Was der Geiselaustausch zwischen Israel und der Hamas bedeutet – und warum beide Seiten den Deal als Vorwand nutzen.
Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas in Gaza besteht aus drei aufeinander aufbauenden Phasen. Die erste Phase dauert 42 Tage an und begann am 19. Januar. Sie sieht eine temporäre Einstellung sämtlicher Militäreinsätze vor. Ebenso beinhaltet sie die Freilassung von 33 israelischen Geiseln im Austausch für palästinensische Gefangene. Bislang sind etwa 90 inhaftierte Frauen und Kinder auf freien Fuß gekommen.
Zudem sieht die erste Phase einen verbesserten Zugang von Hilfsgütern in den Gazastreifen sowie den Rückzug israelischer Streitkräfte aus dicht besiedelten Gebieten sowie dem Netzarim- und dem Philadelphi-Korridor vor. Auch soll eine Rückkehr vertriebener Palästinenser in den südlichen Teil des Gazastreifens unter Aufsicht von Ägypten und Katar ermöglicht werden.
Die zentrale Frage bleibt aber, ob Premier Benjamin Netanyahu tatsächlich beabsichtigt, auch die zweite Phase komplett zum Abschluss bringen zu lassen
Parallel dazu sollen Verhandlungen für die zweite Phase beginnen. Die sieht die Freilassung der verbliebenen israelischen Geiseln vor, im Austausch für eine weitere Anzahl palästinensischer Gefangener sowie einem kompletten Rückzug des israelischen Militärs aus dem Gazastreifen. Die dritte Phase sieht die Rückführung von menschlichen Überresten, den Beginn der Umsetzung des Wiederaufbauplans, die Öffnung der Grenzübergänge und die Erleichterung des Personen- und Warentransfers vor.
Der Vertragstext schreibt für die erste Phase eine vorrübergehende Einstellung sämtlicher militärischer Operationen auf beiden Seiten vor sowie einen täglichen Stopp von Aufklärungs- und Luftwaffenflügen für zehn Stunden. An Tagen, an denen die Gefangenenaustausche stattfinden, erstreckt sich dieser Zeitraum auf zwölf Stunden.
Die zentrale Frage bleibt aber, ob Premier Benjamin Netanyahu tatsächlich beabsichtigt, auch die zweite Phase komplett zum Abschluss bringen zu lassen – denn für diesen Fall haben Innenminister Itamar Ben Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich schon mal vorsorglich ihren Rückzug aus der Regierung angekündigt. Ob der Druck aus dem eigenen Kabinett oder jener seitens der neuen Trump-Regierung größere Wirkung entfaltet, ist noch nicht abzusehen. Allerdings weist viel darauf hin, dass die Initiative des Trump-Gesandten Steve Witkoff, die den jetzigen Deal ermöglichte, eine Eintagsfliege bleiben wird, die vor allem dem Momentum rund um den Übergang im Weißen Haus getragen war. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Trump Netanyahu bereits seine Unterstützung zugesagt habe, sollte Israel sich dazu entscheiden, den Krieg weiter fortzuführen und den vereinbarten Waffenstillstand nach oder während der zweiten Phase zu brechen.
Die Waffenpause beziehungsweise das Bekenntnis in Richtung einer Befriedung spielen in den Äußerungen der Hamas-Funktionäre praktisch keine Rolle
Wenn die israelische Regierung wirklich ernsthaft entschlossen ist, den Konflikt dauerhaft zu beenden und alle Geiseln zurückzuholen, warum hat sie dann nicht einen umfassenden Deal unterzeichnet, der keine einzelnen Phasen, aber genau dieselben Ziele verfolgt? Warum riskiert sie das Leben der Geiseln zu gefährden, wenn diese auch gerettet werden können? Der Haaretz-Journalist Zvi Barel sieht in einem Kommentar in Reaktion auf das Abkommen den Grund darin, dass die Regierung Netanyahu nicht vorhat, das Abkommen in eine zweite Phase zu überführen und sich mit der Rückkehr von 33 geretteten Geiseln zufriedenstellen wird – das Schicksal der verbliebenen Verschleppten würde sie als Kollateralschaden interpretieren. Auch in vorhergehenden Zusammentreffen mit den Angehörigen der Geiseln hatte sich der Premier nicht auf ein Bekenntnis zur Umsetzung aller Phasen verpflichten lassen.
Gänzlich fehlen die Geiseln im Übrigen in den öffentlichen Statements der Hamas in Reaktion auf die Waffenruhe. »Die unglaubliche militärische und sicherheitspolitische Errungenschaft der Al-Qassam-Brigaden am 7. Oktober 2023 wird der Stolz unseres Widerstandes bleiben und von Generation zu Generation weitergegeben werden«, verkündete der stellvertretende Politbüro-Chef Khalil Hayya im Interview beim katarischen Sender Al-Araby. Auch die Waffenpause beziehungsweise das Bekenntnis in Richtung einer Befriedung spielen in den Äußerungen der Hamas-Funktionäre praktisch keine Rolle.
Insgesamt finden die Zivilbevölkerung und deren humanitäre Lage, ebenso wenig Erwähnung wie deren Wünsche für die Zukunft in Gaza. Vielmehr ist man bemüht, nicht als militärisch besiegter Vertragspartner dazustehen, der nach dem letzten Strohhalm greift. Stattdessen signalisiert die Hamas mit ihrer martialischen Rhetorik, sich bereits für die nächste Runde zu rüsten. »Dieser Krieg wird nicht mit dieser Schlacht enden: Unser Volk wird die Besatzung besiegen, auch in Jerusalem und den heiligen Stätten – bald, so Gott will«, schloss Hamas-Funktionär Khalil Hayya seinen Monolog im katarischen Fernsehen.