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Israel, Polen und der Holocaust

Rechts über Bande

Analyse
Israel, Polen und der Holocaust
Israel Ministry of Foreign Affairs

Der Konflikt um die Rolle der Polen im Holocaust treibt Israel und Polen auseinander, dabei haben beide Länder großes Interesse an guten Beziehungen. Deshalb hat der Zwist auch ein klares Ablaufdatum.

Eigentlich haben Polen und Israel viel gemeinsam: Ein ausgeprägtes Bewusstsein für die historischen Ungerechtigkeiten, die ihrer Bevölkerung widerfahren sind. Einen daraus resultierenden stolzen und konservativen Patriotismus. Und ständig Streit mit Brüssel: Polen, weil es seinen Rechtsstaat demontiert. Israel, weil es weiter Siedlungen im Westjordanland baut. Kein Wunder also, dass sich die beiden Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und Mateusz Morawiecki eigentlich gut miteinander verstehen.

 

Doch die konkurrierenden Opfer-Narrative der beiden Staaten haben schwelenden Streitereien auflodern lassen. Der Grund für den Konflikt lässt sich im Kern auf einen Satz zusammenfassen: Polen will sich ausschließlich als Opfer der NS-Zeit sehen, ohne an antisemitische Gewalt durch die eigene Bevölkerung erinnert zu werden.

 

Dabei basiert die versuchte polnische Geschichtsfälschung auf einem eigentlich legitimen Ärgernis: Polen hat es satt, dass das von NS-Deutschland im besetzten Polen gebaute Vernichtungslager Auschwitz immer wieder als »polnisches Lager« bezeichnet wird. Eine ignorante und verletzende, aber selten bewusst böswillig benutzte Formulierung.

 

Außenminister Israel Katz bezeichnete das polnische »Holocaust-Gesetz« als »Verleugnung der polnischen Rolle« an der Schoah.

 

Im Kampf dagegen ergriff die PiS-Regierung eine drastische Maßnahme: Sie verabschiedete das umstrittene IPN-Gesetz, inzwischen weltweit bekannt als »Holocaust-Gesetz«, das Geldstrafen und sogar bis zu drei Jahre Haft für jede Person vorsieht, die die polnische Bevölkerung oder den polnischen Staat als mitverantwortlich an Nazi-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Theoretisch gilt das Gesetz auch im Ausland – umsetzbar ist das allerdings kaum.

 

Polnische Wissenschaftsvereinigungen und Bürgerrechtsinitiativen waren entsetzt. Denn gerade in der Geschichtswissenschaft ist unumstritten, dass der auch in Polen weit verbreitete Antisemitismus dazu geführt hat, dass Polinnen und Polen zur Judenvernichtung beitrugen. So etwa beim Pogrom im Dorf Jedwabne, wo bis zu 400 Jüdinnen und Juden in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg fanden etwa in der Stadt Kielce Pogrome an jüdischen Menschen statt. Und noch 1968 wies Polen tausende Jüdinnen und Juden aus und entzog ihnen die Staatsbürgerschaft.

 

Entsprechend empört waren die Reaktionen aus Israel: Außenminister Israel Katz bezeichnete das Gesetz als »Verleugnung der polnischen Rolle« an der Schoah. Auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem kritisierte, das Gesetz verharmlose die Komplizenschaft von Teilen der polnischen Bevölkerung. Es könne »zur Vertuschung der historischen Wahrheit führen, dass die Deutschen während des Holocausts Unterstützung aus der polnischen Bevölkerung erhielten.«

 

Schließlich fiel der gesamte Visegrad-Gipfel ins Wasser, stattdessen wurden bilaterale Treffen in Jerusalem vereinbart.

 

Den beiden Ministerpräsidenten gelang es, die Lage zu entschärfen: Morawiecki ließ die Haftstrafen aus dem Gesetz streichen und veröffentlichte eine gemeinsame Erklärung mit Netanyahu. Dieser aber sah sich wohl durch die scharfe innenpolitische Kritik an der Versöhnung mit Polen dazu gezwungen, noch einmal nachzulegen: Die israelischen Zeitungen Haaretz und Jerusalem Post zitierten ihn mit den Worten: »Die Polen haben sicherlich mit den Nazis zusammengearbeitet.«

 

Auch wenn sein Sprecherteam zurückruderte, er habe lediglich von einzelnen Polen gesprochen und nicht von der Gesamtbevölkerung oder dem ganzen Land, war Morawiecki empört und sagte seine Teilnahme am Gipfel der Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) in Jerusalem ab. Stattdessen sollte sein Außenminister anreisen.

 

Wenig später folgte die nächste Provokation aus Israel: Außenminister Katz sagte in einem Interview, viele Polen hätten die deutschen Nazi-Besatzer beim Massenmord an Europas Juden unterstützt. Katz – selbst Sohn von Holocaustüberlebenden – zitierte außerdem eine Aussage des ehemaligen Ministerpräsidenten Jitzchak Schamir: »Die Polen haben Antisemitismus mit der Muttermilch aufgesogen.«

 

Polens Reaktion folgte im Nu: Morawiecki bezeichnete die Aussagen als »rassistisch« und sagte die Teilnahme der polnischen Delegation am Visegrad-Gipfel ab. Schließlich fiel der gesamte Gipfel ins Wasser, stattdessen wurden bilaterale Treffen Israels mit den Vertreterinnen und Vertretern der Slowakei, Tschechiens und Ungarns in Jerusalem vereinbart.

 

Neben dem angespannten Verhältnis zu Brüssel vertritt Israel außerdem ähnliche Linien in Bezug auf Geflüchtete, konservative Werte und Patriotismus.

 

Dabei haben Israel und Polen gerade historisch allen Grund, gut miteinander auszukommen: Denn in Israel ist es bekannt, dass es in Polen während der NS-Zeit – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie Italien, Frankreich und Belgien – keine kollaborierende oder faschistische Regierung gegeben hat. Außerdem lebten in Polen vor dem deutschen Überfall am 1. September 1939 etwa 3,5 Millionen Jüdinnen und Juden. Sie bildeten etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und somit die größte jüdische Gemeinde Europas.

 

Dazu kommen handfeste politische Interessen an guten bilateralen Beziehungen: Denn während Israels Siedlungspolitik das Verhältnis zu vielen EU-Staaten belastet, stellen die Visegrad-Staaten für Israel potentielle Verbündete dar – und ein geeignetes Gegengewicht auf dem diplomatischen Parkett. So verhinderten die vier etwa eine europäische Resolution, die die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem kritisieren sollte. Schon 2017 hatte Netanyahu an einem Visegrad-Gipfel teilgenommen und eine Einladung nach Israel ausgesprochen. Neben dem angespannten Verhältnis zu Brüssel vertritt Israel außerdem ähnliche Linien in Bezug auf Geflüchtete, konservative Werte und Patriotismus.

 

Doch abgesehen von Israels naheliegendem Interesse an einer verantwortungsbewussten Geschichtspolitik dient die hitzige Auseinandersetzung auch einem innenpolitischen Zweck: Im April stehen Parlamentswahlen an. Das kurzfristige innenpolitische Kalkül untergräbt eigentlich den Versuch des bedrängten Premiers, mit dem Abhalten des Visegrad-Gipfels sein diplomatisches Geschick zu demonstrieren und langfristige gemeinsame Interessen zu verfolgen. Außerdem kann er mit seiner scharfen Kritik davon ablenken, dass er bei vielen Verbündeten nicht so genau hinschaut, wenn sie Antisemitismus an den Tag legen – etwa beim ungarischen Regierungschef Viktor Orban, der mit antisemitischen Vorurteilen gegen den jüdischen Milliardär und Philanthropen George Soros hetzt.

 

Polen profitierte durch enge Beziehungen mit Israel von einer außenpolitischen Aufwertung, insbesondere gegenüber den USA.

 

Und auch Polen profitierte durch enge Beziehungen mit Israel von einer außenpolitischen Aufwertung, insbesondere gegenüber den USA – eine willkommene Abwechslung zum andauernden Konflikt mit der EU, die Polens Justizreform beständig kritisiert. Doch statt sich als selbstbewusstes Land global zu etablieren, steht Polen jetzt ziemlich allein auf weiter Flur, während der Rest der Welt über die Mittäterschaft polnischer Bürger an der Judenvernichtung diskutiert.

 

Und als ob das alles nicht genügte, hat Polens Regierung sich wohl auch die Solidarität seiner Visegrad-Partner verspielt: Als nach Veröffentlichung von Netanyahus Zitaten Polens Präsident Andrzej Duda vorschlug, den Gipfel in Warschau abzuhalten, zog sein Büro den Vorschlag so schnell wieder zurück, dass es geradezu den Eindruck vermittelte, Polen hätte keinen Rückhalt von den anderen Visegrad-Staaten erhalten. Die offizielle Begründung lautete allerdings, man habe Israels Erklärung akzeptiert, Netanyahu sei falsch zitiert worden. Nach dem Katz-Interview weigerten sich die drei anderen Staaten, ebenfalls die Reise nach Israel abzusagen.

 

Dass Polen das Risiko eingeht, sich außenpolitisch komplett zu isolieren, kann übrigens ebenfalls mit anstehenden Parlamentswahlen erklärt werden. Und die rechtskonservative Wählerschaft, die die PiS im Herbst an der Macht halten soll, erwartet ein Auftreten, das Polens Stolz verteidigt. Das bedeutet aber auch: Spätestens wenn die beiden Wahlkämpfe vorüber sind, werden sich die beiden Ministerpräsidenten wieder versöhnen und sich auf gemeinsame Gegner konzentrieren. Zum Beispiel Brüssel.

Von: 
Martha Dudzinski

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