Der Prozess am Internationalen Gerichtshof verdeutlicht, wie sehr der Verlauf des Krieges nicht nur von militärischen Überlegungen in Israel und Gaza bestimmt wird, sondern auch durch Entscheidungen und Resolutionen in Den Haag oder New York. Ein Überblick.
Die Augen der Weltöffentlichkeit richteten sich am 26. Januar auf den Internationalen Gerichtshof (ICJ) in Den Haag. Die Richterinnen und Richter verkündeten, welche temporären Maßnahmen sie im Fall Israel gegen Südafrika erlassen. Zu Beginn der Verhandlungen am 11. Januar wirkte es so, als eröffne Südafrika mit seiner Genozid-Anklage eine neue Front in diesem Krieg. Doch das Schicksal der Menschen in Gaza und Israel ist eng mit den Entscheidungen der verschiedenen UN-Gremien verknüpft.
Tatsächlich wurde dieser Krieg lange vor der südafrikanischen Anklage ebenfalls auf diplomatischem Parkett ausgetragen. Zentrale Schauplätze sind nicht nur Gaza, der Libanon oder das Rote Meer, sondern auch die UN-Generalversammlung, der Sicherheitsrat und der Internationale Gerichtshof. Wahrscheinlich ist kein anderer Konflikt so eng mit der Geschichte der Vereinten Nationen verflochten wie der israelisch-palästinensische. Schließlich gäbe es den Staat Israel wahrscheinlich ohne die UN-Resolution 181 II – den Teilungsplan von 1947 – nicht.
Doch wie sehr beeinflussen Resolutionen und Entscheidungen die Situation vor Ort? Ein nicht-vollumfänglicher Überblick über den Krieg jenseits der Waffen:
Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta: »Um ein schnelles und wirksames Handeln der Vereinten Nationen zu gewährleisten, übertragen ihre Mitglieder dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit […].«
Der Sicherheitsrat ist das einflussreichste Gremium der Vereinten Nationen. Hier treffen fünf ständige und 10 nicht-ständige Mitglieder verbindliche Entscheidungen. Zu deren Durchsetzung ist der Sicherheitsrat mit unterschiedlichen Werkzeugen ausgestattet – dazu gehört auch militärischer Zwang.
Um Einfluss auf den Krieg zu nehmen, müssen sich jedoch die fünf Vetomächte – Russland, USA, Frankreich, Großbritannien und China – einig werden. Zum ersten Mal gelang ihnen das am 15. November, über einen Monat nach Kriegsbeginn. Die Resolution 2712 forderte unter anderem eine humanitäre Feuerpause, die Einrichtung von Hilfskorridoren und die Freilassung der Geiseln. Kurz darauf und im Zuge geheimdienstlicher Verhandlungen einigten sich die Parteien auf einen viertägigen Waffenstillstand. Während der zwischendurch verlängerten Pause vom 24. bis zum 30. November konnten 110 Geiseln nach Israel zurückkehren: Im Gegenzug entließ Israel 240 zuvor inhaftierte Palästinenser und es konnten mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen geliefert werden.
Doch bei weitem nicht jede Entscheidung des Sicherheitsrats hat solch einen direkten Einfluss auf das Geschehen an der Front. Mit der Ende Dezember verabschiedeten Resolution 2720 forderte das höchste UN-Gremium die »sichere und ungehinderte Bereitstellung humanitärer Hilfe in großem Umfang«. Wenige Tage zuvor hatte Israel auf Druck der USA den Grenzübergang Kerem Schalom geöffnet. Ausreichend ist diese Maßnahme nicht, wie Abeer Etefa, die Sprecherin des World Food Programme (WFP) am 23. Januar erklärte: »Das Risiko einer partiellen Hungersnot im Gazastreifen ist nach wie vor sehr hoch.«
Art. 9 Abs. 1 der UN-Charta: »Die Generalversammlung besteht aus allen Mitgliedern der Vereinten Nationen.«
Ähnlich wie der Sicherheitsrat kann die Generalversammlung Resolutionen verabschieden, diese werden jedoch per Mehrheitsbeschluss gefasst und sind nicht bindend. Gemäß Artikel 12 Absatz 1 ist die Generalversammlung dem Sicherheitsrat untergeordnet. Befasst sich der Sicherheitsrat mit einem Thema, darf das Gremium keine eigenen Empfehlungen abgeben. Wie kommt es also, dass die unterschiedlichsten Nationen der Welt zwei weitere Resolutionen verabschieden konnten, zusätzlich zu denen des Sicherheitsrates?
Das Bindestück ist die Resolution 337 A, auch bekannt als »Uniting for Peace Resolution«. Die Generalversammlung nahm sich 1950 das Recht, Kollektivmaßnahmen zu empfehlen, sollte der Sicherheitsrat seiner zentralen Aufgabe – der Wahrung des Weltfriedens – nicht nachkommen. Zwei Mal war das laut den Mitgliedern der Generalversammlung seit dem 7. Oktober der Fall. Beide Male kurz nach einem US-amerikanischen Veto im Sicherheitsrat. So forderte man in der Generalversammlung bereits am 27. Oktober eine humanitäre Feuerpause, circa einen halben Monat bevor sich der Sicherheitsrat auf diesen Passus einigen konnte. Hinzu kommt eine weitere Resolution vom 12. Dezember, welche einen sofortigen Waffenstillstand fordert, aber keine Folgen zeitigte: Die Kämpfe dauern unvermindert an.
In Israel hingegen quittiert man solche Resolutionen oft mit Desinteresse und Resignation. Abba Evan, Israels erster UN-Botschafter, fasste die Situation 1952 folgendermaßen zusammen: »Wenn Algerien eine Resolution einbringen würde, in der erklärt wird, dass die Erde flach ist und Israel sie geplättet hat, würde sie mit 164 zu 13 Stimmen bei 26 Enthaltungen angenommen.« 70 Jahre nach diesem Zitat bleiben die Kräfteverhältnisse in der Generalversammlung unverändert, was sich auch in der Zahl der Resolutionen widerspiegelt: Im Zeitraum von 2015 bis heute verurteilte das Gremium Israel über 140 Mal, gleichzeitig entfielen 64 Verurteilungen auf Iran, Nordkorea, Syrien, Myanmar, Russland und die USA zusammen.
Art 92 Satz 1 der UN-Charta: »Der Internationale Gerichtshof ist das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen.«
Im Gegensatz zu den Resolutionen der Generalversammlung, entschied man sich in Israel, den südafrikanischen Genozid-Vorwürfen mit großer Ernsthaftigkeit zu begegnen. Als Mitglied der UN und Unterzeichner der Genozid-Konvention ist Israel an die Entscheidungen des Gerichts gebunden. Bevor die Richterinnen und Richter in der Sache ein Urteil sprechen, können sie temporäre Maßnahmen erlassen. Die weitreichendste Forderung der südafrikanischen Anklage: ein sofortiger Waffenstillstand. Am 26. Januar verkündete das 17-köpfige Richtergremium seine Entscheidung: Der Krieg läuft weiter, aber unter Auflagen. Die israelische Regierung muss alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um das Verüben »genozidaler Taten«, wie sie Artikel 2 der Konvention aufzählt, zu verhindern.
Darüber hinaus muss der freie Zugang von Hilfsgütern gewährleistet und mögliche Beweise für Vergehen dürfen nicht vernichtet werden. Doch in Israel ist man überzeugt, bereits in Übereinstimmung mit diesen Maßnahmen zu handeln. Eine viel größere Herausforderung stellt eine Maßnahme dar, welcher auch der ad hoc berufene israelische Richter Aharon Barak zustimmte: »Der Staat Israel muss alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um das öffentliche Aufhetzen zum Völkermord zu bestrafen und verhindern.«
Dass nicht genug gegen rechte Hetze unternommen wird, ahnte man in Regierungskreisen anscheinend bereits. Die israelische Zeitung Haaretz berichtet von einem Treffen am 25. Januar zwischen Premierminister Benjamin Netanyahu, den Ministern Ron Dermer und Yariv Levin, dem Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates Tzachi Hanegbi, sowie der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara – die Juristin ist in Hinblick auf das Urteil auch die relevanteste Person.
Denn es ist ihre Aufgabe, konsequent gegen die Anstiftung zum Völkermord vorzugehen. Da große Teile der politischen Rechten solche Aussagen regelmäßig tätigten, wird Baharav-Miara viele juristische Kämpfe führen müssen, um der erlassenen Maßnahme gerecht zu werden. Mit möglichen Ermittlungen gegen Minister würde sie zweifelsfrei das politische Klima ähnlich polarisieren wie die Justizreform vor dem 7. Oktober.
Der rechtsradikale Minister Itamar Ben Gvir fiel zuletzt am 28. Januar negativ auf, als er gemeinsam mit anderen Regierungsmitgliedern an einer Konferenz teilnahm, die als Ziel die erneute Besiedlung des Gazastreifens formuliert. Während seiner Rede präsentierten einige Teilnehmer ein Banner mit der Aufschrift: »Nur ein Transfer bringt Frieden« und riefen: »Transfer, Transfer!«. Hinter dem Euphemismus verbirgt sich letztendlich die Forderung, die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens zu vertreiben. Ben Gvir entgegnete den Teilnehmern: »Ihr habt Recht« und sprach sich dafür aus, die palästinensische Bevölkerung in Gaza zu ermutigen, »freiwillig« zu gehen. Solche Aussagen dürfen nach dem Urteil in Den Haag nicht mehr unwidersprochen stehen bleiben.
Wie Israel die erlassenen Maßnahmen umsetzt, muss es binnen eines Monats in einem Bericht dokumentieren. Dadurch schafft das Urteil Rechenschaftspflicht gegenüber einer unparteiischen Instanz. Der nun folgende Prozess, welcher sich dem eigentlichen Genozid-Vorwurf widmet, wird wahrscheinlich Jahre dauern. Israel ist dazu gezwungen, seine militärischen und politischen Entscheidungen konstant vor dem Hintergrund der laufenden Verhandlungen zu bewerten. Professor Itamar Mann von der Universität Haifa beschrieb diese neue innenpolitische Dynamik jüngst in einem Artikel für den Verfassungsblog. Ein zentrales Beispiel: Generalstaatsanwältin Baharav-Miara drückte ihre Opposition zu einem Gesetzesvorhaben des Likud-Politikers Simcha Rothman aus, da es Israels Chancen auf ein positives Urteil schmälern würde.