Im Interview mit zenith erklärt Kaukasus-Experte Uwe Halbach, wie moderne Waffensysteme aus dem Ausland sowie der Einfluss internationaler Unterstützer den Bergkarabach-Konflikt anfeuern.
An der Waffenstillstandslinie des Ersten Karabach-Krieges (1991–1994) brachen am 27. September die schwersten militärischen Auseinandersetzungen seit Kriegsende aus. Der anhaltende Konflikt dreht sich um das Gebiet Bergkarabach im Kaukasus. Sowohl Aserbaidschan als auch Armenien erheben historische Ansprüche auf die Region, welche völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Nach dem Zerfall der UdSSR rief Bergkarabach mit seiner mehrheitlich armenischen Bevölkerung jedoch die Republik Artsakh mit der Hauptstadt Stepanakert aus.
zenith: Anfang September 2020 schrieben sie in einem Artikel, dass eine Gewalteskalation aufgrund innenpolitischer Probleme in beiden Ländern unwahrscheinlich sei. Weshalb sind nun neue Gefechte ausgebrochen?
Uwe Halbach: Mein Bericht wurde im Anschluss an die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan im Juli 2020 verfasst, bei denen beide Seiten Tote zu beklagen hatten. Das war einer der schwersten Zwischenfälle an einer Grenzlinie außerhalb der Region Bergkarabach, viele Kilometer nördlich. Dort war die Situation im Juli aber noch relativ ruhig. Seit dem 27. September zeichnet sich an der Waffenstillstandslinie des Ersten Karabach-Krieges eine besorgniserregende Entwicklung der militärischen Auseinandersetzung ab. Es mehren sich die Hinweise, dass es sich um eine der schwersten militärischen Vorkommnisse seit dem Kriegsende 1994 handelt. Zum eigentlichen Beginn der Eskalation sind aber sehr unterschiedliche und propagandistisch gefärbte Informationen aus den Verteidigungsministerien in Baku, Jerewan und Stepanakert zu vernehmen.
Wie soll man sich als Außenstehender zwischen den widersprüchlichen Informationen zurechtfinden?
Man befindet sich hier in einer sehr schwierigen Position, was die objektive Überprüfung der Umstände betrifft. Denn es fehlt ein verlässliches Monitoring an dieser Konfliktlinie. Als Botschafter der »Minsker Gruppe« ist Andrzej Kasprzyk, der seit 1996 in dieser Position ist, für die Beobachtung vor Ort verantwortlich.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa initiierte 1992 die Minsker Gruppe, um eine friedliche Verhandlungslösung für den Konflikt zu finden. 13 OSZE-Mitgliedsstaaten sind unter dem Vorsitz von Russland, Frankreich und der USA daran beteiligt.
Diese Gruppe von Beobachtern besteht aus gerade einmal sechs oder sieben Leuten, die sich nach Voranmeldung an die Waffenstillstandslinie begeben. Und selbst dieses Verfahren ist aufgrund der Pandemie in den letzten Monaten ausgesetzt gewesen. Eine unabhängige Beobachtung der aktuellen militärischen Auseinandersetzungen ist somit unmöglich. Angeblich hat Aserbaidschan eine Gegenoffensive entlang der 250 Kilometer langen Waffenstillstandslinie eingeleitet, nachdem zuvor angeblich armenische Streitkräfte aserbaidschanische Stellungen angegriffen hätten.
Steht ein neuer Krieg im Südkaukasus bevor?
Die Wahrscheinlichkeit für einen neuen Krieg ist heute höher als bei früheren Zwischenfällen. Beide Seiten haben das Kriegsrecht ausgerufen. Armenien hat schon vor Ende August ein Gesetz zur Gründung einer Freiwilligenmiliz für Männer und Frauen unter 70 Jahren auf den Weg gebracht. Auch in Aserbaidschan wird die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich freiwillig zum Dienst zu melden. Dieses Mobilisierungsgeschehen bereitet Sorgen.
»Russland ist bislang auch immer darauf bedacht gewesen, sich von Aserbaidschan nicht zu entfremden.«
Welche Folgen hat die klare Positionierung der Türkei an der Seite Aserbaidschans für andere Länder in der Region? Setzt sie womöglich Russland unter Zugzwang, sich ebenfalls noch deutlicher zu positionieren?
Das ist möglich. Bislang hat Russland im Karabach-Konflikt versucht, die Balance zu wahren. Moskau unterhält eine strategische Partnerschaft mit Jerewan, die Armenien sicherheitspolitisch eng an Russland bindet. Armenien ist auch Teil der von Russland dominierten »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit« (OVKS). Andererseits ist Russland bislang auch immer darauf bedacht gewesen, sich von Aserbaidschan nicht zu entfremden und nicht in Konfrontation mit Baku zu geraten. Diese Haltung beinhaltet auch Waffenlieferungen an beide Konfliktparteien.
Könnte sich Russlands Kalkül nun ändern?
Derzeit gehört Russland zu den Akteuren, die beide Seiten eindringlich zu Zurückhaltung und Dialog auffordern. Ähnlich wie es die EU, Stimmen aus den USA und die meisten internationalen Akteure tun. Schon bei den Auseinandersetzungen im Juli kursierten jedoch Spekulationen darüber, ob sich hier ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei abzeichnen könnte.
Wie er ja auch in anderen Regionen ausgefochten wird.
Ja, zum Beispiel in Libyen, wo beide Seiten unterschiedliche militärische Kräfte unterstützen. Bislang hat Russland aber Wert darauf gelegt, mit der Türkei nicht aneinander zu geraten – mit einer Ausnahme: Ende 2015 nach dem Abschuss eines russischen Militärflugzeuges durch türkische Luftabwehr im Grenzgebiet zu Syrien. Die Problematik wurde 2016 durch eine Entschuldigung Erdoğans beigelegt. Seitdem wurde versucht, ein nicht konfrontatives, pragmatisches Verhältnis zueinander zu finden. Das könnte nun schwieriger werden, da sich die Türkei so deutlich wie nie zuvor auf der aserbaidschanischen Seite positioniert hat.
Wären Russland und die Türkei nicht auch jene Länder, die die Lage am ehesten deeskalieren könnten?
Von diesen beiden Akteuren hängt sehr viel ab. Wenn sie sich zusammentun, würden sie wahrscheinlich mehr Einfluss haben als die OSZE. Russland hat sich bereits als ein Hauptmediator im Karabach-Konflikt etabliert und hält den Co-Vorsitz der Minsker Gruppe. Aber nach einer Annäherung zwischen Moskau und Ankara sieht es im Moment nicht aus.
»Aus aserbaidschanischer Sicht war Armeniens alte Elite ein Karabach-Clan.«
Welche Bedeutung spielen moderne, aus dem Ausland gelieferte Waffensysteme und welche Gefahren birgt die Aufrüstung?
Wenn es wirklich zu einem zweiten Karabach-Krieg käme, dann würde der wahrscheinlich auf einem ganz anderen militärischen Niveau ausgetragen werden als der erste Krieg in den 1990er Jahren. Denn gerade in den vergangenen Jahren erlebt diese Konfliktzone eine erhebliche Militarisierung.
Woran lässt sich die festmachen?
Aserbaidschan hat wie kaum ein anderer nachsowjetischer Staat aufgerüstet und Waffenlieferungen in erheblichem Umfang aus dem Ausland erhalten, darunter auch hochmoderne Waffen aus Israel. Israel ist Aserbaidschans zweitgrößter Waffenlieferant nach Russland. Umgekehrt hat auch Armenien im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit Russland Waffensysteme erhalten, die im ersten Karabach-Krieg noch nicht im Einsatz waren, zum Beispiel die Iskander-Raketen. Die armenische Seite hat erst am 29. September erklärt, dass sie diese Boden-Boden-Raketen im Falle weiterer aserbaidschanischer Angriffe auch einsetzen werde.
Anfang 2019 wurde noch vom »Jahr des Durchbruchs« gesprochen. Warum war damit schon im Frühjahr 2019 Schluss?
Diese kurze Phase der Entspannung dauerte von Anfang September 2018 bis Frühjahr 2019. Das hatte auch etwas mit dem Machtwechsel in Armenien zu tun. Aus aserbaidschanischer Sicht war die alte Elite ein Karabach-Clan. Die vorherigen Präsidenten wie Serzh Sargsjan und Robert Kotscharjan hatten in Karabach administrative und militärische Positionen inne. Nach dem Machtwechsel verkündete der neue Premierminister Nikol Paschinjan, er sei für Karabach nicht zuständig und könne nur für Armenien sprechen. Später hat er seine Aussagen zu Bergkarabach wieder viel »patriotischer« formuliert. Und zwar mit dem Satz: »Karabach ist Armenien.« Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew konterte und erklärte: »Karabach ist Aserbaidschan«.
Deeskalation klingt anders.
Der Ton wurde wieder rauer und führte zu einem konfrontativen Verhalten, das sich im Juli abgezeichnet hat und das jetzt in eine der schwersten Konfrontationen in diesem Konflikt überhaupt mündete. Seit Juli häuften sich Auseinandersetzungen und gegenseitigen Beschuldigungen. Baku etwa beklagte die steigenden Waffenlieferungen von Russland an Armenien. Umgekehrt hat Jerewan Aserbaidschans Militärübungen zwischen Ende Juli und Anfang August 2020 kritisiert, an denen maßgeblich türkische Streitkräfte beteiligt waren.
Denn die gingen über das hinaus, was vorher an gemeinsamen militärischen Manövern stattgefunden hatte. Sie führten zum Beispiel nach Nachitschewan – einer Exklave Aserbaidschans in der Nähe von Jerewan. Der armenische Botschafter in Moskau behauptete, dass 4.000 Kämpfer aus Nordsyrien von der Türkei aufgerufen wurden, sich Richtung Kaukasus zu begeben – um auf aserbaidschanischer Seite zu kämpfen. Inwieweit nun wirklich Söldner oder Freiwillige, zum Beispiel auch aus Syrien, auf beiden Seiten beteiligt sind, ist sehr schwer zu beurteilen. Aber die Hinweise darauf mehren sich.
»Denn alle diese Pipelines könnten natürlich auch ein Angriffsziel für armenische Truppen sein.«
Welche Rolle spielen die Öl- und Gasvorkommen in Aserbaidschan in dem Konflikt?
Es steht die Frage im Raum, wie es mit den Erdöl- und Erdgaslieferungen vom Kaspischen Meer weitergehen wird. Die führen von Aserbaidschan über Georgien und die Türkei nach Europa. Denn alle diese Pipelines könnten natürlich auch ein Angriffsziel für armenische Truppen sein. Darauf hat Armenien auch immer wieder hingewiesen.
Wie geht es nun weiter?
Ob eine Eindämmung der Situation wie in früheren Fällen möglich ist, ist schwer zu sagen. Zum Beispiel wie im April 2016, als über 200 Tote zu beklagen waren und die internationale Gemeinschaft sehr deutlich reagierte und Russland als Vermittler einschritt. Es sieht aber nicht sehr gut aus, was diese Eindämmungsmöglichkeit im Moment betrifft. Dennoch haben Stimmen aus allen Teilen der Welt zum Dialog aufgerufen, darunter selbst China und der Papst.
Wie stehen die Chancen, dass Deeskalationsversuche Erfolg haben?
Die Frage ist, ob sie zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt greifen können, ob sie die Konfliktparteien wirklich zur Zurückhaltung bringen können, wie bei früheren Vorfällen. Insbesondere, weil dieses Mal ein externer Akteur wirklich Öl ins Feuer gießt und sich nicht einordnet in den Chor derer, die Zurückhaltung anmahnen. Und das ist die Türkei.
Uwe Halbach gilt als einer der führenden Kaukasus-Experten in Deutschland. Seit 2001 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.