Gemeinsam werden wir siegen – Jachad Nenatzeach: So lautete die israelische Parole, um den Krieg durchzustehen. Noch am 6. Oktober war das Land so gespalten wie selten – der Terrorakt der Hamas hat die israelische Gesellschaft im Schock vereint. Oder wie es ein Werbespot des Nachrichtensenders N12 darlegte »Links und Rechts gibt es nicht mehr«. Doch die politischen Grabenkämpfe brechen wieder auf – und verlaufen nach altbekannten Mustern.
Am 7. Dezember erklärt die Vorsitzende der israelischen Arbeiterpartei Merav Michaeli, ihren Rücktritt. Liste und Vorsitz der Partei sollen in den kommenden Monaten neu gewählt werden. Die ehemalige Parteipräsidentin ist sich sicher »2024 gibt es Wahlen«. Michaeli spricht aus, was viele denken: Diese Regierung wird noch vor Ende der Legislaturperiode zusammenbrechen – unklar ist nur wann. Schon jetzt beginnen Vertreter der Regierung, ihre Wahlkampagnen in die Wege zu leiten.
So unter anderem der nationalreligiöse Extremist und Finanzminister Bezalel Smotrich, der sich in Haushaltsfragen profilieren möchte. Der finanzielle Schaden des Gaza-Krieges ist enorm – die Wirtschaft ist eingebrochen, der Staat muss den Krieg finanzieren und gleichzeitig die Folgen des Krieges abfedern. Mehr als umgerechnet 45€ Milliarden wird der Gaza-Krieg den israelischen Staat kosten, schätzte das israelische Finanzblatt Kalkalist Anfang November. Ende November hat Smotrich einen neuen Finanzplan vorgelegt – der in etlichen Bereichen Kürzungen vorsieht. Doch die Anpassungen, die Smotrich vornehmen will, sind nicht nur das Begleichen der Kriegskasse: Vielmehr wirkt die Haushalskorrektur wie das Fortführen altbekannter Klientelpolitik. Wiederum bilanzierte der Kalkalist »Bezalel Smotrich hat keinen Tropfen Scham«.
Ein genauerer Blick auf den Haushaltsplan, den Finanzminister Smotrich im Übrigen ohne sein Ministerium aufgestellt hat zeigt: Der Wille, finanzpolitische Konsequenzen aus dem Krieg zu ziehen, ist begrenzt: Die Erwartungen seitens der Bevölkerung an genau diese jedoch hoch: Wie der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Histadrut, Arnon Bar-David, in einem Interview mit der Zeitung Maariv erklärte »Jeder Cent für die Kriegsanstrengungen ist wichtig« Der neue Finanzplan ist für ihn ein Skandal.
Die Diskussion drehte sich vor allem um einen eher kleinen Teil des Haushalts, die sogenannten »Koalitionsgelder«. Für das Jahr 2023 handelte es sich um 8,2 Milliarden Schekel (2,05€ Milliarden). Zum Vergleich: Im selben Jahr betrug der Haushalts 484 Milliarden Schekel (121€ Milliarden). Doch dieser vergleichsweise kleine Teil ist von höchster politischer Relevanz: Die Mittel werden Parteien für Zwecke zugewiesen, welche vorher im Koalitionsvertrag festgelegt wurden. Ein praktisches Werkzeug, um die Interessen der eigenen Basis voranzutreiben. So konnte das rechtsnationale Lager durchsetzen, dass der Großteil aus dem Koalitionstopf an Tora-Schulen, beziehungsweise Jeschiwas, und Siedler in der Westbank ging.
Es sind Gelder, die in Anbetracht des Krieges äußerst umstritten sind. Und trotzdem konnten die religiösen Parteien Kürzungen im neuen Haushaltsplan erfolgreich verhindern. So etwa das Jeschiwa-Budget, welches sich nach wie vor auf einem Allzeithoch von 1,75 Milliarden Schekel befindet. Im nächsten Jahr soll es sogar auf zwei Milliarden Schekel ansteigen. Auch blieben elf Millionen Schekel, um den Militärdienst für die Haredim attraktiv zu machen. Ironischerweise profitiert von diesen Geldern aber auch die orthodoxe Organisation Vaad HaYeshivot, die Jugendlichen hilft, dem militärischen Pflichtdienst fernzubleiben. Das stößt säkularen Israelis sauer auf – besonders im Hinblick auf über 300.000 mobilisierte Reservistinnen und Reservisten, die in Gaza, dem Westjordanland und an der libanesischen Grenze im Einsatz sind. Ein altbekannter Graben bestimmt damit wieder die gesellschaftliche Debatte Israels – die Orthodoxie vs. Säkulare: Wer trägt was zur israelischen Gesellschaft bei und wen soll der Staat wie unterstützen?
Der Haushalt wird derzeit noch von der Knesset abgesegnet, die erste Lesung passierte er bereits mit 62 Ja-Stimmen. Mit dem Finanzministerium liegt Smotrich nach wie vor im Dauerstreit – doch sein Taktieren hatte sich gelohnt: Laut einer Umfrage der Zeitung Maariv wäre seine Partei HaTzionut HaDatit Mitte November nicht mehr in die Knesset eingezogen. Doch laut aktuellen Umfragen kommt die Partei wieder auf ganze vier Sitze. Es zeigt: Seine Stammwählerschaft kann Smotrich nach wie vor bedienen.
Gefährlicher als die Extremisten dürfte der Regierung aber die bröckelnde Geschlossenheit im Kriegskabinett sein. Von Einigkeit ist hier nur noch wenig zu spüren. Das Triumvirat aus Premierminister Benjamin Netanyahu, Verteidigungsminister Yoav Galant und dem ehemaligen Oppositionspolitiker Benny Gantz versuchte mit gemeinsamen Pressekonferenzen ein Bild der Stärke zu zeichnen. Am zweiten Dezember aber hielt Verteidigungsminister Galant eine Pressekonferenz ohne Netanyahu ab. Aus »Jachad« zu Deutsch »zusammen« wurde »Jachid« – einzeln. Auf Nachfrage erklärte Netanyahu, der am selben Tag ebenfalls eine Pressekonferenz hielt »Ich habe dem Verteidigungsminister eine gemeinsame Pressekonferenz vorgeschlagen. Er hat entschieden, was er entschieden hat«. Es ist ein weiteres Zeichen mittlerweile verflogenen Einigkeit.
Ähnliche Grabenkämpfe um und gegen Netanyahu spielen sich im Sicherheitskabinett ab: Am 10. Dezember sollte darüber abgestimmt werden, ob arabische Arbeiter aus der Westbank wieder nach Israel zurückkehren dürften. Seit dem 7. Oktober ist das nicht mehr möglich. Die nationalreligiösen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir sprachen sich bereits dagegen aus. Landwirtschaftsminister und Parteikollege Netanyahus Avi Dichter ist dafür, ebenso Arbeitsminister Yoav Ben-Tzur. Netanyahu äußert sich dazu nicht öffentlich. Das Ergebnis: Die Abstimmung wurde verschoben.
Ob in dem Sicherheitskabinett, Kriegskabinett oder im Finanzausschuss – in der Knesset bestimmt wieder der politische Überlebenswille das Tagesgeschehen. Ausgespart werden dabei Fragen, die Israelis nicht länger unbeantwortet lassen wollen. In den ersten Wochen galt in den Nachrichtensendern, auf der Straße oder beim Abendessen an Schabat: Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sich zu streiten. Doch die Frage nach der Schuld, dem Versagen der Sicherheitskräfte und der politischen Verantwortung, will die israelische Gesellschaft nicht länger aufschieben. Die Schonfrist, die viele Israelis Netanyahu zugesprochen haben, ist abgelaufen.
Es sind vor allem die Familien der Geiseln und Vermissten – und auch freigelassene Geiseln – die Druck ausüben. In einem eigentlich vertraulichen Treffen zwischen freigekommenen Geiseln und dem Kriegskabinett zu Beginn des Monats in Herzliya, rief jemand Netanyahu entgegen »Sie priorisieren Politik vor der Rückkehr der Geiseln!« Für die Öffentlichkeit war der Inhalt des Treffens nicht bestimmt, doch kurz darauf liefen die Aufnahmen im Fernsehen in Dauerschleife.
Medien und Beobachter berichteten oft, dass ein Israel vor und nach dem 7. Oktober gibt. Sicherlich wird es noch lange dauern, bis das ganze Ausmaß der Folgen dieses Angriffs sichtbar wird. Doch nach über zwei Monaten verfällt die israelische Politik wieder in alte Handlungsmuster: Allen voran Premierminister Netanyahu. Er veröffentlichte am 12. Dezember ein Video, indem er sich zunächst für die amerikanische Unterstützung bedankte, um gleich zu betonen, dass es über den »Tag danach« und die Pläne für den Gaza-Streifen Meinungsverschiedenheiten gibt.
Der Premierminister deklariert »Ich möchte meine Position mitteilen: Ich lasse Israel die Fehler von Oslo nicht wiederholen.« Weiter führt Benjamin Netanyahu an, dass es am Tag danach im Gaza-Streifen weder »ein Fatah-stan noch ein Hamas-stan« geben soll. Der Kreis scheint sich zu schließen: Netanyahu versucht seine politische Karriere mit Blick auf die schlechten Umfragewerte so zu retten, wie sie begonnen hat – mit einer Kampagne gegen das Oslo-Abkommen, gegen palästinensische Staatlichkeit.
Die Politik ist zurück, und zwar entlang alter Konfliktlinien. Ob Links und Rechts entscheidet sich in Israel nicht primär an ökonomischen Fragen, wie mehr oder weniger Sozialstaat. Die angebliche Brüderlich- und Schwesterlichkeit ist aufgebrochen und die israelische Gesellschaft zeigt sich in ihren Grundfragen gespalten: Wie jüdisch ist der Staat Israel? Beziehungsweise: Fährt an Schabbat die Straßenbahn oder nicht? Und: Soll es einen palästinensischen Staat geben oder Groß-Israel?