In Libyen stehen womöglich bald Wahlen an. Warum es trotz ungelösten Streitigkeiten und altbekannten Störenfrieden Grund zur Hoffnung gibt und wer dringend seine Hausaufgaben machen muss.
Eya Trabelsi wirkt gestresst, als sie sich per Telefon zurückmeldet. Die 26-jährige Studentin aus Tripolis steckt mitten in den Vorbereitungen ihrer Partei auf die Wahlen. Eigentlich hatte sie andere Pläne für diesen Sommer: »Ich plane mein Masterstudium in Internationalen Beziehungen zu beenden – dafür hatte ich schon ein Stipendium in der Türkei in der Tasche«.
Eya gehört zu den Menschen, die sich in Libyen politisch engagieren, die noch nicht müde geworden sind angesichts der ständigen Hinauszögerung der Wahlen, die eigentlich für den Dezember 2018 angesetzt waren. Die »Demokratische Partei Libyens« hat sich erst 2021 gegründet – als Abspaltung der damals sehr populären »Gerechtigkeitspartei«. »So wie viele andere junge Leute konnte ich mich nicht mehr mit der islamistischen Ideologie der Älteren identifizieren«, erklärt sie die Beweggründe.
Dass junge Menschen wie Eya heute wieder Hoffnung schöpfen, die Zukunft ihres Land wieder mitgestalten zu können, hat mit dem jüngsten Verhandlungsdurchbruch zu tun: Bei den Gesprächen im marokkanischen Bouzniqa einigten sich die jeweils sechs Vertreter der konkurrierenden Regierungen aus Tripolis und Tobruk am 6. Juni auf die Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes – die Voraussetzung, um möglicherweise noch in diesem Jahr Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzuhalten.
Damit es dieses Mal klappt, muss sich auf politischer Ebene noch einiges bewegen. Einer der Hauptstreitpunkte: Wer darf als Präsident kandidieren? Besonders problematisch sind dabei mögliche Prätendenten wie Warlord Khalifa Haftar und Saif al-Islam Al-Gaddafi. Beide verfügen über beträchtliche Ressourcen und eine breite politische Basis, sind aber für große Wählergruppen und auch für westliche Staaten ein No-Go. Auch die Frage nach einem obligatorischen zweiten Wahlgang, der bisher im Entwurf vorgesehen ist, und wie mit den Parlamentswahlen verfahren wird, sollten die Präsidentschaftswahlen in der ersten Runde scheitern, bleibt umstritten. Die Verlierer des ersten Wahlgangs könnten auf die Barrikaden gehen und eine zweite Runde gezielt verhindern.
Gerade in den Monaten nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes vor knapp über einem Jahrzehnt blühte die Parteienlandschaft auf
Hinzu kommt noch die Bestimmung, dass vor der Durchführung von Wahlen eine neue Übergangsregierung eingesetzt werden muss. Dafür müsste Abdul-Hamid Dbeibeh, Interim-Premier der Regierung in Tripolis, freiwillig zurücktreten – ganz gleich, wer letztendlich zum Präsidenten gewählt wird. Der bislang letzte Versuch, Wahlen in Libyen abzuhalten, scheiterte vor knapp zwei Jahren. Die international anerkannte Regierung in Tripolis hatte im Vorfeld die Zulassungskriterien wieder gelockert. Insgesamt nahmen 60 von 200 politischen Parteien die bürokratische Hürde und wurden für die Wahlen zugelassen – darunter auch die »Demokratische Partei Libyens«.
Sollte tatsächlich bald ein Wahltermin verkündet werden, gäbe es noch viel zu tun für Eya und ihre Parteikollegen: Unterstützer gewinnen, einen Parteikongress abhalten, Schulungen für die jungen Parteimitglieder organisieren. »Wir wollen noch mehr Menschen im Osten des Landes erreichen. Dort sind wir bisher kaum vertreten«, erzählt sie. Als neue Partei sind sie und ihre Mitstreiter auch offen für Modelle aus dem Ausland. »Von Deutschland und der Sozialdemokratie kann man viel lernen«, findet sie. Das politische System eigne sich wegen der Mischung aus Direktmandaten und Listenplätzen für Libyen. »Und wegen des föderalen Systems«, fügt sie hinzu.
Solche Zukunftsvisionen liegen angesichts der politischen Realität in weiter Ferne. Parteien haben in Libyen derzeit kaum Einfluss und dienen oft lediglich als demokratischer Anstrich. Das war nicht immer so. Gerade in den Monaten nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes vor knapp über einem Jahrzehnt blühte die Parteienlandschaft auf. Besonders die »Allianz der Nationalen Kräfte«, die 2012 die Mehrheit im ersten frei gewählten Parlaments Libyen errang, gab Anlass für Optimismus. Noch immer ist die Partei populär, wenngleich sie ihre wichtigste Führungsfigur verloren hat: Mahmud Jibril, 2011 Premier des »Nationalen Übergangsrates«, verstarb 2020 an den Folgen einer Corona-Infektion.
Immerhin folgte auf die erste Berliner Konferenz 2020 eine echte Periode der Hoffnung
»2012 war ich wirklich involviert. Ich habe für eine Zeitung gearbeitet und bei den Wahlen für Jibrils Partei gestimmt«, erinnert sich Ali Muhammad an die Aufbruchstimmung. »Mahmud Jibril distanzierte sich damals von den Muslimbrüdern – auch deswegen genoss er damals großes Vertrauen«. Nachdem der demokratische Prozess jedoch ins Stocken geriet und sich die Sicherheitslage verschlechterte, trauten sich zwei Jahre später nur noch wenige Libyer bei den Parlamentswahlen an die Urne und auch politische Parteien wurden seit 2014 immer häufiger verboten. »Nach 2014 ging alles irgendwie bergab. Dieselben Leute, derselbe Kreislauf – wir haben das Vertrauen nach und nach verloren.« Ali Muhammad ist mittlerweile 32 Jahre alt, lebt seit 2014 in Tunis, arbeitet als Filmemacher und verfolgt die politischen Geschehnisse in Libyen seither aus der Ferne.
Zu den wichtigsten Figuren, die seitdem auf der politischen Bildfläche aufgetaucht sind und an denen wohl kein Weg vorbeiführt, wenn es um Libyens politische Zukunft geht, gehört Khalifa Haftar. Kurz bevor die von den Vereinten Nationen geplante Konferenz zum Nationalen Dialog 2019 starten sollte, startete der General eine 14 Monate währende Offensive gegen die Einheitsregierung in Tripolis unter Premierminister Fayez Al-Sarraj.
Mit vereinten Kräften zahlreicher Milizen und türkischer Waffenhilfe gelang es Sarraj, Haftar kurz vor Tripolis zu stoppen. Die Vereinten Nationen intensivierten ihre diplomatischen Bemühungen und auch Deutschland sah sich in der Position, eine Vermittlerrolle einzunehmen.
Immerhin folgte auf die erste Berliner Konferenz 2020 eine Periode echter Hoffnung: 75 von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen nominierte Delegierte der Verwaltungen aus West- und Ostlibyen sollten unabhängig von den konkurrierenden Parlamenten im Oktober 2020 ein konstitutionelles Abkommen ausarbeiten. Aufgrund der negativen Erfahrungen wollte man sich bei der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes nicht mehr auf die beiden zerstrittenen Institutionen verlassen.
Scheinbar leer ging Fathi Bashagha aus der Postenverteilung heraus
Kurz nach dem ersten Treffen des »Libyschen Dialogforums« in Tunis am 9. November 2020 wurde bereits eine ehrgeizige Agenda festgesetzt: Dabei stand das symbolträchtige Wahldatum am 24. Dezember, dem Tag der libyschen Unabhängigkeit auf der Prioritätenliste ganz oben. Erst dann folgte die Auseinandersetzung um die rechtlichen Rahmenbedingungen des Urnengangs. Die Delegierten wählten Abdul-Hamid Dbeibeh zum Interim-Premier sowie einen dreiköpfigen Präsidialrat unter der Leitung von Muhammad Al-Menfi.
Scheinbar leer ging Fathi Bashagha aus der Postenverteilung heraus, der Innenminister der Regierung in Tripolis, der lange als Favorit für das Amt galt und im Kampf gegen Haftar eine wichtige Rolle gespielt hatte. Das Parlament in Tobruk zog sein Vertrauensvotum gegenüber der Regierung Dbeibeh kurz vor dem Wahltermin zurück und wählte später Bashagha, der in Zwischenzeit das Lager gewechselt hatte, zum neuen Premierminister. Auch General Haftar weigerte sich, die neue Einheitsregierung in Tripolis anzuerkennen. Das »Libysche Dialogforum« konnte in der Folge keine Einigung bezüglich des Wahlprozesses erzielen.
Als dann im November 2021 sowohl Saif al-Islam Gaddafi, als auch Khalifa Haftar, Fathi Bashagha, Abdulhamid Dbeibah und der langjährige Sprecher des Tobruker Parlaments, Aguila Saleh, sowie mehr als 90 weitere Anwärter ihre Unterlagen für die Präsidentschaftswahlen einreichten, weigerte sich die »Nationale Wahlkommission«, die finale Liste der zugelassenen Kandidaten rechtzeitig vor Beginn des zweiwöchigen Wahlkampfes zu veröffentlichen. Die für den 24. Dezember 2021 vorgesehenen Wahlen waren somit auf unbestimmte Zeit verschoben.
Doch nicht nur Ränkespiele und Postengeschacher zwischen Tripolis und Tobruk standen der Wideraufnahme des politischen Prozesses in den vergangenen Jahren im Weg. Auch die widerstreitenden Interessen auswärtiger Staaten, mit deren Unterstützung sich auch die politischen Konkurrenten in Libyen Gewicht verschafften, verhinderte lange einen Kompromiss. Während Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate auf Tobruk beziehungsweise General Haftar setzte, stellten sich die Türkei, Katar, aber auch die EU sowie die Vereinten Nationen hinter die Regierung in Tripolis.
Während Ankara Fayez Al-Sarraj jahrelang die Treue hielt, geht die türkische Regierung zunehmend auf Distanz zu Dbeibeh
Haftar gelang es trotz seiner gescheiterten militärischen Abenteuer, eine fruchtbare Vierecksbeziehung mit Russland, Ägypten, der Türkei und der EU aufrechtzuerhalten. Dabei profitierte der 79-jährige General von russischen Kampfjets aus Russland und Söldnern der Gruppe Wagner, Truppenunterstützung aus Ägypten sowie Überweisungen aus den VAE aus und Saudi-Arabien, um seine sogenannte Libysche Nationalarmee zu unterhalten. Zudem sind Haftars Söhne mit den Verhandlungen über Ölgeschäfte mit der Türkei betraut. Und nicht zuletzt brechen aus von Haftars Truppen kontrollierten Gebieten immer häufiger Boote über das Mittelmeer auf – in der Migrationsfrage verschafft das dem General einen Hebel in den Beziehungen zur EU.
Während Ankara Fayez Al-Sarraj jahrelang die Treue hielt, geht die türkische Regierung zunehmend auf Distanz zu Dbeibeh und sucht den Ausgleich mit regionalen Rivalen in Kairo und Abu Dhabi. Und auch die Milizenallianz, die die Hauptstadt vor vier Jahren noch vor Haftars Ansturm verteidigte, hält wenig zusammen – die bewaffneten Gruppen wägen bereits die für sie vorteilhaftesten Optionen ab.
Für all die Libyer, die hoffen, bald ihre Stimme abgeben zu können, dürften diese ungelösten Fragen Grund zur Sorge sein. Solange kein wirklicher Demokrat unter der politischen Elite zu finden ist, die Verfassungsentwürfe voller technischer Fehler und Schlupflöcher sind und auch Parteien wie jene, in der sich Eya Trabelsi engagiert, nicht schaffen, in der Breite der Bevölkerung zu mobilisieren, stehen die Chancen auf einen demokratischen Wandel in Libyen schlecht.
Auch Ali Muhammad ist sich noch nicht sicher, ob er sich zur Stimmaufgabe aufmachen würde. »Wenn ich das Gefühl habe, dass meine Stimme nichts zählt und die Machtdynamiken dieselben bleiben, dann werde ich nicht zum Wählen nach Libyen reisen.« Trotz dieser Skepsis weiß der Filmemacher die Bemühungen um Fortschritt in seiner Heimat zu schätzen. »Für viele Menschen sind selbst kleine Verbesserungen wie ein Jahr ohne Stromausfälle von Bedeutung«, findet er.