Syrien im Kopf, Israel vor der Haustür und einen Krieg vor Augen: Die Drusen des Golan haben den Spagat lange Zeit erstaunlich gut hinbekommen. Nun stellt sich die drusische Frage von Neuem. Eine Reportage.
Es sind erstaunliche Objekte, die im vulkanischen Basalt des Golan verborgen liegen, dem Blick durch eine nur dünne Geröllschicht und etwas Grasnarbe entzogen. Tausende Tretminen lauern hier geduldig. Verlegt und dann vergessen während einem der vielen Kriege, die um diesen Fleck Erde schon geführt wurden.
Doch wer gräbt, kann hier – am nördlichsten Zipfel Israels oder der südlichsten Ecke Syriens, das ist eine Frage der Perspektive – auch seinen Namen verewigen. Wie die Archäologin Naama Goren-Inbar, die den Ufern des Kratersees Berekhat Ram den vielleicht ältesten Kunstgegenstand der Menschheit entriss: eine bis zu 280.000 Jahre alte Venus-Figur aus Tuffstein.
Ein Zischen schneidet durch die laue Sommernacht. Skeptisch mustert Melhem Abu Saleh die Dose Paulaner-Bier in seiner Hand, während er mit der freien Rechten die Fleischspieße über dem Grill wendet. »Viel zu kalt«, murmelt er und stellt das vereiste Weißbier zur Seite. Um ihn herum lärmt eine Gruppe von sechs Kindern, die abwechselnd einen Fußball auf die Hauswand dreschen und sich am Tischkicker duellieren. Baschar und Dschihad Abu Saleh sowie ihre Frauen sitzen zurückgelehnt daneben und plaudern, ihr Blick ruht auf dem von Melhem mit Schwung bedienten Grill und dem in der Dämmerung liegenden Kratersee, an dessen steiler Flanke sich das Ferienhaus der Gruppe schmiegt.
»Wir Abu Salehs sind eine der größten Familien hier«, sagt Melhem, der Historiker ist und sein Geld mit einem kleinen Lottoladen verdient. Hier, das ist Majdal Shams. Die mit 11.000 Einwohnern größte von vier drusischen Gemeinden im israelischen Teil der Golanhöhen. Hier, das ist das ein Ort im Vierländereck, umzingelt von Syrien, Libanon, Jordanien und Israel.
Ein schmaler Streifen Land, der einen Kilometer über dem Meeresspiegel liegt, fantastisch saftiges Obst hervorbringt und jeder Artillerie den Beschuss des Umlands ermöglicht. Wie die anderen 24.000 Drusen des Golan sind auch die Abu Salehs zu Geiseln einer eskalierenden Regionalpolitik geworden.
Heute gilt der Golan als verwundbarste Flanke Israels. Die Hizbullah im Norden, Revolutionsgardisten im Osten und die Drusen mittendrin
»Die Hizbullah-Verbände haben hohe Verluste hinnehmen müssen, dafür haben sie Kampferfahrung gesammelt und dank iranischer Waffenlieferungen auch Manövrierfähigkeit erlangt.« So klingt es, wenn Oberstleutnant Jonathan Conricus diese strategische Bedeutung aus Sicht der israelischen Streitkräfte zusammenfasst. Der Armeesprecher ist dazu extra ins Auditorium einer Tel Aviver Privatuniversität gekommen und je mehr Gefahren er benennt, umso enger ziehen sich seine buschigen Augenbrauen zusammen.
Revolutionsgardisten, »Islamischer Staat«, iranisches Atomprogramm. Schlag, Gegenschlag, immer weiter. Dann, als ob er ein Ass zückt, berichtet er vom Drohnen-Programm der libanesischen Hizbullah. Conricus guckt in die Gesichter der versammelten Journalisten, als wüsste er um die Schauer leichten Grusels, die seine Ausführungen dem Publikum über den Rücken jagen.
Die Grenze, auf die Conricus und die Militärführung Israels gebannt schauen, verläuft unmittelbar am Ortsrand von Majdal Shams. Sie trennt nicht nur Länder, sondern auch die drusische Gemeinschaft. Seit der Eroberung des Golan im Sechs-Tage-Krieg von 1967 und der faktischen Annektierung des Gebiets Anfang der 1980er Jahre gibt es ein Hier und ein Dort. Doch der kalte Frieden zwischen Damaskus und Tel Aviv ermöglichte in den Folgejahren den plötzlich in Israel lebenden Drusen gelegentliche Verwandtschaftsbesuche und den Bauern Zugang zum syrischen Markt.
Eine Situation, die sich mit Kriegsausbruch schlagartig änderte und dann, mit der Einmischung Teherans zugunsten des Assad-Regimes, weiter zuspitzte. Heute gilt der Golan als verwundbarste Flanke Israels. Die Hizbullah im Norden, Revolutionsgardisten im Osten und die Drusen mittendrin.
Zurück in Majdal Shams. Kadem Willy steuert seinen Opel in den Osten der Kleinstadt und parkt schließlich vor einer Reihe einfacher Häuser. Hier, direkt neben einer der vielen Apfelplantagen, schlängelt sich ein mehrere Meter hoher Zaun durch die hügelige Landschaft. »Syrien«, brummt der Druse und zeigt hinüber.
Stacheldraht, Bewegungssensoren, Überwachungskameras. Seit Ausbruch des Syrienkriegs wurde die Grenze mit allem an Hightech aufgerüstet, was die israelische Sicherheits-Industrie bereithält. »An manchen Abenden treffen sich Familien von beiden Seiten der Grenze und unterhalten sich mit Megafonen«, berichtet Kadem und rollt durch den nur wenige Meter entfernten Zaun blickend eine Zigarette zwischen den Fingern.
Auf dem Golan kommen die Konfliktparteien einander nah. Wie nah, wird vom Gipfelgrat des Hermon deutlich. Wer den Hang des 2.800 Meter hohen Berges während der dreimonatigen Skisaison hinabschießt, ist nur 50 Kilometer von Damaskus, 70 Kilometer von Beirut und 90 Kilometer von Haifa entfernt.
Dass die Menschen selbst hier, auf dem Dach des Golan, dem Krieg nicht entkommen, weiß auch Kadem Willy. Der Mittfünfziger gilt den Bewohnern von Majdal Shams als bester Skifahrer des Landes und ist oft in den Bergen. »Manchmal hörte ich die Einschläge, manchmal sah ich sie«, berichtet er. Das Licht hinter der Bergkuppe flackerte dann auf, Explosionen tosten um den Gipfel.
Doch seit dem Sommer ist es ruhig. Es herrscht Totenstille. Denn die nahe dem israelischen Teil des Golan liegenden Provinzen Quneitra und Daraa wurden von syrischen, iranischen und russischen Truppen im Sommer zurückerobert. Die dort seit Jahren ausharrenden Rebellen mussten die Stellung räumen. Ein Rückschlag auch für die Israelis, die seit Jahren fürchten, dass von Iran finanzierte und ausgerüstete Truppen sich an ihrer Grenze festsetzen.
Sieben Jahre Krieg in der alten Heimat haben viele Drusen auf dem Golan nachdenklich gestimmt
Teheran soll 1.500 Revolutionsgardisten in Syrien stationiert haben, die rund 10.000 Kämpfer schiitischer Milizen befehligen. Nach eigenen Angaben hat Israels Militär deshalb seit Frühjahr 2017 rund 800 Angriffe auf 200 Ziele innerhalb Syriens durchgeführt. Medienberichten zufolge soll Tel Aviv außerdem seit Jahren syrische Rebellen mit Waffen versorgt haben, darunter die Gruppe Forsan Al-Jolan, die selbst ernannten »Ritter des Golan«.
Ein Vorwurf, den auch Assads Außenminister Walid Muallem in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am 29. September erhob. Gleichzeitig kündigte er an, sein Land werde den von Israel völkerrechtswidrig besetzten Golan »befreien«. Kein besonders wahrscheinliches Szenario.
Unabhängig davon freuten sich konservative Kommentatoren über die Einlassungen von US-Botschafter David Friedman, der Anfang September zu Protokoll gab, dass eine Anerkennung des besetzten Golan durch Washington künftig durchaus möglich sei. »Ich kann mir kein Szenario vorstellen, in dem das Gebiet an Syrien zurückgegeben wird«, führte Friedman im Interview mit der Zeitung Israel Hayom weiter aus.
Ein weiterer Tabubruch der Trump-Administration, war sich die internationale Staatengemeinschaft doch in ihrer Ablehnung des völkerrechtswidrigen Status quo bislang einig. Eine Eskalation der Lage zu verhindern ist Aufgabe der UNDOF-Blauhelme. Mit Mandat des UN-Sicherheitsrats kontrollieren derzeit rund 1.000 Soldaten die Pufferzone entlang der israelisch-syrischen Grenze.
Nur wenige Kilometer von Majdal Shams entfernt, westlich der Alpha-Line genannten Demarkationslinie, liegt Camp Ziouani. Von den weiß-blau getünchten Baracken aus wachen unter anderem nepalesische, ghanaische und indische Soldaten über die Einhaltung des 1974 verhandelten Waffenstillstand.
Doch die UN-Truppe war lange zum Nichtstun verdonnert, fiel das Grenzgebiet doch bereits im Herbst 2014 in die Hände Aufständischer. Bereits davor gerieten Blauhelme immer wieder zwischen die Fronten rivalisierender Truppen, sodass die UN-Aktivitäten in der Pufferzone am Ende eingestellt werden mussten.
»Auch heute bleibt die Situation angespannt«, berichtet ein ranghohes Mitglied der Schutztruppe. Nach der Rückeroberung des Gebiets durch syrische und russische Truppen würden diese zwar die Wiederaufnahme der UN-Patrouillen forcieren, doch insbesondere der südliche Abschnitt der Grenze sei noch immer zu gefährlich. Beim Hauptquartier in New York habe man deshalb, so der Blauhelm, Verstärkung in Kompaniegröße angefordert.
Die Drusen sehen dieses Tauziehen um die Zukunft ihrer Heimat mit gemischten Gefühlen. »Mein Sohn ist ein sehr begabter Fußballer, aber das Angebot eines israelischen Vereins hat er natürlich abgelehnt«, sagt Melhem Abu Saleh, während er sein Auto durch einen zentral gelegenen Kreisverkehr in Majdal Shams lenkt. In dessen Mitte erinnert ein Denkmal an den Drusenführer Sultan Al-Atrasch und dessen Kampf gegen die französische Mandatsmacht in Syrien. Auch die ansonsten omnipräsenten Flaggen mit Davidstern sind nirgendwo in der Kleinstadt zu sehen. »Im Herzen«, sagt Melhem, »sind wir eben Syrer.«
Doch sieben Jahre Krieg in der alten Heimat haben viele Drusen auf dem Golan nachdenklich gestimmt. Zu stark ist der Kontrast zwischen dem zerstörten Syrien und dem sicheren Leben in Israel.
Und auch wenn sich der Freundeskreis beim Grillabend am Berekhat Ram einig ist, dass die Drusen systematisch benachteiligt werden, etwa bei den dringend benötigten Baugenehmigungen, ist die Verachtung für die syrische Regierung ungleich größer. Denn während Assad sich als Schutzpatron bedrohter Minderheiten geriert, erinnert sich die Runde einhellig an die Situation vor dem Krieg, als die von vielen drusischen Familien bewohnte Provinz Suweida von Damaskus stets vernachlässigt wurde.
Heute haben dennoch nur zwölf Prozent der 24.000 Drusen auf dem Golan die israelische Staatsbürgerschaft angenommen, der Rest hat einen Aufenthaltstitel und den syrischen Pass behalten. Dahinter steckt aber mehr als nur die Ablehnung der israelischen Besatzung – hinter vorgehaltener Hand berichten mehrere Bewohner der Kleinstadt, dass die Angst groß ist, als Verräter gebrandmarkt zu werden, sollte der Golan im Rahmen eines syrisch-israelischen Friedensvertrags ganz oder teilweise zurückgegeben werden.
Zwischen Sehnsucht nach der alten Heimat und der Angst vor chaotischen Verhältnissen wurden die am 30. Oktober stattfindenden israelischen Kommunalwahlen in den Drusengebieten zu einem indirekten Referendum. Wie hältst du es mit Israel, lautete die aus der Wahl abgeleitete Gretchenfrage. Denn analog zur Situation der Palästinenser in Ost-Jerusalem wurde auch in Majdal Shams debattiert, ob Drusen sich an dem vom israelischen Staat organisierten Demokratieritual – immerhin der ersten Wahl auf dem Golan seit 1967 – nun beteiligen sollen, dürfen oder sogar müssen.*
Die Position der Befürworter ist eindeutig: Wenn wir Drusen unser Schicksal nicht in die eigene Hand nehmen, werden es andere tun.
* Bei Redaktionsschluss war der Ausgang der Wahl noch nicht bekannt.