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Israel, der Westen und der Gaza-Krieg

Die Erledigung der palästinensischen Frage

Essay
Israel, der Westen und der Gaza-Krieg
GPO

Aus Sicht der israelischen Regierung gibt es keine palästinensische Nation. Und ihr scheint jedes Mittel recht zu sein, dass es dabei bleibt – auch wenn es den gesamten Nahen Osten in den Abgrund reißt.

In Deutschland und in den Israel zugewandten Kernstaaten des Westens wird der Gaza-Krieg in der Regel damit gerechtfertigt, dass sich hier ein angegriffenes Land gegen eine existenzbedrohende Terrororganisation verteidigt. Dieser Glaubenssatz ist zentral, weil er letztlich auch extreme Zerstörungen und Kollateralschäden rechtfertigt. Gaza nach dem Krieg gleicht einer Trümmerlandschaft, schlimmer noch als der Anblick europäischer Städte nach den Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs.

 

Einer nüchternen Betrachtung hält der Glaubenssatz dabei nicht stand. Man mag der Hamas zuschreiben, dass sie Israel vernichten will. Die Intention sagt aber nichts über die Fähigkeit aus, diesen Willen auch in die Tat umzusetzen. Eine realistische Analyse der Kräfteverhältnisse zwischen einer zwar motivierten, aber militärisch stark beschränkten Miliz auf der einen und einer hochgerüsteten Atommacht auf der anderen Seite muss zu dem Ergebnis kommen, dass von einer Existenzbedrohung Israels kaum auszugehen ist.

 

Das, was der Hamas am 7. Oktober 2023 militärisch »gelungen« ist, ist nicht ihren vermeintlich überlegenen militärischen Fähigkeiten, sondern primär Israels sicherheitspolitischen Versäumnissen zuzuschreiben. Aus diesem Grund ist Armeechef Herzi Halevi Anfang März zurückgetreten. Premierminister Benyamin Netanyahu hat einen Rücktritt dagegen bis heute ausgeschlossen. Dies ist nur konsequent. Denn politisch läuft für ihn alles nach Plan.

 

Netanyahu erfand das Management der palästinensischen Frage. Denn wer sie managte, musste sie nicht mehr beantworten

 

Der Krieg, den Israel seit Oktober 2023 in Gaza führt, ist letztlich kein Krieg gegen die Hamas. Die Zerstörungen gehen weit über das militärisch Notwendige hinaus. Israel hat sich nie um eine politische Alternative zur Terrororganisation bemüht. Obwohl es zu den Grundwahrheiten des Antiterrorkampfes gehört, dass dieser nur erfolgreich sein kann, wenn den Gewalttätern auch ideell der Boden entzogen wird. Aus Sicht der israelischen Rechten scheint der Gedanke an einen Tag danach abwegig. Der Gegner, den es zu vernichten gilt, ist nicht die Hamas, der die Art der Kriegsführung Tausende neue Kämpfer zugeführt hat. Bekämpft wird das palästinensische Nationalprojekt.

 

Aus Sicht der israelischen Rechten war die Hamas nie eine existenzielle Bedrohung. Sie war vielmehr der Wunschgegner. Folgerichtig bezeichnete Netanyahu die islamistische Organisation als »Trumpf« gegenüber seinen eigenen Anhängern. Das war vor dem 7. Oktober 2023. Es sei daran erinnert: Netanyahus ganze politische Existenz fußt auf der Verhinderung palästinensischer Staatlichkeit. Sie ist der strategische Fixpunkt seiner gesamten Politik.

 

Die Hamas war ein Trumpf, denn ihre bloße Existenz lieferte ihm das Hauptargument, die Verhandlungen mit den Palästinensern seit nunmehr anderthalb Jahrzehnten auszusetzen. Während die Europäer noch an der Chimäre der Zweistaatenlösung festhielten, war für den israelischen Premier der Status quo der Unterdrückung und Besatzung längst zum Endzustand geworden. Netanyahu erfand das Management der Palästinafrage. Denn wer sie managt, braucht sie nicht mehr zu beantworten.

 

Der politische Preis für diese Strategie war lange Zeit gering. Rhetorische Proteste des Westens einerseits gingen einher mit einem massiven Ausbau der Zusammenarbeit andererseits. Mit den Abraham-Abkommen räumte Netanyahu auch mit dem Irrglauben auf, ein Frieden mit den Palästinensern sei Voraussetzung für eine Annäherung an die arabische Welt. Erst der 7. Oktober, als die Hamas die nahezu unbewachte Grenze durchbrach, entlarvte das Märchen vom erfolgreichen Management. Der Preis war nun messbar – in Blut und Geiseln. Netanyahu stand vor dem Scherbenhaufen seiner Politik – aber nur auf den ersten Blick.

 

Zum Entsetzen der israelischen Rechten hat der ausbrechende Krieg die Palästinafrage, die lange Zeit an den Rand gedrängt worden war, wieder auf die internationale Tagesordnung gesetzt. Statt ihrer bloßen Verwaltung wurde plötzlich wieder ihre Lösung gefordert. Aufzugehen schien also zunächst das perfide Kalkül der Hamas, sich durch Gewalt politisch in die Vorderhand zu bringen. Doch das sollte sich als Pyrrhussieg herausstellen. Denn auch Israel versetzte die Zielgerade. Zur Überraschung nicht zuletzt der Hamas war es ein anderer Staat, der sich da offenbarte und der diesen Kampf wesentlich brutaler und skrupelloser führte als je zuvor. Das Ziel war nicht mehr die Verwaltung, sondern die Abwicklung der palästinensischen Frage.

 

Wer den Nahen Osten kennt, weiß: Nichts ist permanenter als temporäre Lösungen

 

Die Idee einer »Umsiedlung« entstand keineswegs zuerst im Weißen Haus unter Donald Trump. Schon früh in diesem Krieg gab es Überlegungen zu ethnischen Säuberungen, zunächst in ideologischer Nähe zur israelischen Regierung, dann auch aus ihren Reihen selbst. Noch war die Rede von einem temporären Arrangement, quasi als Notwendigkeit des Krieges.

 

Doch wer den Nahen Osten kennt, weiß: Nichts ist dauerhafter als Provisorien. Die Logik: Der sicherste Weg, eine wie auch immer geartete künftige palästinensische Souveränität zwischen Mittelmeer und Jordan zu verhindern, ist die Ausweisung der Palästinenser aus diesem Gebiet. Was sich nicht managen lässt, muss verschwinden.

 

Auch diese Debatte ist natürlich nicht neu. Sie hat jedoch nach dem 7. Oktober in Israel eine dominante Stellung eingenommen. Bezeichnend dafür ist das Wiederaufleben des Nakba-Begriffs in der innerisraelischen Debatte. Handelte es sich zuvor eher um eine Art Nakba-Leugnung, so häuften sich nun die Äußerungen führender Politiker und Kommentatoren, die ein Nakba-Revival androhten. Die Idee des »Transfers«, also der Massenvertreibung, war jahrzehntelang den radikalen Kahanisten vorbehalten. Mit dem Eintritt dieser Extremisten in die Regierung Netanyahu ist sie nun Teil des Mainstreams. Bis weit in die Dauerregierungspartei Likud und sogar in die politische Mitte hinein werden solche Gedanken artikuliert.

 

Trumps Idee eines Gaza ohne Palästinenser ist für das israelische Denken keineswegs neu. Sie wird aber auch deshalb von der Rechten so enthusiastisch begrüßt und selbst von bekennenden Zentristen wie Yair Lapid und Benny Ganz als Diskussionsgrundlage geadelt, weil erstmals ein derart radikales Szenario auch von der Welt-und Schutzmacht USA positiv sanktioniert wird.

 

Die Palästinenser haben zwar die globale Schlacht um die Meinungshoheit gewonnen. Sie stellen nun aber fest: Die globale Meinung hat keine Kavallerie

 

Mit der erneuten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ist die vom Hegemon einst garantierte und noch vor wenigen Monaten viel beschworene regelbasierte Ordnung auch offiziell am Ende. Wer darüber Krokodilstränen vergießt, sei daran erinnert, dass diese Normen in den Augen der außereuropäischen Welt bereits zuvor in Gaza zu Grabe getragen wurden. Trump beerdigt keine funktionierende Ordnung, sondern eine längst zerfledderte. Das Ende des liberalen Westens, und das sollte vor allem der pro-palästinensischen Bewegung bewusst sein, bedeutet auch, dass man ihm nun keine Heuchelei mehr vorwerfen kann. Wo es keine Werte mehr gibt, kann man die Ordnung auch nicht mehr des Verrats bezichtigen.

 

Wir erleben einen Paradigmenwechsel. Grenzen verschieben, Völker vertreiben – all das, was in der postkolonialen Doppelordnung der Nachkriegszeit geächtet schien, ist wieder denkbar. Nicht nur, weil Wladimir Putin es vormacht, sondern auch, weil der liberale Westen zerfällt. Die Israelis haben das früh erkannt. Schien das Land mit seinem Besatzungs- und Siedlungsregime im Westjordanland noch vor Kurzem ein Anachronismus inmitten eines liberalen Westens zu sein, so stellt es heute die Avantgarde einer neuen Generation von Rechtspopulisten, die von Washington über Buenos Aires bis nach Amsterdam und Budapest in Erscheinung treten. Die Internationale der Rechtspopulisten eint ihre Begeisterung für Israel. Das Land gilt als Frontstaat im Kampf gegen islamische Barbarei und unkontrollierte Einwanderung. Längst kultiviert auch Tel Aviv die neuen Verbündeten.

 

Ob ein so radikales Unterfangen wie die Vertreibung aus Gaza gelingen kann, hängt letztlich von den globalen Machtverhältnissen ab. Und hier stehen die Sterne für Netanyahus ideologische Koalition günstiger denn je. Zur Wahrheit gehört: Die Palästinenser haben zwar den globalen Kampf um die Meinungshoheit gewonnen. Aber sie stellen jetzt fest: Die globale Meinung hat keine Kavallerie. Der Internationale Strafgerichtshof übrigens auch nicht.

 

Empörung lässt sich nicht in harte politische Macht übersetzen. Für weite Teile der ehemaligen Dritten Welt ist Palästina zwar die ideale Projektionsfläche, um ihren Ressentiments gegen den Westen freien Lauf zu lassen. Anders als die Ukraine, die als innereuropäische Angelegenheit betrachtet wird, ist Gaza also ein wirklich globaler Konflikt. Aber dafür politische Risiken eingehen? Dazu ist kaum jemand bereit.

 

Die Liquidierung der palästinensischen Frage ist somit ein Spiel mit dem Feuer. Sie gefährdet die Stabilität der Regime, in Kairo ebenso wie in Riad und Amman

 

Was Israel an internationalem Ansehen verloren hat, hat es politisch und militärisch wieder wettgemacht. Zu keinem Zeitpunkt wurde die militärische Unterstützung Tel Avivs durch die westlichen Kernstaaten ernsthaft infrage gestellt. Den Preis für die Kriegsverbrechen in Gaza zahlte nicht Netanyahus rechteste Regierung aller Zeiten, sondern Joe Biden und Olaf Scholz. Sie zerstörten die Glaubwürdigkeit westlicher Völkerrechtstreue. Die arabischen Staaten beließen es bei blumigen Empörungsdepeschen. Kein Friedensvertrag mit dem jüdischen Staat wackelte auch nur im Geringsten.

 

Ölembargos galten als Relikt der Vergangenheit. Die vielen UN-Abstimmungen, die paar Dutzend diplomatischen Anerkennungen Palästinas? Auch sie blieben realpolitisch fast völlig folgenlos. Die Hamas hingegen hat mit ihrer Fehlkalkulation ein Volk von Obdachlosen, Verletzten und Ausgebombten geschaffen. Hunderttausende irren noch immer traumatisiert durch die Trümmer. Die eigenen Verbündeten, allen voran Iran und Hizbullah, haben sich für ihre bestenfalls alibihafte militärische Solidarität eine blutige Nase geholt. Beide dürften künftig aus der militärischen Gleichung um Palästina ausgeschieden sein.

 

Die aus seiner Sicht erfolgreiche militärische Gewaltlogik in Gaza hat Israel nun auch im Westjordanland zu einem noch brutaleren Vorgehen ermutigt. Schon jetzt erlebt der Norden der Besetzten Gebiete die größte Vertreibungswelle seit 1967. Mehr als ein folgenloses Wehklagen der Weltgemeinschaft ist nicht zu erwarten. Wer glaubt, auch hier sei das Fernziel keine ethnische Säuberung, wird sich noch die Augen reiben.

 

Der Erledigung der Palästinafrage stehen noch formidable Hindernisse im Weg. Trump ist zwar skrupellos und weitgehend wertefrei, aber anders als Biden steht seine merkantilistische »America first«-Logik der Aufopferung eigener Interessen für Israel entgegen. »Wer zum Teufel ist hier die Supermacht?«, fragte Bill Clinton in den 1990er-Jahren verblüfft nach seinem ersten Treffen mit dem damals noch jungen Premier Netanyahu. Für Trump stellt sich diese Frage nicht. Es gibt auch keine neokonservative Transformationsmission mehr. Militärisch hat sich Israel bei den Amerikanern viel Bewunderung erworben – geliefert wird nun alles, was geht. Alles scheint möglich, solange die USA selbst nicht hineingezogen werden.

 

Das Einzige, was die Palästinenser noch schützt, sind die Panzer der ägyptischen Armee. Sie stehen zu Tausenden im Sinai. Nicht, weil den arabischen Herrschern das Brudervolk wirklich am Herzen läge. Der Panarabismus ist tot; mit dem Elend von Gaza in Verbindung gebracht zu werden, widert die Potentaten an. Hinter vorgehaltener Hand herrscht Genugtuung über das, was Israel der Hamas antut. Denn die Islamisten und Muslimbrüder gelten den arabischen Potentaten als einzige Bedrohung ihrer eigenen Macht. In Sachen Palästina sind sie jedoch Getriebene ihrer Völker. Denn für die ist die Solidarität mit Palästina ein ehrliches Anliegen und kein Relikt einer vergangenen Ideologie. Und selbst der saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman, als Hüter der heiligen Stätten auch primus inter pares der muslimischen Welt, kann nicht völlig gegen sein Volk regieren.

 

Die Erledigung der palästinensischen Frage ist ein Spiel mit dem Feuer. Sie gefährdet die Stabilität der Regime, in Kairo ebenso wie in Riad und Amman. Die Klügeren in Israel werden das verstehen. Denn ihnen liegt an der berechenbaren autoritären Stabilität und nicht dem Furor, der sich danach Bahn brechen könnte. Längst sieht es jedoch so aus, als habe die Disruption die Hasardeure in die Vorderhand gebracht. Derzeit geschehen Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte.

 

Die Palästinenser hingegen stehen am Rande ihrer Existenz. Gaza ist das Fanal, dem das Westjordanland folgen könnte. Ihre Eliten sind zerstritten, zersplittert und führungslos. Der verkrusteten Fatah mit ihrer delegitimierten, handlungsunfähigen Autonomiebehörde steht eine Hamas gegenüber, die in ihren eigenen Wahnvorstellungen gefangen ist. Gegen eine bis an die Zähne bewaffnete Atommacht gibt es keinen erfolgreichen bewaffneten Kampf. Jede Gewalt ist hier nur eine Einladung zu hemmungsloser Gegengewalt. Und so bleibt die Hamas bis heute der größte Trumpf der israelischen Rechtsradikalen.


Marcus Schneider leitet das FES-Regionalprojekt für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten mit Sitz in Beirut.

Von: 
Marcus Schneider

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