Die Golfstaaten erleben die erste Bewährungsprobe für ihre Führungsrolle in Nahost. Aber in einer Schlüsselfrage können sie sich nicht einigen.
Die Regierungen der arabischen Golfmonarchien zeigten sich nach dem verheerenden Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und der anschließenden israelischen Militäraktion im Gazastreifen schockiert, empört und bestürzt. Sie befinden sich aus unterschiedlichen Gründen in einem Dilemma, hatten doch die meisten Herrscher am Golf in den letzten Jahren eine mehr oder weniger formelle Annäherung und konziliant-pragmatische Beziehungen zu Israel gesucht – oft aus Gründen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Mit der Eskalation der Gewalt im Nahostkonflikt ist jedoch die traditionelle Sympathie für die palästinensische Sache wieder massiv zu Tage getreten und dominiert die öffentliche Debatte in der arabischen Welt. Dies setzt die Herrscher am Golf unter Druck, für die die Solidarität mit Palästina zuletzt in den politischen Hintergrund getreten und zu einer Art traditioneller Folklore verkommen zu sein schien. So müssen die wichtigsten Golfmonarchien nach dem 7. Oktober ihren Kurs gegenüber Israel und den Palästinensern anpassen.
Israel wurde insbesondere von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) als potenzieller Partner im Kampf gegen den regionalen Rivalen Iran und als potenter Wirtschaftspartner gesehen. Gerade vor diesem Hintergrund stellt der Gaza-Krieg für die VAE ein Problem dar, schließlich konnten die Abraham-Abkommen nicht zu einer langfristigen Lösung des Nahostkonflikts beitragen – im Gegenteil.
Abu Dhabi will dem Eindruck vorbeugen, Netanyahu einen Freifahrtschein auszustellen
Die emiratische Führung reagiert auf dieses Dilemma mit einer Mischung aus rhetorischem Druck und interessengeleitetem Pragmatismus. Gegenüber Israel schlägt sie einen härteren Ton an, forderte bereits im Dezember 2023 im UN-Sicherheitsrat einen Waffenstillstand. In den VAE wird bereits von einem »kalten Frieden« gegenüber Israel gesprochen. Damit will Abu Dhabi dem Eindruck vorbeugen, Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu mit den Abraham-Abkommen einen Freibrief für sein militärisches Vorgehen in Gaza ausgestellt zu haben.
Dennoch fühlen sich die VAE dem Abkommen weiterhin verpflichtet, da es ein langfristiges Kooperationsprojekt und Teil der emiratischen »Economy First«-Strategie ist. Gleichzeitig sehen die VAE die Krise auch als Chance: So beteiligen sie sich gemeinsam mit den USA, der EU und Großbritannien an den Hilfslieferungen auf dem Seeweg von Zypern nach Gaza. Damit wollen sie ihrer Rolle als Strippenzieher und verlässlicher Partner der internationalen Gemeinschaft gerecht werden, indem sie auf strategische Langfristigkeit statt auf kurzfristigen Aktionismus setzen.
Saudi-Arabien befindet sich ebenfalls in einer delikaten Lage: Vor dem 7. Oktober hatte das saudische Königreich Gespräche mit der israelischen Regierung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen geführt. Diese Gespräche wurden jedoch nach Beginn des Gaza-Krieges auf Eis gelegt. Saudi-Arabien durchläuft einen umfassenden sozioökonomischen Transformationsprozess und baut seine öl-basierte Wirtschaft um. Investitionen in Projekte wie die Smart City »The Line« am Roten Meer, in Sport, Unterhaltung oder Tourismus sollen das Königreich als attraktiven Wirtschaftsstandort positionieren, dringend benötigtes Kapital ins Land holen und Arbeitsplätze für junge Saudis schaffen.
Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) muss in diesen Bereichen Erfolge erzielen und braucht dafür regionale Stabilität. Der Gaza-Krieg gefährdet dies jedoch, so dass Saudi-Arabien seit dem Frühjahr den rhetorischen Druck auf Netanyahu erhöht, seine Solidarität mit der palästinensischen Sache betont und auf einen Waffenstillstand sowie eine Zweistaatenlösung drängt. Insbesondere die 2002 vom damaligen saudischen König initiierte Arabische Friedensinitiative wird von Saudi-Arabien als Lösungsansatz für eine langfristige Deeskalation ins Spiel gebracht.
Saudi-Arabien hält auch nach dem 7. Oktober die Kommunikationskanäle zum regionalen Rivalen Iran aufrecht
Dabei hat MBS einen Trumpf in der Hand: Er kann die Aussicht auf eine Normalisierung mit Israel nutzen, um Zugeständnisse von israelischer und US-amerikanischer Seite zu erzwingen. Gelingt ihm ein solcher Coup, könnte er sich als Friedensbringer stilisieren und sein internationales Ansehen festigen. Allerdings: Der bisherige Kurs, mit Israel einen pragmatischen Modus Operandi zu finden, der im Gegenzug Sicherheitsgarantien der USA beinhaltet, muss modifiziert werden. Ohne eine ernsthafte Lösung der Palästinafrage droht Saudi-Arabien seine Glaubwürdigkeit als Anwalt der palästinensischen Sache zu verlieren. Riad hat dies erkannt und schlägt einen härteren Ton gegenüber Israel an.
Gleichzeitig hält Saudi-Arabien auch nach dem 7. Oktober die Kommunikationskanäle zum regionalen Rivalen Iran aufrecht, wie die Gespräche zwischen MBS und dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi zeigen. Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Islamischen Republik im März 2023 wird in Riad als taktische Annäherung gesehen, um Konflikte wie im Jemen zu bewältigen. Trotz iranischer Unterstützung für die Hamas in Gaza oder die Hizbullah im Libanon will Saudi-Arabien dieses Ziel nicht gefährden und eine weitere Eskalation durch Iran verhindern.
Katar wiederum hat sich in den Verhandlungen um die Freilassung der israelischen Geiseln unersetzlich gemacht. Als einziger staatlicher Akteur am Golf unterhält die katarische Führung enge Beziehungen zu Teilen der Hamas; seit 2017 residiert der Führer der Hamas-Auslandsfraktion, Ismail Haniyeh, in Doha. Gegenüber Israel verfolgte die katarische Führung zeitweise einen konzilianten Kurs, lehnt aber eine Normalisierung kategorisch ab. Die Beziehungen Katars zur Hamas kommen der langjährigen Strategie des Landes zugute, als Dialogplattform zu fungieren, in Krisen zu vermitteln und Kontakte zu problematischen Akteuren zu pflegen. Dieser Kurs hat Katar zu einem wichtigen Partner für die USA und Europa gemacht – ein Ziel, dem die katarische Politik des »Wir reden mit allen« dient.
Nach dem 7. Oktober geriet diese Politik jedoch immer wieder in die Kritik, da Katar gerade seine Nähe zu radikal-islamistischen Gruppen wie der Hamas vorgeworfen wurde. Vor allem deren finanzielle Unterstützung rückte in den Mittelpunkt der Vorwürfe: Insgesamt soll Katar seit 2007 umgerechnet rund 1,9 Milliarden Euro nach Gaza geschleust haben. Der Vorwurf: Viel davon sei an die Hamas geflossen. Vertreter Katars argumentieren, die Unterstützung sei stets mit Wissen der USA und unter Kontrolle Israels erfolgt. Zudem wird der katarischen Führung vorgeworfen, durch ihre Nähe zur Hamas von den Angriffsplänen im Vorfeld gewusst zu haben. Auch dies wird von katarischer Seite vehement bestritten.
Katar droht mit den VAE ein Konflikt über die zukünftige Rolle der Hamas
Darüber hinaus droht Katar ein Konflikt mit den VAE über die zukünftige Rolle der Hamas: Während sich Katar eine weitere Zusammenarbeit mit einer geschwächten Hamas vorstellen kann, kommt dies für die VAE nicht in Frage. Dort werden islamistische Gruppierungen als fundamentale Bedrohung der eigenen Legitimität angesehen. So bewerteten in einer Umfrage vom Winter 2023 nur 37 Prozent der Befragten in den Emiraten die Hamas als positiv, in Saudi-Arabien waren es 40 Prozent, in Katar 61 Prozent. Deshalb wird sich auch Doha die Frage stellen müssen, ob die Kosten-Nutzen-Rechnung in Bezug auf die Hamas künftig anders ausfallen muss. In einem Nachkriegsszenario könnte daher auch die katarische Unterstützung für die Hamas zurückgehen, um weitere Reputationsschäden zu vermeiden.
Eine einheitliche Position der Golfstaaten erscheint derzeit unwahrscheinlich. Eine solche wäre aber notwendig, um eine nachhaltige Deeskalation herbeizuführen. Schließlich geht es den Herrschern am Golf – bei aller emotionalen Solidarität mit der palästinensischen Sache – auch um sicherheitspolitisches und wirtschaftliches Kalkül.
Vor allem Saudi-Arabien muss verschiedene Interessen unter einen Hut bringen. Immerhin verfügt das Königreich als traditionelle Führungsmacht und »Hüter der beiden Heiligen Stätten« Mekka und Medina über die politische und kulturelle Autorität, einen golfarabischen Kurs auszubalancieren und zu moderieren. Erste Versuche einer gemeinsamen Positionierung werden unternommen: So hat der Golfkooperationsrat (GCC), dem neben Saudi-Arabien, den VAE und Katar auch Oman, Kuwait und Bahrain angehören, im März erstmals in seiner 43-jährigen Geschichte eine gemeinsame Vision für die regionale Sicherheit verfasst. Darin wird explizit die Schaffung einer Zweistaatenlösung auf Basis der Arabischen Friedensinitiative gefordert. Dieser Ansatz soll die golfarabische Einheit stärken und trägt die Handschrift Saudi-Arabiens.
Die Frage des Wiederaufbaus von Gaza ist jedoch bislang ungelöst. Hier lehnen die Golfstaaten bisher unisono eine Beteiligung ab, da sie die Verantwortung für die Zerstörung allein bei Israel sehen. Sie wollen auf jeden Fall vermeiden, zum Steigbügelhalter israelischer Interessen zu werden, indem sie den kostspieligen Wiederaufbau Gazas maßgeblich finanzieren.
Viel relevanter bleiben bilaterale Unterstützungsleistungen als Instrument der politischen Machtprojektion
Die Golfstaaten haben in der Vergangenheit eine wichtige, aber auch ambivalente Rolle bei der finanziellen Unterstützung Gazas gespielt. Nicht nur aus Katar flossen große Summen, auch die VAE, Saudi-Arabien oder Kuwait engagierten sich in Form von humanitärer und finanzieller Hilfe. So sagten die Emirate im Februar 14 Millionen Euro für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) zu. Im März folgten Katar mit 23 Millionen Euro und Saudi-Arabien mit 37 Millionen Euro.
Viel relevanter sind jedoch die bilateralen Unterstützungsleistungen, die auch ein Instrument der politischen Machtprojektion sind. Allein Saudi-Arabien soll zwischen 2000 und 2018 insgesamt 5,5 Milliarden Euro an Hilfsleistungen zur Verfügung gestellt haben, wovon nur ein kleiner Teil an UNRWA floss. Den Golfstaaten geht es darum, mit humanitärer Hilfe Marktzugänge zu sichern, politische Allianzen zu schmieden und regionale Stabilität nach eigener Definition zu wahren. Reine Geldgeschenke in Form von Einlagen in die Zentralbanken strategisch wichtiger Empfängerstaaten oder zinslose Kredite verlieren daher zunehmend an Bedeutung. Stattdessen werden Finanzhilfen heute häufig an wirtschaftliche Zugeständnisse geknüpft.
Dieser Trend könnte auch das zukünftige Geberverhalten gegenüber Palästina und anderen Empfängerländern bestimmen. Das zeigt das Beispiel der VAE: Im Februar sagten die Emirate Ägypten 32 Milliarden Euro zu, die das krisengeschüttelte Land am Nil dringend benötigt. Im Gegenzug darf Abu Dhabi die strategisch wichtige Region Ras Al-Hekma an der Mittelmeerküste westlich von Alexandria für eigene Tourismus- und Hafenprojekte erschließen. Diese Hilfe für Ägypten sichert den Emiraten wirtschaftlichen Einfluss und erweitert ihr maritimes Netzwerk. Sie sehen sich seit Jahren als Supermacht der Weltmeere und sind an Häfen im Roten Meer, im Mittelmeer und am Horn von Afrika beteiligt. Die durch den Gaza-Krieg verschärfte Notlage Ägyptens kommt den maritim-wirtschaftlichen Interessen Abu Dhabis zugute.
Trotz dieser unterschiedlichen Ansätze im Umgang mit dem Gaza-Krieg wollen alle Staaten am Golf die Eskalation stoppen. Sie stehen mehr denn je in der Verantwortung, ihren Solidaritätsbekundungen mit Palästina Taten folgen zu lassen und müssen daher geschlossen auftreten – ein schwieriges Unterfangen. Da sie aber an regionaler Stabilität interessiert sind, um ihre wirtschaftliche Transformation voranzutreiben und ihre Investitionen zu sichern, könnte am Ende durchaus eine regional abgestimmte Politik stehen.
Dr. Sebastian Sons ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet am Forschungsinstitut CARPO zu den arabischen Golfmonarchien. Sein aktuelles Buch »Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss« ist 2023 im Dietz-Verlag erschienen.