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Interview mit Ariel Ezrahi über die Geiseln der Hamas

»Die Zeit rennt uns davon«

Interview
Interview mit Ariel Ezrahi über die Geiseln der Hamas
Die Website der Initiative #BringHomeOurOwn

Erschüttert von dem Massaker im Süden Israels, hat Ariel Ezrahi die Website bringhomeourown.com ins Leben gerufen. Im Interview spricht er über die Aussichten auf deren Befreiung – und welcher Unterhändler dabei helfen könnte.

zenith: Sie haben unmittelbar nach den Meldungen der Entführung von über Hundert Menschen durch die Hamas die Webseite bringhomeourown.com gegründet. Was erhoffen Sie sich?

Ariel Ezrahi: Wir haben gerade eine der schlimmsten Tragödien der Menschheit bisher im 21. Jahrhundert erlebt. Die Barbarei, die Enthauptungen, die Massaker an und die Geiselnahme von Babys, kleinen Kindern, schwangeren Frauen und älteren Menschen sind in ihrem schieren Ausmaß und Brutalität einfach schockierend und beispiellos. Manche sprechen von Israels 9/11-Moment. Ohne den Schrecken des 11. Septembers auch nur eine Sekunde lang zu kleinzureden, aber das hier war etwas anderes.

 

Inwiefern?

Hier haben Terroristen Babys oder dreijährigen Kindern direkt in die Augen geschaut und sie kaltblütig erschossen. Die schiere Barbarei und Brutalität dessen, was geschehen ist, betrifft ganz Israel. Kein Geschlecht, keine Hautfarbe, keine Religion blieb von den Massakern und Entführungen der Hamas-Terroristen verschont. Ich persönlich war davon erschüttert, wie alle Israelis und auch Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Daraufhin wollte ich schnell und unmittelbar etwas unternehmen. Ich wandte mich an einen mir bekannten Webdesigner. Innerhalb von weniger als 24 Stunden hatten wir die Website in Betrieb genommen. Die Idee war, eine Uhr einzurichten, die den Zeitpunkt des Beginns der Anschläge angibt. Damit sollte Druck auf die israelische Regierung, aber auch auf die internationale Gemeinschaft ausgeübt werden, damit sie alles daransetzen, die Geiseln so schnell wie möglich nach Hause zu holen. Jede Minute, die verging, erschien mir einfach zu schmerzhaft und unverzeihlich. Ich weiß, dass es jetzt andere Organisationen gibt, die vor allem von den Familien der Entführten selbst geleitet werden (#bringthemhomenow). Ich hoffe nur, dass die Zeit noch nicht abgelaufen ist, um diese Menschen zurückzubringen.

 

Aus Ihrer Perspektive: Wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Die Strategie von Premierminister Netanyahu besagte damals, dass sich die Beziehungen zwischen Israel und dem Gazastreifen beruhigen würden, wenn Gaza Strom hat. Natürlich schloss sich die internationale Gemeinschaft diesem Gedanken an und unterstützte zahlreiche Projekte in den Bereichen Energie und Wasser, die dem unter Kontrolle der Hamas stehenden Gazastreifen zugute kamen, darunter auch das Projekt »Gas für Gaza«. Netanyahu hatte sozusagen einen »ungeschriebenen« Vertrag mit der Hamas. Sie kontrollierte den Gazastreifen. Er als israelischer Premierminister arbeitete indirekt mit ihr zusammen. So würde er dem Gazastreifen die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser ermöglichen, obwohl der Streifen von einer Terrororganisation kontrolliert wurde. In der Praxis funktionierte es so, dass wir als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zusammenarbeiteten. Natürlich haben wir nicht direkt mit der Hamas kooperiert, sondern mit der PA, obwohl klar war, dass die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen hatte und hat.

 

Warum ist dieser Ansatz gescheitert?

Diese Beschwichtigungspolitik, dieser ungeschriebene Deal zwischen Netanjahu und der Hamas, war ein Pakt mit dem Teufel. Mit Blick auf die Tragödie im Süden Israels ist es klar geworden, dass diese Politik nicht funktionieren konnte. Natürlich spielten auch andere Faktoren eine Rolle. Regierung Netanyahu hat massiv darin versagt, Vorgänge wie die Anhäufung von Waffen und die Planung des Anschlages aufzudecken. Sicherlich gab es auf israelischer Seite auch politische Probleme, die zu den Spannungen in der Region beigetragen haben könnten. Netanyahu hat zudem die Einreise von Kataris mit Koffern voller Bargeld zur Bezahlung von Hamas-Funktionären ausdrücklich und persönlich genehmigt. Auch dies war Teil seiner Vision einer Beschwichtigung der Hamas. Man kann keinen Pakt mit dem Teufel schließen. Die Hamas lässt sich nicht besänftigen, wie diese barbarischen Angriffe eindeutig zeigen. Kein Fehler beim Friedensprozess kann die Massaker erklären oder entschuldigen.

 

Der mediale Fokus verschiebt sich jetzt auf die Bodenoffensive. Wie groß ist die Gefahr, dass das Thema der Geiseln immer mehr in den Hintergrund gerät?

Den Politikern, der Öffentlichkeit und den Medien muss eines ganz klar gesagt werden. Es gibt kein »ja, aber«. Es muss eine eindeutige Verurteilung der grausamen und unmenschlichen Taten der Hamas geben. Danach kann man über die Notwendigkeit sprechen, die Zivilisten auf beiden Seiten zu schützen und am Ende vielleicht über den Frieden. Das ist alles schön und gut. Aber zuerst muss es eine unmissverständliche, klare Verurteilung der Barbarei geben, die geschehen ist.

 

Die vermissen Sie auf palästinensischer Seite?

Viele Menschen würden unter normalen Umständen Palästinenser verstehen und unterstützen, die einen eigenen, unabhängigen Staat anstreben. Aber viele der Demonstranten hielten Schilder hoch, auf den stand, die Juden sollen sich daran erinnern , wo sie 1940 waren. Andere riefen zur Vergasung auf . Bei den Demonstrationen in London sahen wir Menschen mit Aufklebern, auf denen die Gleitschirme abgebildet waren, mit denen die Teilnehmer des Friedens-Raves beim Nova-Festival angegriffen wurden. Das, was die Hamas angerichtet hat und wie sich diese Demonstranten dazu positionierten, hat wahrscheinlich jeder Chance auf einen unabhängigen palästinensischen Staat mehr Schaden zufügt als alles andere, was ich bisher gesehen habe. Und sicherlich auch den Aussichten auf einen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern.

 

»Der psychologische Schaden wird über Jahrzehnte andauern«

 

Nach offiziellen Zahlen sprechen wir von mehr als 200 Personen, die vermisst oder als Geiseln gehalten werden. Was bedeutet das für die israelische Gesellschaft? Und was wird die Hamas mit einer so großen Zahl von Geiseln machen?

Jede Geiselnahme, insbesondere von Zivilisten, hat in der israelischen Gesellschaft immer tiefe Narben hinterlassen. Es besteht kein Zweifel daran, dass der psychologische Schaden, der Verlust von Menschenleben, über Generationenandauern wird. Was die Hamas betrifft: Ich hoffe, dass ich mich irre, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sie versuchen wird, die Geiseln als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Die Hamas hat keine Hemmungen, ihre eigenen Leute dafür zu missbrauchen, um militärische Einrichtungen vor Angriffen der IDF zu schützen. Ich glaube nicht, dass sie dabei irgendwelche Zurückhaltung an den Tag legen wird.

 

Hegen Sie dennoch Hoffnung, auf einen anderen Ausgang?

Ich hoffe, dass es noch zu einer Art von Abkommen oder sicherem Durchgang für die Geiseln kommen wird. Aber das Zeitfenster dafür schließt sich sehr schnell. Ich habe große Angst um die Geiseln. Ich hoffe, dass sie es irgendwie schaffen zu überleben. Das Problem ist, dass wir es nicht mit zwei Armeen oder zwei Staaten zu tun haben, die Geiseln der jeweils anderen Armee nehmen und diese dann austauschen. Wir haben es mit einer barbarischen terroristischen Organisation zu tun, die Babys, Kinder und Großeltern entführt. Aber ich bin weder an der Militäroperation, noch an der Entscheidungsfindung in Bezug auf die Geiseln beteiligt; ich kann nur hoffen. Was ich sagen kann: Jede dieser Geiseln wird von jedem Israeli und Juden und von Menschen auf der ganzen Welt als die eigenen Brüder, Schwestern, Kinder und Großeltern verstanden.

 

Bodenoffensive versus das Leben der Geiseln? Ist es eine Entweder-oder-Entscheidung?

Sobald eine Bodenoffensive beginnt, ist es schwer, Gewissheit zu haben. Wir alle beten dafür, Bilder von Geiseln zu sehen, die im Zuge der Militäroperation von israelischen Soldaten befreit werden und sicher in ihre Häuser zurückkehren. Aber es besteht immer das Risiko, dass dies nur Wunschdenken ist und dass wir noch mehr Tragödien erleben werden. Sowohl den Tod von zivilen Geiseln als auch den Tod unserer Soldaten. Die Mehrheit der Israelis, daran habe ich keinen Zweifel, wünscht sich nicht den Tod palästinensischer Zivilisten in Gaza. Aber es gibt in Israel derzeit einen absolut übergreifenden Konsens darüber, dass die Hamas vom Angesicht dieser Erde getilgt werden muss. Ich denke, dass dies eine Ansicht ist, die nicht nur von den Israelis geteilt wird. Wir sehen Erklärungen von US-Präsident Biden, von der deutschen Regierung, der Europäischen Union, den Briten und anderen.

 

Welche Quellen stehen Ihnen zur Verfügung Sie, um zu überprüfen, ob jemand definitiv vermisst wird oder als tot gilt?

Wir haben auf unserer Website Bilder von Personen hochgeladen, von denen wir aus nachprüfbaren Quellen wissen, dass sie als Geiseln genommen wurden oder vermisst sind. Bei diesen Quellen kann es sich um seriöse Medien oder teils von den Angehörigen selbst eingerichtete Websites handeln. Eine israelische Operation hat bereits die Leichen einiger als vermisst geltender Personen geborgen. So konnten wir sicher sein, dass sie tot sind. Was unsere Website anbelangt, so wurde sie eher eingerichtet, um die Politik zu beeinflussen, die Geiseln schnell wie möglich nach Hause zu bringen. Wir aktualisieren die Seite nicht täglich, oder sobald wir Informationen über eine bestimmte Person haben. Sie soll vielmehr das Ausmaß und die Bandbreite der zivilen Tragödie und ihrer Opfer aufzeigen, von Babys bis zu alten Menschen.

 

 

»Einer der wenigen Akteure, die derzeit direkten Zugang zu und Einfluss auf die Hamas haben«

 

Arbeiten Sie mit ähnlichen Initiativen zusammen?

Wir sind dabei, mit anderen Websites zu kooperieren, die möglicherweise noch mehr Zulauf haben. Wir wissen, dass die Familien der Geiseln regelmäßig versuchen, die Informationen zu aktualisieren, einschließlich der Angabe des Ortes, an dem die Person verschwunden ist, und einiger Hintergrundinformationen über sie. Für uns war es wichtig, schnell eine Website einzurichten, in der Hoffnung, dass andere Websites entweder das Konzept einer Uhr kopieren oder unsere Uhr übernehmen. Das war unser Hauptanliegen. Natürlich hat die Vereinigung der Familien der Entführten die konkreten Fälle im Blick und verfügt über eine Datenbank, die regelmäßig aktualisiert wird. Sie sind natürlich in Gesprächen mit den Behörden.

 

Kooperieren diese Websites mit der Regierung?

Mehrere Dinge passieren gerade gleichzeitig. Die wichtigste Website bringthemhomenow, die sich mit diesem Thema befasst, ist von den Angehörigen ins Leben gerufen worden. Es handelt sich dabei nicht um eine staatliche Website, da die Regierung möglicherweise andere Pläne verfolgt als die Familien der Geiseln. Die wollen ihre Liebsten so schnell wie möglich zurückholen, während die Regierung eine massive Bodenoperation plant. Einige dieser Maßnahmen sind möglicherweise nicht zu hundert Prozent miteinander kompatibel. Der Premierminister hat einen Koordinator ernannt, der sich mit den Familien abstimmen soll.
Dazu kommen Influencer und Prominente mit einer sehr, sehr großen Fangemeinde. Schauspielerin Gal Gadot hat 109 Millionen Follower und postet die Namen und Bilder derer, die entführt wurden. So etwas muss es definitiv häufiger geben, denn die Zeit läuft uns davon. Die Gräueltaten im Süden sollten jeden, der grundlegende menschliche Werte vertritt, Entsetzen auslösen, unabhängig von Religion oder Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalität.

 

Katar hat sich als Unterhändler in der Geiselfrage angeboten? Halten Sie das Emirat für einen vertrauenswürdigen Partner in dieser Angelegenheit?

Katar ist wahrscheinlich einer der wenigen Akteure, die derzeit direkten Zugang zu und Einfluss auf die Hamas haben. Deshalb halte ich das jüngste Treffen zwischen dem Emir von Katar und Bundeskanzler Scholz für absolut entscheidend. Es gibt sehr wohl Fragen, die gestellt werden müssen. Etwa, wen Katar unterstützt und mit wem es zusammenarbeitet. Sicherlich ist die Unterstützung von Terrororganisationen in der ganzen Welt nichts, das Deutschland und andere Länder meiner Kenntnis nach gutheißen würden. Aber zum jetzigen Zeitpunkt hat Katar Informationen und Zugänge, den die meisten Länder nicht haben. Wenn wir uns auf die Frage konzentrieren, wie wir die Geiseln zurückbekommen, dann ist es ganz klar, dass Katar in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle und Verantwortung zukommt.

 

Wie sehen Sie diese Rolle?

Ich war viele Male in Katar, und ich denke, es wäre klug, wenn das Emirat seine Beziehungen zu Deutschland, zur Europäischen Union und zu anderen Ländern stärken würde. Wenn die Kataris in der Lage sind, diese humanitäre Katastrophe, die sich in Israel ereignet hat, zumindest zu lindern, indem sie bei der Befreiung der Geiseln helfen, dann wäre das meiner Meinung nach eine unglaubliche Botschaft für friedliche Partnerschaften in der Welt. Die Welt entwöhnt sich gerade von Erdgas, deshalb werden Länder wie Katar sich fragen müssen, wo sie sich positionieren und ob ihre Verbündeten Länder wie Iran oder Russland sind, die Terrororganisationen unterstützen. Oder sie werden ein verlässlicher Partner für Frieden und Stabilität in der Region. Eine Möglichkeit, etwas dazu beizutragen, ist ihr Einsatz für die Freilassung der Geiseln.



Interview mit Ariel Ezrahi über die Geiseln der Hamas

Ariel Ezrahi wuchs in Jerusalem auf. Heute arbeitet der ehemalige Anwalt als Energie-Experte unter anderem für Thinktanks wie den Atlantic Council und an Finanzierungslösungen für die Energiewende. Er beriet den ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair und entwickelte das Projekt »Gas für Gaza«, das Energielösungen für den Gazastreifen suchte und in einer Gaspipeline in die Region fand. Verhandlungen mit der israelischen Regierung und der Palästinensischen Autonomiebehörde gehörten zu seiner täglichen Arbeit.

Von: 
Wenzel Widenka

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