammenhält. Die Folge wäre ein schwer kontrollierbares Chaos, das die ethnischen und konfessionellen Trennlinien weiter vertiefen würde.

 

Umso unverständlicher mutet das Verhalten der Sicherheitsdienste vor Ort an, die oft unangemessen reagieren und viele Menschen an die Geheimdienstmethoden unter Baschar Al-Assad erinnern. Eben dieses Gebaren hatte viele Syrer ja gegen das Regime aufgebracht. Diese Behörden, die die neue politische Ordnung eigentlich schützen, so walten zu lassen, erscheint wie politischer Selbstmord.

 

Trotz des Ballasts, der mit der Übernahme weiter Teile des Geheimdienstpersonals einhergeht und trotz der sehr unterschiedlichen Ideologien und Haltungen gegenüber den Alawiten unter den Milizen, fällt es schwer, eine logische Erklärung für die in der Hauptstadt getroffenen Entscheidungen zu finden: Dazu gehören etwa die Beschlagnahmung Hunderter Privathäuser und Armeesiedlungen ohne Vorwarnung. Diese Vertreibungswelle in den alawitischen Küstengebieten sowie im Umland Homs, Hama und Damaskus löst eine Reihe von Emotionen unter den Betroffenen hervor: Neben Verlustängsten wächst unter ihnen auch die Wut.

 

Abu Haidar ist einer dieser Militärangehörigen, die ihre Unterkünfte räumen müssen. Er gehört zu den letzten verbliebenen Einwohnern des Wohnkomplexes in Qudsaya im Umland von Damaskus. In diesem Ort im Rif Dimashq waren neben regulären Armeeeinheiten auch Angehörige der Republikanischen Garde untergebracht. »Meine Familie und ich sind nun obdachlos, ich bekomme auch kein Gehalt mehr, von dem ich leben kann«, erzählt er. »Man drängt uns geradezu, den Tagen des Assad-Regimes nachzutrauern.«

 

Frühere Angehörige der syrischen Armee sind Opfer nicht durchdachter Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen

 

Auf die Frage, wohin er mit seiner Familie und seinen Habseligkeiten ziehen würde, antwortet er: »In mein Dorf auf dem Land in Hama, wo ich nichts besitze. Ich werde dort bei meinen Verwandten leben und vielleicht hilft mir jemand, einen Weg zu finden, meine Kinder zu ernähren.« Die Rückkehr ins Heimatdorf kann für frühere Soldaten wie Abu Haidar den Beginn einer neuen Odyssee bedeuten. Denn auch dort sind sie künftig womöglich von weiteren Vertreibungen bedroht. In Dörfern in der Region Hama, im Osten von Homs sowie entlang der Straße nach Palmyra ist das bereits geschehen.

 

Frühere Angehörige der syrischen Armee sind Opfer nicht durchdachter Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen. Formal sind die Unterkünfte in staatlichem Besitz und werden den Soldaten und Offizieren für die Dauer ihres Dienstes zum Wohnen überlassen. Nachdem die Übergangsregierung die Armee offiziell demobilisiert hat, ist sie also rein rechtlich befugt, die Mietverhältnisse ebenso aufzukündigen. Und die früheren Soldaten sind formal verpflichtet, ihre Wohnungen an neue Rekruten abzutreten, die nun meist der neuen Führung gegenüber loyal sind. Doch eine solche Entscheidung vergrößert die Kluft zwischen denjenigen, die sich nun als Besiegte beziehungsweise als Sieger fühlen. An die früheren Unterkünfte der Republikanischen Garde grenzt ein Vorort, in dem größtenteils Alawiten leben. Ihnen ist die Angst davor anzusehen, dass ihnen Ähnliches widerfährt wie ihren Glaubensbrüdern an der Küste in den vergangenen Wochen.

 

Wir haben es also mit zwei Phänomenen zu tun, die zu fast demselben Ergebnis führen: Zum einen werden auf zentraler Regierungsebene unüberlegte und manchmal ungerechtfertigte Entscheidungen gefällt. Die machen sich in Damaskus selbst weniger bemerkbar, weil die neue Führung in der Hauptstadt direkter Kontrolle ausübt. In anderen Regionen des Landes ist das nicht der Fall. Die Kombination aus fehlendem Zugriff der staatlichen Sicherheitsorgane und dem unkontrollierten Wüten lokaler Milizen lässt hier die Spannungen viel leichter eskalieren und in sektaristische Konflikte ausarten.

 

Sicherheits- wie wirtschaftspolitische Entwicklungen werden das künftige Verhältnis zwischen neuer Führung und alawitischer Gemeinschaft prägen. Gewinnt die sektaristische Konfrontation an der Küste an Fahrt, droht die Instabilität auch auf andere Landesteile überzuspringen. Zugleich sind immer mehr Alawiten überzeugt, dass sie als Angehörige einer Minderheit von der herrschenden Mehrheit ins Visier genommen werden. Das Argument, dass das Ungleichgewicht wettzumachen ist, das die Personal- und Privilegienpolitik des Assad-Regimes verursacht hat, sehen sie als Vorwand. Sie haben das Gefühl, dass Entscheidungen zu Entlassungen aus dem Staatsdienst sowie zur Aufkündigung von Mietverhältnissen letztlich darauf abzielen, sie ihrer Lebensgrundlage zu berauben, öffentlich zu demütigen und vom politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben auszuschließen.

 

Einige Alawiten verweisen auch auf die Unterschiede zur Provinz Suweida im Südwesten Syriens. Dort habe es die HTS nicht gewagt, in die gleichnamige Stadt einzudringen

 

Viele Alawiten haben zunehmend das Gefühl, dass ihre bisherige Passivität gegenüber dem Gebaren der Milizen und den willkürlichen Tötungen in ihren Siedlungsgebieten in den vergangenen Monaten darauf zurückzuführen ist, dass sie bereits während der Offensive, die zum Sturz des Assad-Regimes im Dezember geführt hatte, größtenteils sämtliche Waffen niedergelegten oder abgaben. Einige Alawiten verweisen auch auf die Unterschiede zur Provinz Suweida im Südwesten Syriens. Dort habe es die HTS nicht gewagt, in die gleichnamige Stadt einzudringen – weil die Drusen eben ihre Waffen behalten hätten. Tatsächlich hatte auch das Assad-Regime dieses Arrangement in Suweida-Stadt mehr oder weniger akzeptieren müssen. Insbesondere die innerdrusische Solidarität und interkommunale Kooperation hat die Resilienz gegenüber äußeren Bedrohungen gestärkt.

 

»Wenn die Alawiten aus den Nachbardörfern ihre Brüder in unserem Ort unterstützt hätten, wäre die HTS an der syrischen Küste nicht präsent«, glaubt Salem M. Er stammt aus Khirbet Al-Ma'zah südlich von Tartus. Dort hatten lokale Milizen im Dezember zunächst noch Widerstand geleistet. »Doch dann ging uns die Munition aus und wir mussten fliehen.« Er ist zudem überzeugt, dass die Gemeinschaft zu naiv war. »Wir haben auf die guten Absichten der einrückenden HTS-Kämpfer gesetzt und dann den Preis dafür gezahlt.«

 

Während die wirtschaftliche Not das gesamte Land vor Herausforderungen stellt, gestaltet sich die Lage in den alawitischen Küstengebiet besonders prekär. Aus historischen und politischen Gründen verließen sich viele Alawiten jahrzehntelang auf ein bescheidenes monatliches Gehalt als Existenzgrundlage. Dass Staatsbedienstete sich auch bereicherten, ist gerade Ergebnis der vergleichsweise kargen staatlichen Entlohnung: Korruption war ein notwendiger Bestandteil für viele Beamte, um gut über die Runden zu kommen.

 

Dieser Kreislauf alltäglicher Lohnaufstockung fällt nun unter dem Deckmantel der Korruptionsbekämpfung weg – und die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst ohnehin. All dies hat dazu geführt, dass sämtliche Einkünfte, die früher vom Staat kamen, vollständig weggebrochen sind. Viele der nun Binnenvertriebenen sehen sich deshalb gezwungen, auf Ersparnisse und Kredite zurückzugreifen – und auch diese Alternative ist nicht mehr lange gangbar. Das wahre Ausmaß ist noch nicht erkennbar, weil viele der Betroffenen den Absturz in die Armut auch als persönliche Demütigung empfinden und sich deshalb scheuen, ihre Notlage öffentlich zu machen. Dazu fehlen ihnen oftmals auch externe Ressourcen für Transferleistungen, auf die etwa die Sunniten zurückgreifen können. An vergleichbare Auslandsnetzwerke sind die Alawiten nicht angebunden.

 

Die fehlende Liquidität bedeutet einen fast vollständigen Stillstand des lokalen Wirtschaftskreislaufs – leerstehende Geschäfte und Restaurants sind in den Küstengemeinden inzwischen ein vertrauter Anblick

 

Dazu kommen ökonomische Missstände, die das ganze Land betreffen, sich aber angesichts der vielen anderen Faktoren in den alawitischen Küstengebieten besonders bemerkbar machen. Der Abbau der Zollschranken zu Jahresbeginn hat den Markt mit Importen geflutet und einheimischen Produzenten und Verkäufern die Gewinnmargen genommen. Trotz des gesunkenen Dollar-Kurses steigen die Lebenshaltungskosten, ebenso die Preise für Medikamente und Nahrungsmittel. Die fehlende Liquidität bedeutet einen fast vollständigen Stillstand des lokalen Wirtschaftskreislaufs – leerstehende Geschäfte und Restaurants sind in den Küstengemeinden inzwischen ein vertrauter Anblick.

 

All diese Faktoren könnten bald zu Massendemonstrationen führen und sich zu Gewaltakten ausweiten, die je nach dem Ausmaß der Gegengewalt noch an Heftigkeit zunehmen könnten. Wirklich überraschend ist, wie wenig auf politischer Ebene bislang unternommen wurde, um diese Abwärtsspirale aufzuhalten. Dabei muss die Frage gestellt werden, ob Entscheidungen in Damaskus aus einem Bedürfnis nach Vergeltung gegen jene Gemeinden getroffen werden, die als Hochburg des Ancien Régime wahrgenommen werden. Oder ob der neuen Führung um Ahmad Al-Shar’a tatsächlich die Hände gebunden sind und ihr tatsächlicher Einflussbereich auf die Hauptstadt beschränkt bleibt.

 

Angesichts des Mangels an Informationen über die Entscheidungsmechanismen des derzeitigen Regierungssystems lässt sich über die Machtfülle und Beweggründe der neuen Führung aber nur spekulieren. Klar ist, dass Ahmad Al-Shar’a einen starken Staat aufbauen möchte, dessen Oberhaupt und Verwalter er sein wird. Seine wirklich größte Herausforderung besteht darin, die Logik der Milizherrschaft, in der er so brillierte, abzulegen und in eine Logik staatspolitischer Verantwortung umzuwandeln.

 

Dafür bräuchte er Zeit und die wird ihm kaum eingeräumt. Tatsächlich liegt Ahmad Al-Shar’a in zentralen strategischen Zielen der staatlichen Konsolidierung mit jenen Kräften über Kreuz, die seinen Sieg im Bürgerkrieg überhaupt erst ermöglicht haben. Die Führer der mit ihm verbündeten bewaffneten Gruppen sind sich nur zu bewusst, dass ein solches Staatsprojekt ihre Führungsrolle überflüssig macht, nachdem ihre Kämpfer in einer nationalen Armee aufgegangen sind.

 

Die meisten dieser Milizenführer kennen Ahmad Al-Shar’a seit vielen Jahren und wissen, wie geschickt er es verstand, Freund wie Feind zu manipulieren

 

Die meisten dieser Milizenführer kennen Ahmad Al-Shar’a seit vielen Jahren und wissen, wie geschickt er es verstand, Freund wie Feind zu manipulieren, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Sein Dilemma lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Ahmad Al-Shar’a will, dass seine Verbündeten ihn als Staatsoberhaupt behandeln und ihre Ressourcen, Kämpfer und Ausrüstung in den Dienst dieses Staates stellen. Doch diese Gruppen sind weiterhin entschlossen, ihn als Abu Muhammad Al-Jolani, den Sachwalter des gemeinsamen dschihadistischen Projekts, zu behandeln.

 

Konzeptuell steht Ahmad Al-Shar’a zudem vor dem Problem, den Mechanismus von Staatlichkeit zu verstehen. Der Staat kann nicht einfach dadurch entstehen, dass man erklärt, ihn errichten zu wollen. Er ist ein Projekt, das auf Menschenrechten, Rechts- und Dienstleistungen basiert, die durch eine Verfassung geschützt sind. Jeder Fehler in diesen Grundlagen untergräbt seine Logik und bedroht in naher Zukunft die Existenz dieses fragilen Gebildes. Eben darin bestand ein entscheidender Fehler des Assad-Regimes, das das Konzept des Staates seines Inhalts entleerte – und damit letztlich dem eigenen Sturz den Boden bereitete.

 

Es ist noch nicht zu spät, ein anderes Verhältnis zwischen Regierung und konfessionellen und ethnischen Minderheiten in Syrien, insbesondere mit den Alawiten, zu schaffen. Ein Verhältnis, das auf staatspolitischer Verantwortung und nicht auf Vergeltung beruht und darauf abzielt, die alawitische Gemeinschaft wieder in das politische und militärische Leben zu integrieren, anstatt sie davon auszuschließen.

 

Es bedarf mutiger Schritte seitens Machthaber Ahmad Al-Shar’a. Am wichtigsten ist dabei die Auswahl zuverlässiger Beamter, die diese richtungsweisenden Entscheidungen in die Praxis umsetzen. Es gilt, das rapide schwindende Vertrauen zwischen Herrscher und Volk wiederherzustellen und zu festigen. Erst wenn der Staat dieses Maß an Gleichbehandlung für alle seine Bürger gewährleistet, wird er in der Lage sein, dem zunehmenden Druck von innen wie außen standzuhalten.


Issam Abdulrahim lebt in Damaskus und ist Verleger, politischer Analyst und berät internationale humanitäre Organisationen in Syrien.

Von: 
Issam Abdulrahim

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