75 Jahre diplomatische Beziehungen, aber keine echte Freundschaft. Der frühere Top-Geheimdienstler Bruce Riedel erklärt im Interview, welche Folgen der Fall Khashoggi für Jared Kushners Nahost-Pläne zeitigt und warum ein Anruf alles ändern kann.
zenith: Der Mord von Jamal Khashoggi sorgte weltweit für Schlagzeilen. Welche langfristigen Auswirkungen hat der Fall für die saudische Heimat des Journalisten?
Bruce Riedel: Er wirft erneut die Frage nach der Reformfähigkeit Saudi-Arabiens auf. Wird sich das Königreich mit seiner absoluten Monarchie und seiner Unterstützung für arabische Diktatoren jemals weiterentwickeln?
Saudische Herrscher galten nie als besonders kritikfähig. Wer widersprach, hatte es stets schwer – ob im Königreich, oder außerhalb. Dennoch hat der Mord von Jamal Khashoggi eine neue, bestialische Qualität.
Saudi-Arabien ist und war nie eine Demokratie und hat das auch nie angestrebt. Das Land blickt auf eine lange Tradition an Menschenrechtsverletzungen zurück. Aber die Regierung war noch nie so repressiv wie in den vergangenen Jahren. Muhammad Bin Salman (MBS) hat mit seinen zahllosen Razzien nicht nur Dissidenten, sondern fast jeden im Königreich eingeschüchtert, der auf irgendeine Weise eine Alternative zu seiner Führung darstellen könnte. Verhaftet wurden auch prominente Saudis, etwa ein Sohn von König Abdullah, Prinz Mutaib bin Abdullah, der ehemalige Kommandeur der Nationalgarde.
Handelt der Kronprinz kaltblütig, verfolgt er also strategische Ziele mit diesem Vorgehen, oder ist er emotional und impulsiv?
MBS hat eine in der saudischen Geschichte beispiellose Schreckensherrschaft etabliert und sich dabei viele Feinde gemacht. Die Menschen sind natürlich eingeschüchtert, aber so zwingt er seine Feinde auch, sich gegen ihn zu verschwören. In der Folge wird das Königreich immer instabiler. Das ist nicht nur eine Gefahr für die Region, sondern auch für Länder wie Deutschland und die USA, deren Interesse an einem stabilen Nahen Osten nach wie vor groß ist.
Viele westliche Medien haben den Kronprinzen nach seiner überraschenden Amtsübernahme 2017 als Reformer porträtiert. Woher rührte diese Begeisterung?
MBS hat große Anstrengungen unternommen, um westliche Journalisten und Entscheidungsträger in seinem Sinne zu beeinflussen. Damit hatte er lange Zeit großen Erfolg. Erst im April 2018 besuchte er Hollywood und das Silicon Valley und stellte sich überall als Reformer vor. Dabei haben all jene, die sich Hals über Kopf in den jungen Kronprinzen verliebten, übersehen, wie bestürzend schlecht die politische Bilanz des Kronprinzen schon damals ausfiel.
»Trump stellte dem Kronprinzen einen Blankoscheck aus«
Worauf spielen Sie an?
Das wichtigste Puzzlestück ist der seit vier Jahren herrschende Krieg im Jemen. Ein Krieg, den MBS als »Operation Decisive Storm«, also »Operation entscheidender Sturm« betitelt hatte und der seit langem in einem blutigen Patt verharrt. Ein Krieg, der sich zur schlimmsten humanitären Krise weltweit entwickelt hat. Nach UN-Angaben steht Jemen kurz vor der schlimmsten Hungersnot seit 100 Jahren. Dafür trägt der saudische Kronprinz die Verantwortung. Er hat den Krieg begonnen. Natürlich sind die Huthis und der getötete Ex-Präsident Ali Abdullah Saleh und all die anderen Akteure keine Heiligen, in diesem Krieg gibt es keine Guten. Aber MBS sticht negativ hervor.
Sie meinen, der wahre Charakter des Kronprinzen hätte früher erkannt werden können?
Hätten die Leute damals genauer hingesehen, hätte sie der spätere Mord an Jamal Khashoggi in Istanbul nicht überrascht. Der US-Journalist Tom Friedman hat es geschafft, in einem Meinungsbeitrag für die New York Times zwölfhundert Wörter zu MBS zu schreiben, ohne das Wort Jemen zu verwenden. Das Schicksal des Landes war schlicht nicht im Bewusstsein der Leute. Wir sollten auch deshalb auf Jamal Khashoggis letzte Worte hören, die er vor seinem Tod in der Washington Post veröffentlicht hat. Er fordert Saudi-Arabien auf, einen einseitigen Waffenstillstand auszurufen, alle militärischen Operationen einzustellen und politische Verhandlungen mit allen jemenitischen Parteien aufzunehmen.
Ist die US-Regierung an der Lage im Jemen mitschuldig, in dem Sinne, dass sie die Saudis mit fast allem davonkommen lässt?
Die Trump-Administration signalisierte vom ersten Tag an, dass sie keinerlei Bedenken bezüglich der Situation im Jemen und der Unterdrückung innerhalb Saudi-Arabiens hat. Trump stellte dem Kronprinzen einen Blankoscheck aus. Er machte klar, dass sie ihn, was auch immer er auch tut, zu 100 Prozent unterstützen werden. Das war die Botschaft des Präsidenten und seines Schwiegersohns Jared Kushner. Der Ermordung von Jamal Khashoggi hätte deshalb ein Weckruf sein sollen.
Aber?
Die Trump-Administration tat und tut was sie kann, um den Fall unter den Teppich zu kehren. Das Weiße Haus will das alles einfach nur hinter sich lassen. Was besonders ironisch ist, hat MBS doch kaum eine seiner extravaganten Versprechungen an den Präsidenten gehalten. Es gibt keinen Waffendeal über 110 Milliarden US-Dollar, es gibt keinen Handelsvertrag über 450 Milliarden US-Dollar und es gibt auch keine substanziellen Reformen in Saudi-Arabien. Anstatt die arabischen Staaten gegen Iran zu einen, spaltet der Kronprinz sie mit seiner törichten Politik gegenüber Katar. Der Hochstapler im Weißen Haus wurde vom saudischen Hochstapler über den Tisch gezogen.
Die amerikanisch-saudischen Beziehungen scheinen sich heute auf das persönliche Verhältnis zwischen dem Haus Trump und dem Haus Saud zu beschränken.
Fast. Man kann schon von zwei Familien sprechen, aber es sind eher das Haus Trump und das Haus Salman, nicht das Haus Saud. Denn mittlerweile ist klar, dass sich viele Angehörige des Königshauses mit der Politik des Kronprinzen enorm unwohl fühlen. Sie sorgen sich um die Richtung, in die das Königreich geht und fürchten die damit verbundene Instabilität. Wir alle sollten uns Sorgen machen, denn Saudi-Arabien hat für 50 Jahre in einer Region mit großer Unsicherheit für Stabilität gesorgt. Doch das Königreich ist nicht mehr derselbe Ort, den wir zu kennen glaubten.
Wie besorgt sind Ihre saudischen Kontakte?
Ich verfolge die Geschicke Saudi-Arabiens seit 1978 und was ich gerade höre, ist, dass sich viele Menschen in wichtigen Positionen fragen, wohin dieser Kronprinz ihr Land eigentlich führt. Aber das gilt nicht nur für Saudi-Arabien, sondern auch für Länder wie Jordanien und den Oman. Sie alle wissen, dass ihre eigene Zukunft eng mit der Stabilität des Königreichs verbunden ist.
Gilt das auch für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE)?
Selbst in den Emiraten, die ja sehr eng mit Saudi-Arabien verbündet sind, wächst das kritische Bewusstsein für den Jemenkrieg. Das ist ja nicht nur eine politische Katastrophe, sondern kostet jedes Jahr auch mindestens 50 Milliarden US-Dollar. Und dafür zahlen auch die Emirate, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.
»Wir haben es in der Hand, den Krieg zu beenden«
Während das iranische Regime als lachender Dritte am Seitenrand steht.
Der Krieg im Jemen ist ein gigantischer PR-Erfolg für die Iraner. Iran ist der Nutznießer, weil der Ruf Saudi-Arabiens und der VAE immer weiter beschädigt wird. Das ist das Gegenteil von dem, was Muhammad Bin Zayed, der Kronprinz von Abu Dhabi und enger Vertrauter von MBS, vorhatte: nämlich Iran zu isolieren. Nun mehren sich die Anzeichen, dass die Emirate nach einem Ausweg suchen – doch dazu müssen sie MBS irgendwie überzeugen.
Werden die USA den Druck auf ihren Verbündeten erhöhen, um den Krieg zu beenden?
Das ist in der Tat durchaus möglich. Der US-Senat hat die Waffenverkäufe an Saudi-Arabien kritisiert und ich denke, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Regierung weitere Waffengeschäfte anstrebt, solange die Khashoggi-Affäre nicht überwunden ist. An dieser Stelle möchte ich auch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel applaudieren: Ihre Ankündigung, die Waffenverkäufe an Saudi-Arabien einstellen zu wollen, ist ein seltenes Zeichen echter Staatskunst. Das muss man anerkennen.
Um genau zu sein, hat die deutsche Regierung nur neue Waffengeschäfte ausgeschlossen, erfüllt aber weiterhin laufende Verträge.
Es geht aber nicht nur darum, den Verkauf neuer Waffen zu stoppen. Die eigentlichen Hebel in den Händen von Kongress und Regierung sind die Lieferung von Ersatzteilen und die Hilfe bei der Wartung des Materials. Wir haben es in der Hand, den Krieg zu beenden. Ein Anruf des Präsidenten beim Kronprinzen genügt. Er müsste nur sagen, dass die USA keine Ersatzteile mehr liefern, solange der Krieg nicht gestoppt wird und der Spuk wäre vorbei.
Warum nimmt Trump den Hörer nicht in die Hand?
Natürlich geht es dabei um wirtschaftliche Interessen. Für viel bedeutender halte ich aber die Tatsache, dass unsere Regierung jede Menge politisches Kapitel in den Kronprinzen investiert hat und jetzt nicht zugeben will, dass das ein großer Fehler war.
Donald Trump und MBS haben die Führung ihres Landes auf sich als Person zugeschnitten – beides sind nun hochpersonalisierte Regime. Liegt in dieser Zuspitzung eine Gefahr für die bilateralen Beziehungen?
Die Beziehung zwischen beiden Ländern wird wahrscheinlich keine stabile langfristige Partnerschaft sein, dafür sind beide zu impulsiv. Ursprünglich basierten die mittlerweile 75 Jahre andauernden amerikanisch-saudischen Beziehungen stets auf geteilten Interessen. Primär ging es dabei natürlich um Erdöl, das der eine hatte und der andere brauchte. Doch im Laufe der Jahre wurde Saudi-Arabien auch zu einem Partner in eine Reihe anderer Fragen, etwa in Bezug auf den Nasserismus, Saddam Hussein, die Sowjets und zuletzt die Iraner.
Es ging stets um geteilte Ziele, nicht um gemeinsame Werte.
Genau. Denn die USA und Saudi-Arabien haben keine gemeinsamen Werte. Wir sind eine um Meinungsfreiheit bemühte Demokratie und Saudi-Arabien eine absolute Monarchie, die seinen Untertanen keine Freiheiten gewährt. Die Romanze zwischen Trump und MBS wird die Beziehung zwischen den beiden Ländern deshalb nicht stabilisieren. Wenn überhaupt, dann wird auch diese Allianz irgendwann brüchig. Noch einmal: MBS destabilisiert Saudi-Arabien.
Der Kronprinz steht zwar im Fokus, doch noch ist sein Vater am Leben und für das Königreich verantwortlich. Das wurde 2018 zweimal besonders deutlich: Als er den Umzug der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem offen kritisierte und als er den Börsengang des staatlichen Ölkonzerns Saudi Aramco abblies.
Der Protest von König Salman gegen den Umzug der US-Botschaft war eines der wenigen Male, dass er seinen Sohn offen ermahnte. Zunächst war die Reaktion auf den Umzug verhalten, doch dann wurde ein in Dhahran stattfindender Gipfel auf einmal zum »Jerusalem-Gipfel« umgewidmet und zu einer scharfen Verurteilung der amerikanischen Politik genutzt.
Warum hat der König in diesem Fall seine übliche Zurückhaltung aufgegeben?
Die Palästina-Frage wird in Saudi-Arabien ungebrochen heftig diskutiert. Insbesondere die Saudis aus der Generation des Königs beschäftigt das Thema nach wie vor. Ich denke deshalb auch nicht, dass die Saudis Jared Kushners Friedensplan für den Nahen Osten unterstützen werden. Und der Kronprinz selbst hat durch die globale Kritik im Fall der Khashoggi-Ermordung einiges an Unterstützung verloren – weltweit und im eigenen Land. Würde er Kushners Friedensplan offen ablehnen, könnte ihm das zu neuem Ansehen verhelfen – der Plan wird deshalb eine politische Totgeburt.
Ist König Salman die beste Hoffnung des Westens, dass jemand den Kronprinzen in die Schranken weist?
Sollte König Salman heute Abend aus irgendeinem Grund beschließen, seine Nachfolge neu zu regeln, könnte er das tun. Er hat das ja bereits zwei Mal gemacht, warum nicht ein drittes Mal? Denn die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist komplizierter, als gemeinhin vermutet wird und auch wenn MBS oft als De-Facto-Herrscher betitelt wird, ist er das schlicht nicht. Aber natürlich, König Salman hat eine klare Vorliebe für seinen Sohn – und dennoch ist nichts in Stein gemeißelt. Das ist im Übrigen ein weiterer Unsicherheitsfaktor, der das Land instabiler macht.
Neben welchen weiteren Faktoren?
Es gibt zum Beispiel keinen stellvertretenden Kronprinzen, keinen Dritten in der Reihe. Das ist für das Königreich höchst ungewöhnlich. Denn die Frage der Nachfolge ist die Achillesferse jeder Monarchie. Unfähige Erben bedrohen jedes Königreich.
Der König soll unter Demenz leiden, wäre er körperlich überhaupt in der Lage, eine solche Umstrukturierung vorzunehmen?
Der König hat gute und schlechte Tage. Aber es gibt keinen physischen Grund, warum er die Nachfolge nicht ändern könnte, das ist im Übrigen auch kein sehr komplizierter Prozess. Und im konkreten Fall sehen ja auch viele andere Mitglieder der Königsfamilie die Politik des Kronprinzen zunehmend skeptisch. Ich glaube nicht, dass es viel Widerstand geben würde, sollte der König seinen Sohn aus der Thronfolge entfernen. Ich denke, viele Mitglieder des Hauses Saud würden eine Änderung vielmehr begrüßen.
Bruce Riedel war fast drei Jahrzehnte Nahost-Analyst beim US-Auslandsnachrichtendienst CIA und hat vier amerikanische Präsidenten in Politikfragen beraten. Heute arbeitet er für die »Brookings Institution« und die »Albright Stonebridge Group«. 2017 erschien sein Buch »Kings and Presidents«, das die amerikanisch-saudischen Beziehungen beleuchtet.