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Kolumbien und der Nahostkonflikt

Bogotás Balanceakt

Analyse
Kolumbien und der Nahostkonflikt

Israel ist ein enger Waffenpartner, gleichzeitig hat Kolumbien Palästina als Staat anerkannt. Wie das zusammenpasst und warum die Debatte so polarisiert ist wie die kolumbianische Gesellschaft selbst.

Kolumbiens Außenpolitik ist stark von der jeweiligen Regierung abhängig – eine natürliche Folge des Präsidialsystems. Es ist üblich, dass sich alle vier Jahre einschneidende Veränderungen ergeben, etwa in der Haltung gegenüber den Nachbarländern, den Ansätzen zur Befriedung von Konflikten, der Drogenbekämpfung oder der Bedeutung multilateraler Organisationen.

 

Die Verfassung gibt zwar allgemeine Richtlinien vor, die darauf abzielen, den Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik Priorität einzuräumen (Artikel 277), aber nicht alle Präsidenten haben sich unbedingt daran gehalten. Jüngstes und konkretes Beispiel: Iván Duque (2018-2022), der sich etwa von Dialogformaten wie der »Union Südamerikanischer Nationen« (Unasur) und der »Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten« (Celac) distanzierte.

 

Gleichzeitig ist Außenpolitik kein relevantes Wahlkampfthema und hat für viele Kolumbianer keine Priorität. Im Gegensatz zu Themen wie Arbeit, Sicherheit oder Gesundheit. Außenpolitik wird kaum in der Breite diskutiert, die Öffentlichkeit fordert selten Rechenschaft ein. Außenpolitik gilt als Expertengebiet, die Positionen Kolumbiens auf der internationalen Bühne sind den meisten Menschen kaum bekannt. Allerdings verschieben sich Wahrnehmung und Reaktion vor allem wegen der Reichweitenstärke sozialer Medien zuletzt zunehmend.

 

Die kolumbianische Außenpolitik gegenüber Israel und Palästina ist durch eine Reihe von Meilensteinen gekennzeichnet. Der erste war die Ablehnung der Resolution 181 der Generalversammlung der Vereinten Nationen, mit der der Staat Israel gegründet wurde. Die kolumbianische Regierung war damals der Ansicht, dass ohne die Zustimmung der arabischen Länder die Stabilität in der Region nicht gewährleistet werden könne. Es ging nicht darum, sich der Gründung Israels zu widersetzen – das Land wurde von Kolumbien nach der Gründung umgehend anerkannt –, vielmehr wollte Bogotá auf die Notwendigkeit eines regionalen Konsenses aufmerksam machen.

 

Zwei Meilensteine der kolumbianischen Nahostpolitik erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich, haben sich aber in der Praxis als kompatibel erwiesen

 

Seither bemüht sich Kolumbien um ausgewogene Beziehungen sowohl zu den arabischen Staaten als auch zu Israel. 1995 besuchte Regierungschef Ernesto Samper Pizano (1994-1998) in seiner Funktion als Präsident der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM) erstmals offiziell die Besetzten Gebiete. Er unterstützte ausdrücklich die Aushandlung des Oslo-Abkommens und die entstehende Palästinensische Autonomiebehörde.

 

Zwei weitere Meilensteine der jüngeren kolumbianischen Nahostpolitik erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich, haben sich aber in der Praxis als kompatibel erwiesen. Dies ist zum einen die militärisch-strategische Annäherung an Israel und zum anderen die überraschende Anerkennung des palästinensischen Staates. Die strategische Annäherung an Israel zeigt sich in der Beschaffung von dort entwickelten Galil-Sturmgewehren (als Ersatz für die deutschen G3-Schnellfeuergewehre) und Kfir-Kampfflugzeugen für die kolumbianische Luftwaffe. Der Rüstungsdeal führte zu einer Vertiefung der Beziehungen zu Tel Aviv, das in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren zu einem bevorzugten Partner Bogotás bei den größten Militäroffensiven gegen verschiedene Guerillagruppen wurde. Die Intensivierung der bilateralen Beziehungen gipfelte 2013 in der Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens.

 

Die Anerkennung von Palästina als souveräner Staat kam spektakulär und überraschend. Während der Regierungen von Juan Manuel Santos (2010-2014, 2014-2018) hatte Kolumbien die Aufnahme eines palästinensischen Staates in die Vereinten Nationen nicht unterstützt. Im Jahr 2011 enthielt sich das Land als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats seiner Stimme und ein Jahr später stimmte Bogotá in der Generalversammlung ebenso, als die Aufwertung Palästinas als Beobachterstaat auf der Agenda stand. Santos argumentierte, dass jegliche Anerkennung Palästinas aus Verhandlungen mit Israel und nicht einseitig durch die UN erfolgen sollte. Überraschenderweise unterzeichnete er vier Tage vor seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt am 3. August 2018 dann doch die Anerkennung Palästinas als Staat.

 

Warum hat die kolumbianische Regierung ihre Haltung geändert? Die damalige Außenministerin María Angela Holguín fand klare Worte: »Bisher haben wir geglaubt, dass die Anerkennung durch Verhandlungen erfolgen würde, aber in den letzten Jahren gab es keine Fortschritte«. Auch die Verabschiedung des umstrittenen Nationalstaatsgesetzes habe zu einem Paradigmenwechsel beigetragen – und die Situation im Gazastreifen: »Die arabisch-israelische Bevölkerung droht durch das neue Gesetz diskriminiert zu werden. Diese Entwicklungen und die humanitäre Krise in Gaza haben uns davon überzeugt, dass die Anerkennung des palästinensischen Staates wichtig ist«, erklärte Holguín schon vor fast sechs Jahren.

 

Erstmals hat Kolumbien eine unterstützende Haltung eingenommen und das Vorgehen Israels in Gaza scharf verurteilt

 

Seit dem Amtsantritt von Gustavo Petro im Jahr 2022 haben sich die Beziehungen zu Palästina vertieft. Erstmals hat Kolumbien eine unterstützende Haltung eingenommen und das Vorgehen Israels in Gaza scharf verurteilt. Die weltweite Kontroverse über die humanitäre Krise dort spiegelt sich auch in der notorisch polarisierten kolumbianischen Gesellschaft wider. Die Positionen zum Nahostkonflikt decken sich grob mit den politischen Überzeugungen von vier verschiedenen Lagern: den Gemeinschaften der Nachkommen von Libanesen, Syrern und Palästinensern, den Progressiven, der jüdischen Gemeinschaft und den Konservativen.

 

Kolumbianer mit palästinensischen Wurzeln und Anhänger des progressiven Lagers verurteilen aktiv das Vorgehen Israels, mobilisieren auf Demonstrationen und in sozialen Netzwerken und warnen vor dem, was sie als Völkermord bezeichnen. Damit einher geht häufig eine Kritik am Zionismus: Es soll deutlich gemacht werden, dass die Verurteilung des israelischen Vorgehens sich nicht zwangsläufig gegen die jüdische Gemeinschaft richtet. Nicht selten dient der Antizionismus jedoch dazu, offen oder verdeckt antisemitische Überzeugungen zu verbreiten. In sozialen Netzwerken ist es üblich, auf Meinungsäußerungen von Juden schnell mit einer Zuordnung der religiösen Identität zu reagieren. Oft gerät das Thema der Debatte in den Hintergrund und der Austausch endet in antisemitischen Ausfällen.

 

Eine ähnliche Radikalisierung ist im konservativen Lager zu beobachten. Vorurteile gegenüber Arabern und Muslimen flankieren argumentativ die entschiedene Verteidigung der israelischen Offensive nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober. Israel gilt hier als Staat eines überlegenen, zivilisierten und entwicklungswilligen Volkes, während die palästinensischen Araber als gewaltbereite »Wilde« verunglimpft werden. So behauptet der konservative kolumbianische Publizist Diego Santos, dass »Araber dazu erzogen werden, Juden oder Israelis zu hassen«. Natürlich werden solche Aussagen der Komplexität der arabischen Welt nicht gerecht. Aber auch in Kolumbien finden solche Argumentationen schnell Verbreitung, die sich einer vereinfachenden Logik bedienen.

 

So veröffentlichte der renommierte kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler Francisco Thoumi auf dem angesehenen akademischen Portal Razón Pública einen Text, in dem er behauptet: »Die Juden hatten und haben eine enorme Fähigkeit, sich zu organisieren und die Unterstützung der Weltmächte zu gewinnen, was man von den Palästinensern nicht sagen kann. Die Juden sind globalisiert und kosmopolitisch, während die Palästinenser vielleicht andere Qualitäten haben, die ihnen aber nicht helfen, die Situation erfolgreich zu meistern«. Mit der Krise in Gaza haben sich solche Vorurteile gegenüber der arabischen – und in geringerem Maße der muslimischen – Bevölkerung vervielfacht.

 

Inmitten dieser Polarisierung, die durch den Gaza-Krieg noch verschärft wurde, haben auch die kolumbianischen Medien nicht immer die beste Figur gemacht

 

Inmitten dieser Polarisierung, die durch den Gaza-Krieg noch verschärft wurde, haben auch die kolumbianischen Medien nicht immer die beste Figur gemacht – sei es aufgrund mangelnder Sachkenntnis oder bestimmter ideologischer Ausrichtungen. In ihrer Ausgabe vom 21. November 2023 titelte El Tiempo, die auflagenstärkste Zeitung des Landes, dass »5.600 [palästinensische] Kinder in Gaza gestorben« seien. Viele Leser reagierten empört und empfanden die Wortwahl als Verharmlosung, die nicht benenne, wer den Tod der Kinder verursacht habe. In der Sendung vom 2. November veröffentlichte eine der populärsten Nachrichtensendungen, »Noticias Caracol«, einen Bericht mit einer Infografik, in der von »1.400 ermordeten Israelis und 8.800 Toten« die Rede war, wobei sich die zweite Zahl auf palästinensische Opfer bezog.

 

Mitte Oktober führte die Zeitschrift Semana ein Interview mit dem israelischen Botschafter Gali Dagan. Es handelt sich um ein Medium mit großer Reichweite, das für seine gründlichen Recherchen bekannt ist, in letzter Zeit aber einen ultrakonservativen Kurs eingeschlagen hat, der auf Kosten der journalistischen Sorgfalt geht. Der Interviewer stellt dann auch keine einzige Frage zu den Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee. Der konservative Fernsehsender RCN fragte in einem Interview mit dem palästinensischen Botschafter immer wieder nach der Verbindung zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas, obwohl der Diplomat deutlich machte, dass die Hamas nicht seine Gemeinschaft repräsentiere.

 

Die kolumbianischen Medien verfügen kaum über das nötige Fachwissen oder die Kapazitäten, um die unterschiedlichen Positionen zu Israels Recht auf Selbstverteidigung oder zu den Vorwürfen des Völkermords, der Apartheid und der ethnischen Säuberung angemessen zu beleuchten. Wenn überhaupt, analysieren sie konkrete Ereignisse wie die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof.

 

Auch die aggressive Haltung der kolumbianischen Regierung bei der Verurteilung des Völkermords hat die öffentliche Wahrnehmung beeinflusst. Die Befürworter von Gustavo Petro neigen dazu, in der Palästina-Frage ein Statement des globalen Südens gegenüber dem Westen und seinem (post-) kolonialen Erbe zu sehen. Seine Gegner hingegen werfen ihm Antisemitismus und sogar eine Verharmlosung des islamistischen Terrorismus vor. Angesichts solcher Polarisierungen wird der Raum für Dialog und Information über den Nahostkonflikt in Kolumbien immer enger.


Mauricio Jaramillo Jassir ist außerordentlicher Professor an der Fakultät für internationale, politische und urbane Studien der Universidad del Rosario in Bogotá.

Von: 
Mauricio Jaramillo Jassir

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