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Interview mit aserbaidschanischer Menschenrechtsaktivistin Khadija Ismayilova

»Wo wird denn die aserbaidschanische Perspektive abgebildet?«

Interview
von Leo Wigger
Interview mit der aserbaidschanischen Menschenrechtsaktivistin Khadija Ismayilova
Foto: Aziz Karimov

Khadija Ismayilova im Interview über den Krieg um Bergkarabach, enttäuschte Freundschaften, und darüber, was sie von ihrer Großmutter über den Konflikt mit Armenien gelernt hat.

zenith: Frau Ismayilova, in den letzten Jahren haben Sie in Ihrer Heimat schwere Zeiten durchgemacht. Aber immerhin konnten Sie auf ein Netzwerk aus Freunden und Unterstützern auf der ganzen Welt zählen. Doch während des zweiten Karabach-Krieges wurde aus dem Westen auch Kritik an einigen Ihrer Äußerungen laut.

Khadija Ismayilova: Ich glaube, ich habe diese Unterstützung falsch verstanden. Manche sagten mir, wenn ich mich beim Thema Karabach gegen Armenien stelle, würden sie es bereuen, mich unterstützt zu haben. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte ich ihre Rückendeckung gleich abgelehnt. Ich dachte, ich erfahre Zuspruch, weil ich mich gegen Korruption und für Menschenrechte einsetze. Und das mache ich weiterhin. Aber endet meine Meinungsfreiheit, wenn ich nicht nur die Aliyevs kritisiere? Wieso darf ich nur Probleme der aserbaidschanischen, aber nicht der armenischen Regierung ansprechen? Das ist doch nicht Aliyevs Krieg, sondern der des Volkes. Mehr als 600.000 Menschen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Ich muss das ansprechen können. Ich unterstütze Aliyev in keinster Weise, aber in Bezug auf Karabach ist er schlicht im Recht. Denn die andere Seite, also Armenien, hat unser Land völkerrechtswidrig besetzt.

 

Im Ausland sieht man solche Aussagen als Kriegstreiberei.

Ich bin nicht für Krieg. Ich bin gegen Besatzung – und gegen Hetze. Ich habe nie etwas gesagt, dass ich nicht glaube. Seit Mai 2021, also genau fünf Jahre nach meiner Freilassung aus dem Gefängnis, darf ich wieder legal aus Aserbaidschan ausreisen. Vor dem Krieg konnte ich mich vor Einladungen aus dem Westen kaum retten. Doch seitdem ich mich wieder frei bewegen kann, will mich anscheinend keiner mehr haben. Das ist frustrierend.

 

»Niemand dort erhebt die Stimme für die aserbaidschanische Position. Es sei denn, es gibt dafür Geld«

 

Was hat das in Ihnen ausgelöst?

Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich bin nicht bereit, meine Überzeugungen in dieser Frage aufzugeben, nur um es irgendjemandem Recht zu machen oder mehr Applaus aus dem Ausland zu bekommen. Die Ironie ist: Niemand dort erhebt die Stimme für die aserbaidschanische Position. Es sei denn, es gibt dafür Geld. Leider äußert sich auf armenischer Seite kaum jemand kritisch über die Besetzung Karabachs oder fordert, armenische Kriegsverbrechen zu untersuchen. Mir fällt als Ausnahme nur der Aktivist Georgi Vanyan an, doch der ist mittlerweile verstorben (Anm. der Redaktion: Vanyan starb im Herbst 2021 nach kurzer schwerer Krankheit) und der stieß mit seiner Haltung selbst bei der eigenen Familie auf Ablehnung. Wir haben hier Unterschriften für eine Petition gesammelt, um Verbrechen unserer Armee aufzuklären. Kann man sich das in Armenien vorstellen? Als ob die armenische Armee keine Verbrechen begangen hätte!

 

Mir kommt da eher das Beispiel des aserbaidschanischen Schriftstellers Akram Aylisli in den Sinn, der sich in seinem Buch »Steinträume« (2012) mit den Pogromen an den Armeniern Bakus 1989/90 auseinandersetze und dessen Werk in der Folge verboten und teils öffentlich verbrannt wurde.

Mittlerweile darf er wieder veröffentlichen, auch in regierungsnahen Publikationen. Im Fall Aylisli ging es eigentlich darum, dass er in dem Buch »Großer Stau« die Regierung kritisiert hatte, die daraufhin eine nationalistische Kampagne gegen ihn orchestrierte. Das ging in der Debatte unter und dafür tragen übrigens internationale Journalisten eine Mitverantwortung – die müssen doch diese Zusammenhänge kontextualisieren! Natürlich ist es ungerecht, was ihm widerfahren ist, aber wo sind denn armenische Schriftsteller, die etwas Ähnliches schreiben? Dabei brauchen wir mehr Künstler, die sich für Frieden einsetzen. Nicht weniger. Aber man darf das nicht immer nur von einer Seite erwarten.

 

Apropos, reden Sie eigentlich gerne über den Krieg?

Ich mag nicht über den Krieg reden. Ich rede lieber über Korruption. Aber unsere aserbaidschanische Sicht muss auch dargestellt werden. Ein bisschen hängt beides auch zusammen. Unsere Oligarchen lieben es, für viel Geld Organisationen in London oder sonst wo zu gründen, die die aserbaidschanische Sicht auf den Konflikt promoten und Karabach-Konferenzen abhalten. Es wäre sehr viel besser, wenn die das lassen würden. Nur: Abgesehen von Organisationen wie der »The European Azerbaijan Society«: Wo wird denn auf internationalen Foren zu Karabach sonst die aserbaidschanische Perspektive abgebildet? Solange unsere Regierung und unsere Oligarchen nicht dafür bezahlen, ist die internationale Gemeinschaft leider nicht bereit dazu, auch den aserbaidschanischen Blickwinkel einzunehmen. Natürlich geht es auch um Stolz, um unseren Verliererkomplex. Wir haben den Krieg 1994 verloren, viele Menschen leben seitdem in Flüchtlingslagern. Das verschaffte der Regierung eine Ausrede für jegliches Missmanagement. Nun haben wir den Krieg gewonnen.

 

Die Frage des zukünftigen Status von Bergkarabach selbst ist auch nach dem Krieg weiterhin ungeklärt. Viele Armenier würden sagen, dass Aserbaidschan so autokratisch regiert wird, macht es den Armeniern in Bergkarabach doch unmöglich, unter aserbaidschanischer Herrschaft zu leben.

Der Konflikt startete ja nicht mit Ilham Aliyev. Die brutalsten Zusammenstöße fallen in eine Zeit, lange bevor er an die Macht kam. Deswegen lasse ich dieses Argument nicht gelten. Wenn ich es mir recht überlege, handelt es sich sogar um eine Lüge. Es geht in dem Konflikt nicht um Demokratie und Korruption, sondern um Russland, das den Konflikt anheizt, weil es keinen Einfluss in seiner Peripherie verlieren möchte. Und jetzt sind sogar russische Truppen auf unserem Territorium stationiert.

 

»Meine Großmutter hätte alle Gründe gehabt, Armenier zu hassen. Aber sie tat es nicht«

 

Seit 30 Jahren wird auf beiden Seiten Hass gesät. Das macht die Vorstellung eines Zusammenlebens nicht gerade einfacher.

Ich denke, mit der Zeit lässt sich das lösen. Und natürlich lassen mich etwa unsere Schulbücher innerlich zusammenzucken. Die der Armenier sicher auch. Auf der anderen Seite glaube ich auch nicht an diese ganze Propaganda der friedlichen Koexistenz zu Sowjetzeiten. Klar, die Menschen haben Wege gefunden zusammenzuleben. Nur die armenisch-aserbaidschanische Freundschaft, wie sie in Liedern und so weiter beschworen wurde, das ist doch Sowjetpropaganda. Aber wenn ich an meine eigene Familiengeschichte denke...

 

Woran genau?

Der Vater meiner Großmutter wurde 1918, eine Woche nach ihrer Geburt, von armenischen Daschnaken bei Schamaxi getötet. Später heiratete sie einen gutaussehenden und gebildeten Mann, der meine Großmutter später für eine Armenierin verließ. Meine Großmutter hätte alle Gründe gehabt, Armenier zu hassen. Aber sie tat es nicht. Erst als der Karabach-Konflikt in den 1980er Jahren begann, bekam ich ihre Geschichte zu hören. Sie erzählte sie uns, um uns zu beruhigen: Der Hass kommt und geht, aber ihr werdet auch wieder zusammenleben müssen, tut euch also gegenseitig nichts Hässliches an.

 

Wie haben Sie damals reagiert?

Wir waren damals durch die aufkommende armenische Separatistenbewegung in Karabach sehr aufgehetzt und in nationalistischer Hochstimmung. Meine Großmutter konnte weder lesen noch schreiben, aber sie hatte das alles erlebt. Sie erinnerte uns daran, dass man sich 1918 gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hatte und es ein paar Jahre später wieder in Ordnung war, armenische Frauen zu heiraten. Während der Pogrome gegen Armenier in Baku in den 1980er Jahren bat meine Großmutter meinen Vater darum, ihre einstige armenische Nebenbuhlerin im Haus zu verstecken, damit ihr nichts passiert. Sie blieb zwei Monate bei uns. Viele schreckliche Sachen sind zwischen uns und den Armeniern vorgefallen. Sumgait (Anm. der Redaktion: anti-armenisches Pogrom 1988) war schlimm, Khojaly (Anm. der Redaktion: Massaker an aserbaidschanischen Zivilisten im ersten Karabach-Krieg 1992) ebenso. Und so weiter. Dass mit dem Ende der Sowjetunion alle Aserbaidschaner aus Armenien geworfen wurden, hat sicher auch nicht geholfen. Der Hass ist schlimm, aber er hat Ursachen.

 

Welche?

Russland natürlich. Und die armenische Diaspora, die diesen Hass schürt. Mein Bruder ist auf eine russischsprachige Schule gegangen, die Armenier und Aserbaidschaner besuchten. Er erzählte, dass sie auf dem Schulhof immer wieder Armenier gegen Aserbaidschaner spielten; dann prügelten sich die Jungs. Mein Bruder konnte das nicht verstehen. Der Punkt ist: Wir Aserbaidschaner waren nicht Teil des Osmanischen Reiches. Ich verstehe nicht, warum wir Teil des Problems sind. Wir haben die Entscheidungen damals nicht getroffen. Und 1918 sind armenische Banden dann durch den Kaukasus gezogen und haben Aserbaidschaner getötet – aus Rache dafür, was unsere türkischen Cousins den Armeniern angetan haben. Wir nennen uns noch nicht mal selbst Türken.

 

Wenn man hier in Baku durch die Straßen läuft, sieht man überall Flaggen, die die aserbaidschanisch-türkische Freundschaft beschwören.

Klar, wir sind ein Turkvolk. Aber wir werden für etwas bestraft, für das wir nicht verantwortlich sind. Ich denke, der einzige Weg ist, dieses ganze Thema zu begraben und es in Bezug auf Karabach nicht zu erwähnen.


Khadija Ismayilova gilt als eine der bekanntesten Menschenrechtsaktivistinnen Aserbaidschans. 2017 wurde sie mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Ihr Kampf gegen Korruption brachte sie immer wieder ins Visier der Aliyevs. Zwischen 2014 und 2016 saß sie im Gefängnis. Im Zuge der Pegasus-Affäre wurde bekannt, dass auch ihr Handy abgehört wurde. Ein Neffe Ismayilovas fiel im Zuge des zweiten Karabach-Kriegs.

Von: 
Leo Wigger

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