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Regierungsbildung in Israel

Und am Ende gewinnt Bibi

Analyse
Netanyahu und die Wahlen zur Knesset in Israel
zeevveez, lizensiert gemäß Wikimedia Commons

Nach drei Neuwahlen innerhalb eines Jahres steht Israel kurz vor der Bildung einer Notstandsregierung – und Netanyahu könnte an der Macht bleiben. Derweil hat er bereits ein anderes Amt im Blick.

 

Israel ist im Krisenmodus – und das gleich auf mehreren Ebenen. So kommt es, dass Premierminister Benyamin Netanyahu, der nach drei Neuwahlen immer noch eine Übergangsregierung führt, wegen seiner selbst auferlegten Quarantäne auf sechs Meter Entfernung und unter freiem Himmel Koalitionsverhandlungen mit seinem größten Widersacher Benny Gantz führt, der damit das größte Versprechen seiner politischen Karriere über Bord wirft. Zudem sollte der amtierende Premierminister eigentlich gerade vor Gericht stehen und der Sprecher der Knesset trat Ende März zurück.

 

Ex-Armeechef Gantz und Premierminister Netanyahu verhandeln in diesen Tagen im Angesicht der Corona-Krise über die Bildung einer »Notstandsregierung« für Israel. Innerhalb eines Jahres ging aus drei Neuwahlen keine Regierung hervor. Das zentrale Wahlversprechen von Gantz hatte stets gelautet, auf keinen Fall in eine Regierung unter Netanyahu einzutreten. Der Grund: Dem Premier steht ein Gerichtsprozess wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue bevor. Trotzdem ist jetzt eine Koalition in Planung, in der Netanyahu weitere 18 Monate Premierminister bleiben könnte, bevor die Posten rotieren und Gantz an die Reihe kommt.

 

»Das Zusammenbrechen einer politischen Alternative zu Netanyahu«

 

Anscheinend ist es dem »Zauberer«, wie Netanyahu in Israel aufgrund seines beeindruckenden politischen Geschicks genannt wird, erneut gelungen, sich selbst unentbehrlich zu machen. »Wir erleben in Israel momentan das Zusammenbrechen einer politischen Alternative zu Benyamin Netanyahu«, konstatiert Johannes Becke im Gespräch mit zenith. »Wieder einmal ist es Netanyahu gelungen, alle politischen Alternativen zu ihm auseinanderzunehmen. Gantz ist letztlich eben kein Politiker, sondern ein Militär, der irgendwann angefangen hat, seinen Wahlkampfslogan ›Israel vor allem anderen‹ sehr ernst zu nehmen«, so der Juniorprofessor für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.

 

Durch die Entscheidung, nun doch eine Regierung mit Netanyahu einzugehen, zerbrach das Mitte-Links-Bündnis, mit dem Gantz in den Wahlkampf gezogen war – mit nicht einmal 20 Knesset-Abgeordneten steht er nun der Netanyahu-Koalition aus mehr als 50 Sitzen gegenüber. Dennoch hat sich der Ex-Militär für diesen Schritt entschieden. »Aus einer Mischung von Verantwortungsethik und Pflichtbewusstsein geht Gantz nun diese Koalition ein, da er aktuell keine Alternative präsentieren kann und eine Einheitsregierung in dieser Krise für die besser Variante hält als Neuwahlen mitten in der Pandemie«, erklärt Becke.

 

Noch wurde kein Koalitionsvertrag geschlossen. Eigentlich sollte die Notstandsregierung noch vor dem einwöchigen Pessach-Fest stehen, das am Mittwoch begann, doch Gantz hat bereits am Montag Präsident Reuven Rivlin um eine Verlängerung der Frist zur Regierungsbildung gebeten. Auch ein Scheitern der Koalitionsgespräche ist nach wie vor nicht ausgeschlossen, wie Gantz kurz vor Beginn der Pessach-Feierlichkeiten noch einmal betonte. Doch ein Erfolg der Verhandlungen scheint sich anzubahnen: Die meisten inhaltlichen Fragen sind geklärt und die Rotation des Premierministers nach eineinhalb Jahren wohl beschlossene Sache. Doch sollte diese Koalition tatsächlich zustande kommen, bedeutet das noch lange nicht, dass politische Stabilität für die nächsten Jahre gesichert ist.

 

»Es würde alle sehr überraschen, wenn diese Regierung eine ganze Legislaturperiode hält«

 

Regierungen in Israel sind oft kurzlebig – in den letzten dreißig Jahren überstand nur eine die eine volle vierjährige Amtszeit. »Es würde alle sehr überraschen, wenn diese Regierung eine ganze Legislaturperiode hält«, kommentiert Becke mit Blick auf die aktuellen Koalitionsgespräche und fügt hinzu: »In der israelischen Presselandschaft glaubt niemand, dass die Rotationslösung wirklich funktioniert. Es geht eigentlich niemand davon aus, dass Gantz nach 18 Monaten tatsächlich Premierminister wird. Es wäre eher überraschend, wenn er das selbst glaubt.«

 

Das liegt nicht nur daran, dass die Machtverhältnisse innerhalb der Koalition ganz klar zugunsten von Netanyahu ausfallen. Viele rechnen auch damit, dass diese Rotationskonstruktion in Wirklichkeit ein weiteres Kunststück des »Zauberers« ist. »Es deutet sich ein Szenario an, in dem sich Netanyahu während des Gerichtsprozesses irgendwie als Premierminister über Wasser halten will, um sich anschließend zum Präsidenten wählen zu lassen«, vermutet Becke. Im Sommer 2021, also in weniger als 18 Monaten, endet die siebenjährige Amtszeit von Reuven Rivlin, der nicht erneut zur Wahl antreten darf. So wird ein Staatsamt frei, in dem Netanyahu tatsächlich immun gegen Strafverfolgung wäre. Und viele Beobachter sind überzeugt, dass er auch die dafür notwendige Parlamentsmehrheit hinter sich versammeln kann.

 

Unter anderem aufgrund Netanyahus Umgang mit diesem Gerichtsprozess werden in den letzten Wochen Stimmen lauter, die die israelische Demokratie in ernsthafter Gefahr sehen. Dabei fallen in der verbal aufgeheizten Debatte sogar polemische Begriffe wie »Coronavirus-Diktatur«. Der Hintergrund dieser Anschuldigungen liegt im Umgang der israelischen Übergangsregierung mit der COVID-19-Pandemie.

 

Exekutive Alleingänge, Umgehung der parlamentarische Kontrollfunktion und der gerichtliche Notstand

 

Der Beginn des Gerichtsprozesses gegen Netanyahu war für den 17. März, angesetzt. Noch eine Woche zuvor war ein Antrag Netanyahus auf Verschiebung abgelehnt worden. Doch am 15. März, verhängte Justizminister Amir Ohana, ein Parteifreund Netanyahus, mitten in der Nacht einen Corona-bedingten Notstand für israelische Gerichte. Demnach sollten nur besonders dringliche Fälle weiterverhandelt werden. Andere Prozesse wurden vertagt – der neue Termin für Netanyahus Prozessauftakt ist nun der 24. Mai.

 

Am Mittwoch, dem 18. März, schloss der da noch amtierende Knesset-Sprecher Juli Edelstein die Parlamentssitzung und vertagte diese auf Montag, den 23. März. Dadurch verhinderte er sowohl die Wahl seines Nachfolgers – und sicherte somit in gewisser Weise seinen eigenen Job – als auch die Einberufung von Ausschüssen, die notwendig für die Arbeit der Knesset und die parlamentarische Überwachung der Regierung sind. Obwohl zu diesem Zeitpunkt keine Parlamentsmehrheiten für einen neuen Premierminister standen, kristallisierte sich eine hauchdünne Mehrheit (61 von 120 Abgeordnete) gegen Benyamin Netanyahu heraus.

 

Diese Mehrheit wollte nicht nur einen anderen Knesset-Sprecher wählen, sondern bereitete auch eine Reihe von »Anti-Netanyahu-Gesetzen« vor, beispielsweise ein Gesetz, das es angeklagten Politikern verbieten würde, Koalitionsverhandlungen zu führen. Edelsteins Entscheidung wurde von vielen Beobachtern als antidemokratisch kritisiert und selbst Präsident Rivlin forderte den Knesset-Sprecher auf, sie rückgängig zu machen. Doch Edelstein blieb hart und verhinderte die Wahl seines Nachfolgers auch bei der Sitzung am 23. März. Selbst als der Oberste Gerichtshof urteilte, dass die Wahlen zum Knesset-Sprecher spätestens am 25. März, abzuhalten wären, gab Edelstein nicht nach.

 

Stattdessen warf er dem Gericht Eingriffe in die Legislative vor und trat zurück. Tags darauf wurde dann Benny Gantz zum Sprecher der Knesset gewählt und verkündete überraschend, dass er nun doch bereit sei, in eine Regierung mit Netanyahu einzutreten.

 

Am 19. März, urteilte das Oberste Gericht Israels, dass die Corona-bezogenen Aktivitäten des Inlandsgeheimdienstes nur unter Überwachung der Knesset rechtens wären. Dafür müsste unverzüglich ein entsprechender Ausschuss gewählt werden. Wenige Tage zuvor hatte die Regierung Netanyahu den Geheimdienst Schin Bet autorisiert, Telefondaten zur Rückverfolgung der Bewegungen von Corona-Patienten an das Gesundheitsministerium weiterzugeben – ohne jegliche parlamentarische Debatte oder Konsultation.

 

»Eine ganze Reihe starker Institutionen, die sich dem Abrutschen der liberalen Demokratie entgegenstellen würden«

 

Unilaterale Einschränkungen der Judikative durch einen Minister, die Umgehung der parlamentarischen Kontrollfunktion und exekutive Alleingänge geben in einer liberalen Demokratie natürlich Anlass zu Sorge. Und Netanyahus Plan, Teile der besetzten Gebiete im Westjordanland einseitig zu annektieren, würde Israels liberaler Demokratie zusätzlich großen Schaden zufügen und seine Beziehungen zu den arabischen Nachbarstaaten destabilisieren.

 

Dennoch rät Politologe Becke im Gespräch mit zenith, die Debatte nüchterner zu führen: »In Israel gibt es eine ganze Reihe starker Institutionen, die sich dem Abrutschen der liberalen Demokratie entgegenstellen würden.« Als Beleg dafür nennt er »Netanyahus Paranoia vor einem Gerichtsprozess«. Wären die Gerichte keine relevanten Gegenspieler, müsste sich der Regierungschef keine Sorgen machen. Aber Netanyahu weiß, dass er als Premierminister nicht immun gegen gerichtliche Verfolgung ist, und dass mit Ehud Olmert und Mosche Katzav bereits ein ehemaliger Premier und ein Ex-Präsident verurteilt wurden, die sie auch tatsächlich absitzen mussten.

 

In Bezug auf den aktuellen Ausnahmezustand gibt Becke zu bedenken, dass momentan auch in vielen anderen liberalen Demokratien wegen der Corona-Krise versucht werde, die Exekutive mit mehr Macht auszustatten. »Außerdem hat Israel aufgrund seiner Geschichte eine gewisse Routine darin, in einen Ausnahmezustand einzutreten und diesen dann auch wieder zu verlassen.«

 

Anderen Notstands-Situationen der israelischen Geschichte folgten im Nachgang sogar »große staatliche Untersuchungskommissionen, die politische wie militärische Karrieren anschließend nachhaltig beschädigten«. Das letzte prominente Beispiel dafür war die Winograd-Kommission, die Premier Ehud Olmert und Verteidigungsminister Amir Peretz nach dem Krieg gegen die libanesische Hizbullah schwere Versäumnisse attestierte. Auch jetzt deute sich in Israel ein solches Szenario an.

Von: 
Michael Nuding

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