Anfang November feuerte Benjamin Netanyahu Verteidigungsminister Yoav Gallant und bildete sein Kabinett um – mit weitreichenden Folgen für Israels Innen- und Außenpolitik. Die Richtungsentscheidung betrifft vor allem die Zukunft des Gazastreifens.
Am 4. November sorgte Benjamin Netanyahu für einen Paukenschlag: Israels Premierminister verkündete die Entlassung von Verteidigungsminister Yoav Gallant – es handele sich um eine »Vertrauenskrise«, die eine »geordnete Weiterführung des Krieges verunmöglicht«, argumentierte der Regierungschef. Gallant machte seinem Parteikollegen daraufhin mittels einer biblischen Analogie den Vorwurf, die eigenen Bürger im Stich gelassen zu haben. »Die Geiseln aufzugeben, ist unverzeihlich und wird diejenigen, die Israel diesen falschen Pfad hinunterführen, mit dem Kainsmal zeichnen«, sagte der frühere Offizier bei seiner letzten Ansprache an die Nation. Zuletzt wandte er sich an die Gefallenen, Verwundeten und deren Angehörigen mit den Worten: »Euch vertraue ich, euch salutiere ich.«
Gallant galt als Netanyahus letzter Widersacher in der Koalition und war ihm schon seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. Doch es geht um mehr: Gerüchten zufolge könnten bald auch Armeechef Herzl Halevi sowie andere hochrangige Amtsträger ihre Posten verlieren. Die Entlassung des Verteidigungsministers ist der vorläufige Höhepunkt eines mal mehr, mal weniger offenen Machtkampfes zwischen dem israelischen Sicherheitsestablishment und der politischen Führung des Landes.
Den von den beiden ultraorthodoxen Regierungsparteien vorangetriebenen Gesetzentwurf zur Fortführung des Status Quo nannte Gallant ein »diskriminierendes, korruptes Gesetz«
Nicht zum ersten Mal hat Netanyahu versucht, sich im Kabinett seines Parteikollegen zu entledigen: Bereits im Frühjahr 2023 hatte der Premierminister angekündigt, Gallant zu feuern – auch, weil der sich öffentlich gegen die umstrittene Justizreform gestellt hatte. Doch nach heftigen Protesten musste Netanyahu zurückrudern. Anders vor zwei Wochen: Zwar hat die Entlassung Gallants für heftige Kritik gesorgt, Netanyahus Koalition sitzt aber fest im Sattel.
Ein Teil des Konfliktes zwischen Regierung und Sicherheitsapparat dreht sich um die Frage nach der Verantwortung für das Versagen des israelischen Staates, den Überfall der Hamas am 7. Oktober zu verhindern. Während sowohl die israelische Opposition als auch Gallant eine unabhängige Untersuchungskommission fordern, um etwaige Versäumnisse der Regierung und der Sicherheitsbehörden im Vorfeld des Angriffs aufzuarbeiten, lehnt Netanyahu eine solche Kommission strikt ab. Stattdessen hat sich der Premierminister mehrfach mit Versuchen hervorgetan, den Sicherheitsbehörden die alleinige Verantwortung für das Versagen am 7. Oktober zuzuschieben. Gallants Drängen auf eine unabhängige Untersuchung wird von diesem auch als einer von drei Gründen genannt, die Netanyahu zur Entlassung bewogen hätten.
Gallants Vorstoß für die Einberufung ultraorthodoxer Männer zum Wehrdienst hatten vor allem Netanyahus Koalitionspartner aus den Reihen der religiösen Parteien vehement abgelehnt. Den Streit um die Wehrdienstbefreiung der ultraorthodoxen Bevölkerung hatte er auf seiner finalen Pressekonferenz gar als »wichtigste Frage für unsere Existenz« bezeichnet. Den von den beiden ultraorthodoxen Regierungsparteien vorangetriebenen Gesetzentwurf zur Fortführung des Status Quo nannte Gallant ein »diskriminierendes, korruptes Gesetz«.
Ein weiterer Reibungspunkt zwischen dem Premier und weiten Teilen der militärischen und nachrichtendienstlichen Führung ist die Einstellung bezüglich eines Geiselabkommens und die damit verbundene Frage der Weiterführung der Operationen in Gaza. Denn einem solchen Kompromiss würde die Hamas nur unter der Bedingung zustimmen, dass Israel den Krieg beenden würde – eine für Netanyahus ultrarechte Koalitionspartner inakzeptable Forderung. Aus diesem Grund würde ein Geiselabkommen den Fortbestand der derzeitigen Koalition gefährden.
Vor dem Hintergrund des zunehmenden politischen Drucks auf die Regierung entschied sich Netanyahu-Berater Eli Feldstein dazu, mehrere zum Teil manipulierte Dokumente an ausländische Medien weiterzugeben
Nachdem die Hamas Anfang September sechs israelische Geiseln ermordet hatte, schwappte eine Protestwelle durch Israel. Zehntausende wütende Demonstranten forderten ihre Regierung dazu auf, einen Geiseldeal mit der Hamas zu schließen und machten Netanyahu dafür verantwortlich, die Tötung der Geiseln durch das Untergraben eines Deals nicht verhindert zu haben.
Vor dem Hintergrund des zunehmenden politischen Drucks auf die Regierung entschied sich Netanyahu-Berater Eli Feldstein dazu, mehrere zum Teil manipulierte Dokumente an ausländische Medien weiterzugeben, um so die öffentliche Meinung in Israel zu beeinflussen und die Regierung zu entlasten. Durch das einem Bild-Journalisten zugespielte Dokument sollte der Eindruck erzeugt werden, dass die Proteste die Verhandlungen unterminieren und die Hamas stärken würden. In dem Bild-Artikel wurde fälschlicherweise der Eindruck erweckt, dass die geheimen Pläne aus der Feder von Hamas-Anführer Yahya Sinwar persönlich stammte, dabei wurde das Dokument in Wahrheit von einem niederrangigen Hamas-Funktionär verfasst und spiegelte nicht die offizielle Position der Organisation wider.
Neben der Bild veröffentlichte auch die britische Zeitung The Jewish Chronicle einen Artikel, der vertrauliche Geheimdienstinformationen falsch wiedergab, um so die israelische Öffentlichkeit zu täuschen. Netanyahu hatte daraufhin in letzter Minute die Position in den Verhandlungen mit der Hamas verändert, indem er eine permanente israelische Militärpräsenz im Grenzstreifen zu Ägypten – dem sogenannten Philadelphi-Korridor – zur Bedingung eines Abkommens machte. Da bereits im Vorfeld bekannt war, dass diese Forderung für die Hamas inakzeptabel sein würde, wurde dieser Schritt Netanyahus von vielen in Israel als durchsichtiges Manöver aufgefasst, um ein Abkommen zu verhindern.
Gegenteiligen Erklärungen der israelischen Armee zum Trotz wurde der Premier nicht müde zu betonen, dass eine Militärpräsenz entlang der Grenze unerlässlich sei, um den Waffennachschub für die Hamas sowie Schmuggel von Geiseln aus Gaza heraus zu unterbinden. Einen Tag nachdem er diese Behauptungen in einer Rede vorgebracht hatte, erschien der Artikel im The Jewish Chronicle, welcher seine Behauptungen in vollem Umfang zu bestätigen schien.
Im Vergleich zu seinem Vorgänger Gallant mangelt es Katz an signifikanter Expertise und Erfahrung im militärischen Bereich
Erst später stellte sich heraus, dass der Inhalt des Artikels größtenteils auf Fälschungen basierte. The Jewish Chronicle zog den Beitrag daraufhin zurück und äußerte sich in einem öffentlichen Statement – vergleichbare Konsequenzen zog die Bild nicht. Auch ein Hinweis auf die dubiose Quellenherkunft und die daraufhin in Israel eingeleiteten Ermittlungen sind bis heute nicht auf der Webseite nicht zu finden.
Die Neubesetzung im Verteidigungsministerium spiegelt den Versuch wieder, möglichst ein Kabinett zu leiten, aus dem wenig politischer Gegenwind zu erwarten ist: So ernannte Netanyahu seinen langjährigen Parteigenossen und Vertrauten Israel Katz als Gallants Nachfolger. Der 69-Jährige hatte zuvor bereits das Amt des Außenministers bekleidet. Von ihm ist, anders als von Gallant, somit wenig Widerstand gegenüber Netanyahus politischen Entscheidungen zu erwarten.
Außerdem wurden einige Kompetenzen des Verteidigungsministers im Zusammenhang mit der zivilen Kontrolle des Westjordanlandes bereits zu Beginn der aktuellen Legislaturperiode an den der Siedlungsbewegung nahestehenden rechtsradikalen Finanzminister Bezalel Smotrich übertragen. Im Vergleich zu seinem Vorgänger Gallant, der als ehemaliger Generalmajor und Kommandant des Südkommandos der IDF über weitreichende militärische Erfahrung verfügte, mangelt es Katz an signifikanter Expertise in diesem Bereich. Nur drei Tage nach seiner Ernennung – am 10. November – verkündete er, dass Israel die Hizbullah besiegt habe und das Ziel nun sei, die »Sicherheitssituation« im Libanon zu verändern.
Nachdem Katz nun das Ressort wechselte, ernannte Netanyahu Gideon Sa’ar zum neuen Außenminister, der zuvor noch als Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Netanyahu aktiv war. Der ehemalige Knesset-Abgeordnete galt eigentlich als größter innerparteilicher Rivale des Regierungschefs. Nach einer gescheiterten Kandidatur für den Vorsitz des Likud 2019, gründete er ein Jahr später die rechtsliberale Partei «Neue Hoffnung». Sa’ar ist ein erklärter Gegner der Zweistaatenlösung und sprach sich im Oktober 2023 dafür aus, das Territorium des Gazastreifens im Rahmen des Krieges zu verkleinern, was als implizite Befürwortung der Annexion verstanden werden kann.
Rechtsreligiöse Kräfte innerhalb des Kabinetts drängen darauf, Trumps Präsidentschaft zu nutzen, um zumindest Teile des Westjordanlandes zu annektieren
Das Amt des Außenministers gilt in Israel als traditionell nicht besonders einflussreich, weswegen auch von Sa’ar nicht zu erwarten ist, dass er erheblichen Einfluss auf Netanyahus politischem Kurs ausüben wird. In der Praxis gilt vielmehr Ron Dermer, Minister für strategische Angelegenheiten, als federführender Architekt der israelischen Außenpolitik.
Neben der Neubesetzung des Amts des Verteidigungs- und Außenministeriums sorgte noch eine dritte Personalie in Israel für Aufsehen: Nach dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA ernannte der Regierungschef Yechiel Leiter zum neuen Botschafter Israels in Washington. Leiter lebt in einer israelischen Siedlung im Westjordanland und setzt sich seit geraumer Zeit für die Belange jüdischer Siedler ein. Außerdem könnte sich Leitners Ernennung auch als richtungsweisend für den Kurs der israelischen Regierung der Trump-Administration gegenüber erweisen. Rechtsreligiöse Kräfte innerhalb des Kabinetts drängen nämlich darauf, Trumps Präsidentschaft zu nutzen, um zumindest Teile des Westjordanlandes zu annektieren. So reagierte beispielsweise Finanzminister Smotrich auf den Wahlsieg, indem er verkündete, dass 2025 »das Jahr der Souveränität in Judäa und Samaria« sei. Dieser Satz ist im Jargon der israelischen Rechten als Ankündigung einer Annexion im besetzten Westjordanland zu verstehen.
Ob es bei der Entlassung des Verteidigungsministers bleibt oder ob Netanyahu plant, noch andere Posten neu zu besetzen, ist noch nicht abzusehen. So berichtete die Times of Israel, dass auch IDF-Generalstabschef Herzl Halevi sowie Schin-Bet-Direktor Ronen Bar bald aus dem Amt scheiden könnten – offiziell konnten diese Gerüchte jedoch noch nicht bestätigt werden.
Gallants jüngste Aussagen in Bezug auf die Zukunft des Gazastreifens verdeutlichen erneut die Diskrepanz zwischen ihm und Netanyahu: So sprach er sich vehement gegen einen momentan von der Regierung diskutierten Plan aus, demzufolge Israel zukünftig die Verantwortung für die Verteilung von Hilfsgütern mittels privater Unternehmen und unter dem Schutz der israelischen Armee im Gazastreifen übernehmen könnte. Gallant bezeichnete dieses Modell als Euphemismus für den Beginn einer israelischen Militärherrschaft über den Gazastreifen, die er als »gefährlich und unverantwortlich« charakterisierte.
Auch eine unabhängige Untersuchungskommission lässt sich ohne Gallant in der Regierung nun deutlich leichter verhindern
Als Verteidigungsminister hätte Gallant einen solchen Plan höchstwahrscheinlich blockiert, doch nach seiner Entlassung scheint dem nichts mehr im Wege zu stehen. So aber gewinnt der nationalreligiöse Flügel innerhalb der Regierung, der in Teilen eine (Wieder-)Besiedlung des Küstenstreifens fordert, noch weiter an Einfluss auf die zukünftigen Pläne Israels für den Gazastreifen.
Schon während seiner Amtszeit hatte Gallant Netanyahu für dessen Weigerung kritisiert, ein alternatives Regierungs- und Verwaltungsmodell für Gaza auszuarbeiten und für den Tag nach Kriegsende zu planen. Denn weder die Rückkehr einer Hamas-Regierung, noch eine israelische Militärherrschaft sind für ihn akzeptable Optionen für den Gazastreifen: In beiden Szenarien würde Israel in Gallants Augen einen hohen Preis zahlen.
Auch eine unabhängige Untersuchungskommission lässt sich ohne Gallant in der Regierung nun deutlich leichter verhindern: Kaum zwei Wochen nach seiner Entlassung wurde bekannt, dass Netanyahu einen Gesetzentwurf vorantreibt, der solch ein Gremium zur Aufarbeitung des 7. Oktober explizit verbieten würde. Stattdessen soll lediglich eine parlamentarische Untersuchungskommission mit weniger Befugnissen eingerichtet werden. Die würde anders als üblich nicht von einem Richter geleitet werden.
Die Tragweite der Entlassung Gallants geht weit über eine bloße Personalentscheidung oder persönliche Querelen hinaus. Sie kann vielmehr als Versuch des Premierministers gewertet werden, in dem seit geraumer Zeit schwelenden Konflikt zwischen der rechtsreligiös dominierten politischen Führung und dem Sicherheitsestablishment endgültig die Oberhand zu gewinnen.