Die Waffenruhe im Gazastreifen verschafft zwar eine Atempause, aber ohne eine dauerhafte Lösung des Konflikts wird sich der Schauplatz der Gewalt lediglich verlagern – etwa ins Westjordanland. Sollte Israel die Palästinensische Autonomiebehörde weiter untergraben, hilft das vor allem der Hamas.
Wenn es Gewinner des Abkommens zwischen Israel und der Hamas gibt, dann sind das offenbar US-Präsident Donald Trump und die Hamas selbst – in Ermangelung einer alternativen Regierungsstruktur oder eines umfassenderen Friedensabkommens stößt sie in diese Lücke und wird voraussichtlich auf absehbare Zeit weiter die bestimmende palästinensische Kraft im Gazastreifen bleiben.
Nur ein umfassendes und historisches Friedensabkommen könnte nach über einem Jahr von Tod und Zerstörung noch irgendeinen positiven Ausweg aus dem derzeitigen Status Quo ermöglichen und sicherstellen, dass die derzeitige Waffenpause in eine Gelegenheit umgewandelt wird, einen noch größeren und blutigeren Konflikt zu vermeiden.
Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand außer Trump und die Hamas großen Nutzen aus der Waffenpause zieht. Die erneute massive israelische Operation im Westjordanland führt vor Augen, dass weiterhin Palästinenser sterben – nur an einem anderen Schauplatz. Auch die letzten Überreste des Osloer Friedensabkommens stehen möglicherweise vor dem Aus – ebenso wie die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah.
Israelische Regierungsvertreter haben zudem mehrfach angekündigt, sich nicht an ihren Teil der Abmachung zu halten, also die Waffenruhe über die erste Phase von 42 Tagen hinaus fortzusetzen. Für diesen Zeitraum war die Freilassung der meisten noch von der Hamas festgehaltenen Geiseln vorgesehen. Für über zwei Millionen Zivilisten im Gazastreifen bringt die Waffenruhe wenig mehr als eine kurze Verschnaufpause, bevor die Bombardierungen wieder einsetzen.
Das Abkommen zur Waffenruhe vom 15. Januar hatten Palästinenser wie Israelis mit gemischten Gefühle aufgenommen. 2,2 Millionen Palästinenser erleben zumindest eine kurze Phase ohne Angst vor willkürlicher Bombardierung und ständig drohendem Tod. Beide Seiten begrüßten euphorisch die Rückkehr der ersten Geiseln und Gefangenen (allerdings hatten die israelischen Behörden den Palästinensern öffentliche Freudenbekundungen verboten). Im Gegenzug für die Freilassung von drei von der Hamas festgehaltenen Israelis wurden 90 von Israel inhaftierte Palästinenser freigelassen.
Die rechtsextremen Mitglieder der Regierung Netanyahu haben ihre Absicht zur vollständigen Annexion des Westjordanlands bereits mehrfach und unumwunden kundgetan
Fassungslosigkeit und Trauer herrschen dagegen bei jenen Tausenden Menschen, die in der vergangenen Woche Richtung Norden in die Trümmer ihrer Städte zurückkehrten. Sie beginnen gerade erst, das Ausmaß des Verlustes zu begreifen, das sich vor ihnen ausbreitet, während sie die verwesenden Leichen ihrer Angehörigen aus den Überresten ihrer Häuser bergen. Und unter Palästinensern wie einigen Israelis macht sich das Gefühl breit, dass die Hamas gewonnen hat.
Die Hamas wurde de facto auf den gleichen Status wie der Staat Israel erhoben. Durch die Unterzeichnung eines von den USA, Katar und Ägypten garantierten internationalen Abkommens hat sie sowohl ihre Existenz als auch ihren Führungsanspruch für Gaza gesichert. Dabei handelt es sich bei dem nun vereinbarten Abkommen inhaltlich im Wesentlichen um dasselbe Dokument, das Israel im Mai letzten Jahres abgelehnt hatte. Zehntausende ausgelöschte Menschenleben und Zehntausende Tonnen Bomben später scheint der Druck, den Trumps Nahost-Gesandter Steven Witkoff auf Israel in den Tagen des Regierungswechsels in Washington ausübte, schließlich zu jener Waffenruhe geführt zu haben, die Joe Bidens Verhandlungsteam nicht erzwingen wollte oder konnte.
Jegliches Abkommen, das dem sinnlosen Massenmord und der Zerstörung im Gazastreifen ein Ende setzt, kann nur von Vorteil sein. Doch hätte dies auch ohne ein Abkommen für eine Waffenruhe erreicht werden können (und müssen). So wie es aussieht, löst eine schrittweise Rückkehr zum Status quo ante vom 7. Oktober 2023 (die angesichts der Quasi-Auslöschung Gazas in der Zwischenzeit tatsächlich unmöglich ist) die bereits bestehenden Konfliktgründe nicht auf: die fortwährende Besetzung von Gebieten, die nach Völkerrecht und Ansicht der meisten Regierungen weltweit den Staat Palästina bilden sollen. Dieser Schritt bereitet zudem den Boden für etwas, was Israel bereits begonnen hat: nämlich die Intensivierung der Einsätze im Westjordanland. Die rechtsextremen Mitglieder der Regierung Netanyahu haben ihre Absicht zur vollständigen Annexion bereits mehrfach und unumwunden kundgetan.
Diese Politik wird die Hamas stärken. Bereits in der vergangenen Woche hat die israelische Armee Städte, Gemeinden und Dörfer im Westjordanland vollständig eingekesselt und einen Großangriff auf Jenin und Umgebung gestartet, bei dem bisher mindestens zehn Menschen getötet wurden. Wenige Tage zuvor waren auch die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) gegen lokale Widerstandsgruppen vorgegangen. Die PA steht so zwischen den Stühlen und auf tönernen Füßen. Viele Palästinenser sehen sie als Komplizin der israelischen Aggression – das schwächt ihre Legitimität noch mehr als ohnehin.
Dass die israelischen Militäraktionen im Westjordanland immer weiter ausgeweitet werden, lässt nur einen logischen Schluss zu
Da die israelischen Militäraktionen im Westjordanland immer weiter ausgeweitet werden, ist die einzige logische Schlussfolgerung, dass sie – zweifellos neben vielen Menschenleben und großen Teilen der Infrastruktur – auch die Palästinensische Autonomiebehörde selbst zerstören werden, eines der letzten Überbleibsel des Oslo-Friedensabkommen von 1993. Widerstand gegen die israelische Armee würde ähnlich wie in Jenin mit dem Widerstand gegen alle verbleibenden PA-Streitkräfte einhergehen (abgesehen von jenen, die bis dahin den Dienst quittiert haben).
Unter der Annahme, dass das Waffenstillstandsabkommen für Gaza zumindest kurzfristig schrittweise umgesetzt wird, würde so die Hamas einerseits als einzige Partei auf palästinensischer Seite verbleiben, die die Legitimität des Widerstands gegen die Besatzung durch das Volk aufrechterhält. Zum anderen hätte sie weiterhin einen gewissen Einfluss auf Israel, indem sie Geiseln in ihrer Gewalt behält, die sie noch nicht freigelassen hat.
Selbst wenn wir die Fragen über das Ausmaß der Zerstörung des Gazastreifens, die dringend benötigte kurz- und langfristige humanitäre Hilfe für eine zutiefst traumatisierte Bevölkerung nach dem, was viele als Völkermord bezeichnen, einmal beiseitelassen, bleibt das Waffenstillstandsabkommen für sich genommen als fundamentales Problem. Denn es erlaubt Israel, seinen militärischen und politischen Blick auf das Westjordanland zu richten, ohne sich auf eine umfassende Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts verpflichten zu müssen. So droht diese Waffenruhe nicht mehr zu bleiben als eine kurze Verschnaufpause einer noch größeren Tragödie mit immer krasseren Verstößen gegen humanitäre und völkerrechtliche Normen.
Das wahrscheinlichste Ergebnis ist, dass Israel auch die Waffenruhe im Gazastreifen verletzt – so wie auch im vergangenen Monat im Libanon. Somit werden Konflikt und Gewalt im Gazastreifen anhalten, während sie zeitgleich im Westjordanland eskalieren. Auch Ost-Jerusalem ist Schauplatz dieser Eskalation seitens israelischer Armee und gewaltbereiter Siedler.
In diesem Fall wäre das von Trump erreichte Waffenstillstandsabkommen für Gaza ein erster notwendiger Schritt, der sich im Übrigen auch als Errungenschaft der Abraham-Abkommen präsentieren ließe
Die neue US-Regierung steht vor einem schicksalshaften Moment: Wird Trump einen »Deal« anstreben, um einen historischen Frieden im Heiligen Land zu erreichen und damit dauerhaft Stabilität und Sicherheit in der weiteren Region und der Welt zu erreichen? Erste Entwicklungen deuten darauf hin, dass er dazu verleitet werden könnte, denselben Weg wie die Biden-Regierung einzuschlagen. Trumps kontraproduktive Präsidialerlasse zur Aufhebung der Sanktionen gegen gewalttätige Siedler, das Ende des Lieferstopps für 2.000-Pfund-Bomben an Israel ebenso wie sein Vorschlag, Millionen einheimische Palästinenser aus Gaza in die Nachbarländer zu vertreiben, werden die Glaubwürdigkeit und Dynamik, die er mit dem Abkommen vor drei Wochen erreicht hat, schnell untergraben.
Dabei stünden ihm durchaus die Machtmittel zur Verfügung, etwas grundsätzlich in Bewegung zu bringen, denn die USA verfügen über enorme Einflussmöglichkeiten. Sollte er den politischen Mut finden, sich den schlimmsten Instinkten der extremistischen Regierung Netanyahu und ihrer Unterstützer entgegenzustellen, würde er Amerikas Interessen an erste Stelle setzen und etwas tun, was bisher kein anderer US-Präsident geschafft hat.
Die Konturen einer stabilen und gerechten Zweistaatenlösung – und tatsächlich mutige, kreative und faire Lösungen für die schwierigsten Hindernisse auf diesem Weg – liegen seit langem in der Schublade. Trump hätte die Macht, diesen Weg zu ebnen und damit den Rahmen dafür zu schaffen, dass Palästinenser und Israelis in Freiheit, Sicherheit und Würde leben können. In diesem Fall wäre das von ihm erreichte Waffenstillstandsabkommen für Gaza ein erster notwendiger Schritt, der sich im Übrigen auch als Errungenschaft der Abraham-Abkommen präsentieren ließe.
Andernfalls wird seine Präsidentschaft in Bezug auf den Nahen Osten ebenso blass ausfallen wie jene der Biden-Regierung. Schlimmer noch: Der regionale Konflikt würde nur weiter vertieft und ausgeweitet. Die USA würden immer tiefer in langfristige Instabilität mit allen damit verbundenen menschlichen und finanziellen Kosten verstrickt werden. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob Israel, die Hamas oder andere Akteure sich als »Sieger« in dieser Auseinandersetzung sehen. Die Leidtragenden wären langfristig die Menschen vor Ort, Palästinenser wie Israelis.
Übersetzung und Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Wilson Center.
Jamal Nusseibeh