Israel ist eine regionale Supermacht. Seine politische Kultur aber passt sich dem Nahen Osten immer weiter an. Über drei Trends, die die Lage maßgeblich verändern.
Vor rund 15 Jahren, am 18. März 2008, trat die damalige Bundeskanzlerin vor die Knesset und sprach von der historischen Verantwortung Deutschlands für Israels Sicherheit. Diese sei »Teil der Staatsräson« ihres Landes. Der Begriff wurde zur Doktrin und entwickelte ein Eigenleben. Deutsche Politiker verwenden ihn heute wie selbstverständlich – und meistens unreflektiert. Er ist sogar in den Koalitionsvertrag der Ampel eingegangen. Damals fragten sich viele, was Merkel mit diesem eher vordemokratischen Begriff gemeint haben könnte.
Die Historiker dachten unwillkürlich an den Barock-Kardinal Richelieu (17. Jh.) oder die kluge, aber reaktionäre Machtpolitik des Fürsten Metternich (19. Jh.). Staatsräson hieß, dass sich die Herrschaft nicht der Moral, sondern der Ordnung – also einer höheren Moral – verpflichtet fühlt. Wenn man dafür intrigieren oder gar einen politischen Mord in Auftrag geben musste, trug man die Last des Gewissens mit feierlicher Würde.
Staatsräson ist etwas, das man aus höherem, nationalem Interesse tut – und zwar über die eigenen deklarierten Werte, Prinzipien und Maßstäbe hinweg. Bei Staatsräson ist die Debatte beendet, Interessen wurden hinreichend abgewogen, Entscheidungen getroffen. Man erläutert sie nicht, denn weder das Volk noch dessen gewählten Vertreter haben das Herrschaftswissen, um sich ein Urteil bilden zu können. In der Rückschau muss man anerkennen: Gleich ob Merkel en detail erfasste, was Staatsräson bedeutet oder was gemeint sein könnte, hat niemand die deutsche Haltung zu Israel, dem Nahostkonflikt und der israelisch-palästinensischen Frage passender beschrieben als sie (auch wenn es damals nicht um Palästina, sondern um Iran und das Atomprogramm ging).
Deutsche Israel-Politik hat seit den 1950er-Jahren viele Aspekte des Begriffes Staatsräson berührt. Oft anders, als es hierzulande mitunter zu lesen ist. Die Bundesrepublik unterwarf sich nicht etwa den Interessen Israels, schon gar nicht, weil sie Schuldgefühle hatte. Sie sah in einer mit den Worten »Aussöhnung« oder »Wiedergutmachung« garnierten Annäherung an den jüdischen Staat nicht zuletzt ein Mittel, wieder salonfähig zu werden: als Mitglied des atlantischen Bündnisses und der westlichen Welt. Das Bekenntnis, aus der Vergangenheit gelernt zu haben und sie auch niemals zu vergessen, wurde mit der Zeit zum Katechismus deutscher Politik. Stellt man ihn in Frage, steht man außerhalb der civitas.
Heute müsste Deutschland hoffen, dass es Israel mit der Staatsräson genauso hält
Wer die Akten der deutschen Zeitgeschichte studiert, gewinnt keinesfalls den Eindruck, als wären Deutschlands Mächtige mehrheitlich, wie es Heiko Maas bei seinem Antritt als Minister im Auswärtigen Amt erklärte, »wegen Auschwitz in die Politik gegangen«. Sie profitierten von der Annäherung zu Israel. In der veröffentlichten Meinung mochte es anders aussehen: Viele Deutsche der Nachkriegsgeneration wollten ehrlich etwas besser machen. Bei anderen konnte die Euphorie für Israel und alles Israelische geradezu neurotische Züge annehmen: als deutsch-deutsche Therapie, als Suche nach Erlösung von den eigenen Dämonen.
Merkels Begriff von der Staatsräson ist heute hochaktuell und beschreibt auch die deutsche Haltung zur Regierung Netanyahu trefflich. Denn diese ist mit den sonstigen erklärten Zielen und Leitlinien deutscher Außenpolitik großenteils unvereinbar – seien es Transparenz, Glaubwürdigkeit, Rechenschaft (»Accountability«), Menschenrechte oder auch die neu hinzugekommene »feminist foreign policy«, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurde und deren Leitlinien die Außenministerin jüngst präsentierte.
Dass diese wertgeleitete Außenpolitik im Nahen Osten – gelinde gesagt – große Diskrepanzen offenbart, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Natürlich darf der Bundeskanzler, wie jüngst geschehen, Netanyahu in Berlin empfangen, trotz dessen Politik, die große Teile der Zivilgesellschaft als Angriff auf die israelische Demokratie empfinden. Berlin empfängt schließlich auch Figuren wie den aserbaidschanischen Potentaten Ilham Aliyev oder Ägyptens Abdul-Fatah Al-Sisi mit ganz großem Besteck. Drastischer als bei diesen Fällen wird allerdings deutlich, wie sich die Erzählung der deutschen Politik in einem Parallel-Universum eingerichtet hat, denn im Falle Israels wird stets mit höheren Beweggründen wie etwa Verantwortung oder Freundschaft argumentiert. Nicht mit Interessen.
Je mehr allerdings die politische Realität in Israel nahöstliche Züge annimmt, desto mehr muss man sich fragen, ob die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten überwiegen. In Israel treten seit längerer Zeit Symptome auf, die man gemeinhin mit instabilen arabischen Staaten in Verbindung bringt: Eine Regierung sägt an den Fundamenten der Gewaltenteilung. Religiöse und ultranationalistische Milizen greifen andere ethnische Gruppen an. Sie operieren dabei zum Teil mit Billigung staatlicher Organe und werden angeheizt von Mitgliedern der Regierung, auch wenn diese sich von den Taten distanziert. Politiker klammern sich an die Macht, um Strafverfolgung durch die Justiz zu entgehen, und schmieden dafür Allianzen mit Extremisten. Sie verbreiten mitunter Verschwörungstheorien, wonach ausgerechnet Europa schuld daran sein soll, dass die Zivilgesellschaft protestiert.
Jünger, diverser, feministischer, vielleicht aber auch ein bisschen feiger
Nun ist der Streit um die sogenannte Justizreform in Israel nicht unbedingt Deutschlands Angelegenheit. Die israelische Regierung könnte mit einigem Recht sagen, dass Israel nicht Teil der EU oder anderer gemeinsamer Systeme ist, welche fremden Staaten eine Mitsprache erlaubt. Wenn man Israel wie in der deutschen Politik üblich tatsächlich als einzige Demokratie im Nahen Osten ansieht, sollte man den Israelis zutrauen, mit dieser Lage selbst fertig zu werden. Es mochte ein ungünstiger Zeitpunkt gewesen sein, Netanyahu mit einem internationalen Treffen den Rücken zu stärken, mit Sicherheit aber war es kein Beitrag zur Abschaffung der israelischen Demokratie.
Im Gegensatz dazu ist die mit Unterdrückung und Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung einhergehende Besatzung unstrittig auch eine internationale Angelegenheit. Hierzu schweigt die deutsche politische Führung überwiegend – auch Abgeordnete und Kabinettsmitglieder, die in sozialen Medien sonst sehr leutselig auftreten. Bei Gipfeltreffen betet man pflichtschuldig Kritikpunkte und Bedenken herunter, ansonsten verbirgt man sich hinter bürokratisch verfassten diplomatischen Erklärungen, die in der Regel »Besorgnis« über den Ausbau von Siedlungen, den Anstieg von Gewalt und den routinemäßigen Schusswaffengebrauch gegen Bewohner der Palästinensischen Gebiete zum Ausdruck bringen sollen. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Die Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit der deutschen Außenpolitik zum Nahostkonflikt erklärt sich auch aus drei jüngeren Entwicklungen, die parallel verlaufen, ohne dass sie ursächlich zusammenhängen.
Zum einen das Kräfteverhältnis: Noch immer hält sich hartnäckig das Narrativ eines kleinen Staates Israel, der wie David gegen Goliath in einem Meer von Feinden täglich um das Überleben kämpft. Deutschland fühle sich daher historischen Gründen verpflichtet, diesem David vorbehaltlos beizustehen, und wolle keinen Druck ausüben. Mit der Realität hat das nicht mehr viel zu tun. Israel hat mittlerweile mehr Einwohner und größeres BIP als etwa Österreich.
Das Land ist eine regionale Supermacht mit großen militärisch-technologischen Kapazitäten. Selbst die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain, beide am Persischen Golf gelegen, stellen sich inzwischen unter Israels Schutz. Jerusalem macht seine eigene Außenpolitik – etwa gegenüber Russland – und ist im Zweifel auch bereit, europäische oder sogar amerikanische Interessen zu durchkreuzen, wenn dies für notwendig befunden wird.
Deutschland liefert Israel zwar U-Boote mit Torpedoschächten, um Israels nukleare »Zweitschlagfähigkeit« zu sichern. Ansonsten aber sind es heute wohl die Deutschen, die hoffen müssten, dass Israel es mit der »Staatsräson« genauso hält: Im Fall eines militärischen Konflikts bräuchte Deutschland eher Israels Hilfe als umgekehrt – die Bitten um Lieferung des Raketenabwehrsystems »Iron Dome« an die Ukraine und die Berichte über israelischen Kapazitäten zur Abwehr von Cyber-Attacken legen das jedenfalls nahe. Deutschland hat also durchaus Interesse an einer Allianz mit Israel – auf der Empfängerseite.
Die zweite Entwicklung liegt im Wandel der politischen Kultur in Israel. Nicht nur geografisch, auch politisch liegt Israel auf halber Strecke zwischen Budapest und Bagdad. Einerseits greifen die auch in Europa und der Mittelmeerregion bekannten Auswirkungen identitärer, rechtspopulistischer Tendenzen, andererseits zeichnet sich eine Akklimatisierung an die Verhältnisse im Nahen Osten ab: Politische Instabilität durch Zersplitterung von Parteien, Unterwanderung von Militär und Sicherheitskräften durch religiöse und ultranationalistische Netzwerke und eine Verrohung der Rhetorik, die Tabus systematisch aufweicht, deuten darauf hin. Diese Entwicklung ist nicht irreversibel und die israelische Zivilgesellschaft begehrt gegen sie auf. Sie steht allerdings im krassen Widerspruch zu dem Idealbild, an das sich viele »Freunde« Israels klammern: dem einer freien, liberalen, säkularen Demokratie, die auch als Besatzungsmacht noch rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt.
Manche Aktivisten wurden schon der israelischen Botschaft peinlich. Aber wer verprellt schon gerne seine Unterstützer?
Der dritte Faktor ist schließlich der Wandel in der deutschen politischen Landschaft. Ein Generationenwechsel findet statt. Die deutsche Politik ist jünger, bunter, diverser, feministischer, aber wohl auch ein bisschen feiger. Politische Karrieren mancher Abgeordneter – und Regierungsmitglieder – sind noch nicht gefestigt. Der israelisch-palästinensische Konflikt eignet sich da nicht als Profilierungsfeld. Man muss gut vorbereitet sein, viel wissen und damit rechnen, dass man es mit Kritikern zu tun bekommt, die im besten Fall gut informiert, im schlechtesten dreist oder gar fanatisch auftreten.
Die Mehrheit der jungen oder erstmaligen Abgeordneten im Bundestag ist mit dem diffusen Gefühl sozialisiert, dass man sich hier leicht die Finger verbrennen kann. Ganz sicher aber nichts gewinnen. Man wägt ab und hält, soweit es möglich ist, die Klappe. Das gilt auch – oder besonders – für die wachsende Zahl an Parlamentariern mit »Migrationshintergrund«, die unter besonderer Beobachtung zu stehen glauben. Schließlich könnte man ihnen Sympathien für Islamisten oder »BDS« unterstellen – oder gar, dass sie die fundamentale Logik der deutschen historischen Verantwortung nicht verstanden hätten.
Viele Abgeordnete, darunter auch Mitglieder der Regierung, hängen am Tropf der sozialen Medien, wo man sich vor tatsächlichen – oder auch nur als solche empfundenen – Kampagnen fürchtet. Die Meinung der Bevölkerung ist dabei weniger erheblich. Es gilt, was im kurzen feedback loop von politischen Verbündeten und Gegnern, Journalisten und sogenannten Twitter-Aktivisten (was so ziemlich jede und jeder werden kann) hin- und hergeschossen wird. Im Netz zählen nicht Mehrheiten, sondern Eindrücke, die man leicht herstellen, aber schlecht zerstreuen kann. In dieser Lage handeln mitunter selbst Menschen mit einer grundsätzlich pro-israelischen und pro-jüdischen Einstellung nach einer einfältigen, nachgerade antisemitischen Verschwörungslogik: Sie fürchten die Macht einer jüdischen oder israelischen Lobby und hoffen, deren Sympathie für sich zu gewinnen oder mindestens nicht auffällig zu werden.
Zwar betreibt Israel mit einer Vielzahl von Organisationen ein effizientes und mehr oder weniger professionelles System der strategischen Kommunikation (hasbara) und geht nicht zimperlich mit Kritikern der Besatzungspolitik im Ausland um. Ausnahmen bestätigen auch da die Regel. Die Vergiftung des Diskurses geht hierzulande allerdings nicht primär von diesen aus, sondern von Deutschen, die sich ermächtigt fühlen, zu entscheiden, was gut für israelische oder gar jüdische Interessen sei.
Diese Aktivisten betrachten sich als Vorhut Israels im Meinungskampf und betreiben ihr Hobby mit beachtlicher Ausdauer und Hartnäckigkeit. Ihre Motivationen mögen divers sein, ihre Argumentationsmuster ähneln allerdings einander und gehen oft einher mit einer großen Empathielosigkeit für die palästinensische Bevölkerung. Vielleicht tut es ja gut, in einer sonst so komplexen Welt wenigstens einmal vorbehaltlos für eine Sache einstehen zu können, ohne mit den Widersprüchen der eigenen Haltung konfrontiert zu werden – ein Gefühl, das sonst Fußball-Ultras in der Fankurve vorbehalten bleibt. Sogar manchem diplomatischen Vertreter Israels in Deutschland wurden solche Aktivisten schon peinlich, allerdings möchte man ja auch nicht seine treusten Fans verprellen.
Im Spektrum deutscher Israel-Politik überwiegt also – leicht verkürzt gesagt – ein Zusammenspiel aus drei Strömungen: kühlen Vertretern der Staatsräson, solchen, die im deutsch-israelischen Verhältnis Erlösung suchen, und einer wachsenden Zahl derer, die um die zuvor beschriebenen Mechanismen einen großen Bogen machen oder sie gar nicht erst begreifen. Interessant ist dabei, dass viele ausländische Beobachter, nicht nur in Israel, sondern selbst in der arabischen Welt, diese Zusammenhänge inzwischen besser zu verstehen scheinen als die Deutschen selbst.