Lesezeit: 12 Minuten
»Wir wollen Reformen, keine Revolution«

Iranisch-amerikanische Schriftstellerin Sahar Delijani

Interview

Die iranisch-amerikanische Schriftstellerin Sahar Delijani über ihren Debütroman »Kinder des Jacarandabaums«, den tragischen Lebensweg politischer Aktivisten und deren Kinder im Iran der 1980er und das Vermächtnis der »Grünen Bewegung«.

Iran 1983. Die Revolution, die zum Sturz von Schah Mohammed Reza Pahlavi führte, liegt erst wenige Jahre zurück, doch von der anfänglichen Euphorie der Menschen ist nicht mehr viel übrig. Es herrscht Krieg gegen den Irak. Gleichzeitig werden politische Gegner der Islamischen Republik verfolgt und inhaftiert. So auch Azar. Die Lehrerin ist Anfang Zwanzig und schwanger. Ihre Tochter Neda kommt im Evin-Gefängnis in Teheran zur Welt und wird kurz darauf den Großeltern übergeben.

 

Der Roman »Kinder des Jacarandabaums« von Sahar Delijani erzählt die Geschichte zweier traumatisierter Generationen. Von Menschen wie Azar und ihrem Ehemann Ismael, die nach der Revolution 1979 ins Gefängnis kommen, um beschädigt wieder ins Leben zurückzukehren oder gar in der Haft zu sterben. Und von Kindern wie Neda, die bei Verwandten aufwachsen, ihre Eltern später als Fremde kennen lernen und mit deren Schweigen nicht umgehen können.

 

Delijanis Roman reicht bis in die Gegenwart, als im Zuge der Präsidentschaftswahl 2009 die nächste Generation auf die Straße geht und deren Protest ebenfalls niedergeschlagen wird. »Kinder des Jacarandabaums« ist ein vielschichtiges und bedrückendes Psychogramm von Menschen, die zwischen Resignation und Euphorie pendeln.

 

zenith: Frau Delijani, nach der Lektüre Ihres Romans hat man den Eindruck: Alle Iraner sind lebende Tote.

Sahar Delijani: Ich denke, die Situation ist so. Was ich ausdrücken wollte, ist, dass die Charaktere alles tun, was ihnen möglich ist, um »Lebende« zu werden und zu sein. Das ist eigentlich der ganze Sinn meines Buches. Obwohl die Situation damals – und das setzt sich bis heute fort – sehr schwierig und gewaltsam war, haben die Menschen weiterhin geliebt, Dinge probiert, waren solidarisch und haben sich gegenseitig geholfen. Sie sind Menschen geblieben.

 


Sahar Delijani

kam 1983 in Teherans Evin-Gefängnis zur Welt, nachdem ihre Eltern als politische Aktivisten verhaftet worden waren. 1996 verließ die Familie den Iran und siedelte in die USA über. An der Universität von Berkeley studierte Delijani Vergleichende Literaturwissenschaften und zog 2006 mit ihrem Ehemann nach Turin, wo sie noch heute lebt.


 

Aber auf fast jeder Seite Ihres Buches finden sich Wörter wie Angst, Schmerz und Wut. Wie erklären Sie sich diese Ambivalenz in den Romanfiguren, gerade den jüngeren? Einerseits sind sie energisch und zuversichtlich, andererseits erschöpft und depressiv.

Ich glaube, das ist, was den Iran in den letzten dreißig Jahren charakterisiert hat. Deswegen sprechen wir vom Iran sozusagen als einem schizophrenen Land. Zu einem Zeitpunkt sind wir enthusiastisch, kommen jedes Mal auf die Straße und tanzen, wenn wir irgendetwas gewonnen haben. Dann sieht es so aus, als seien wir das glücklichste Land der Welt. Zwei Tage später schaut es ganz anders aus, und zwar weil die Realität eine sehr repressive ist. Und in einer repressiven Realität gibt es Angst und Schmerzen. Manchmal, als ich das Buch schrieb, wurde mir klar, wie traurig die Situation im Iran ist. Und dass zu schreiben, machte wiederum mich traurig. Ich merkte, dass es wahr ist, gleichzeitig aber, dass die Menschen versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.

 

Aber man gewinnt dennoch den Eindruck, dass das Pessimistische überwiegt. »Was ist das Leben anderes als ein langes Wiegenlied der Trennung?«, denkt Leila, eine junge Frau in Ihrem Buch, die in den 1980er Jahren ihren Freund allein nach Deutschland gehen lässt. Ist es das Schicksal der Iraner, auf ewig auf eine Besserung ihrer Lage zu warten?

In diesem Fall dachte ich, als ich es schrieb, auch an das Los von uns Iranern, das unser Schicksal geworden ist, und zwar an Emigration. Wir brechen ständig auf, wir lassen ständig Menschen zurück, aber nicht jeder kann hinaus. Ich glaube, das ist, worauf die Trennung bei Leila beruht. Ja, es ist pessimistisch, aber nicht am Ende des Buches. Da bin ich optimistisch.

 

Sie meinen, was das Verhältnis von Neda und Reza betrifft, dem Sohn eines früheren Revolutionswächters, die sich beide in Italien kennenlernen. Der Name von Azars und Ismaels Tochter lässt an Neda Agha-Soltan denken, eine junge Iranerin, die 2009 bei den Protesten gegen die umstrittenen Wahlergebnisse ums Leben kam. Eine Hommage?

Auf gewisse Weise ja. Das ist das einzige Mal, dass ich einen direkten und expliziten Bezug zu den Unruhen im Jahr 2009 nehme. Als ich den Roman schrieb und zum letzten Kapitel kam, hatte die Figur noch einen anderen Namen. Ich änderte ihn, weil ich dachte, dass es so traurig ist um die wirkliche Neda, die in all ihrer Unschuld und durch Zufall dort auf der Straße war und getötet wurde. Es hätte jeden treffen können.

 

Was war eigentlich der Anlass, den Roman zu schreiben?

Es gab eigentlich keinen besonderen. Ich war im Iran gewesen, danach in Australien. Und dann entschied ich mich, Kurzgeschichten zu schreiben, zu veröffentlichen und zu schauen, was danach kommt. Doch dann wurde mir bewusst: Jedes Mal, wenn ich eine Kurzgeschichte beendete und eine neue anfing, kehrte ich zurück zu den Ereignissen in den 1980er Jahren. So entstand das Buch ganz allmählich.

 

»Bewahre die persische Sprache!«, heißt es in Ihrem Roman. Warum haben Sie ihn auf Englisch geschrieben?

Eine gute Frage. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Es war keine bewusste Entscheidung. Auf Englisch zu schreiben, war angenehmer. Ich habe in Kalifornien gelebt, seitdem ich zwölf Jahre alt war. Und ich absolvierte meine höhere Ausbildung auf Englisch. An dem Tag, an dem ich entschied, Geschichten zu schreiben, kam das Englische automatisch. Als ich noch jünger war, schrieb ich Gedichte in Farsi.

 

»Wir müssen uns erinnern, was vor dreißig Jahren passiert ist«

 

»Kinder des Jacarandabaums« hat ein großes Ensemble an Figuren, die miteinander in Beziehung stehen. Ihre Vielzahl und die Parallelen in ihren Erlebnissen verwirren.

Ich wollte eine Welt schaffen, bei der man nicht sagen kann, wer wer ist. Denn ich wollte zeigen, dass es nicht darum geht, was wem passiert, sondern was passiert. Und es kann jedem passieren. Die Erfahrung wird von allen geteilt. Sie ist die gleiche für jeden. Nachdem das Mädchen Neda im Gefängnis geboren ist, sieht man es vorerst nicht mehr. Aber im nächsten Kapitel treten drei Kinder auf, die aus dem Gefängnis kommen. Ein Kind folgt dem Leben eines anderen. Mit jedem Kapitel werden sie älter. Und die Frauen, die der Leser mit Nedas Mutter Azar in der Gefängniszelle trifft, bilden so etwas wie einen Stammbaum des Buches, einen »Gefängnis-Stammbaum«.

 

Stichwort Baum. Warum haben Sie sich für den Jacarandabaum entschieden?

Als ich bereits in Kalifornien war, schaute meine Großmutter, die meinen Bruder und mich erzogen hat, als meine Eltern im Gefängnis waren, mit uns Fernsehen. Als sie das Bild eines Jacarandabaums sah, sagte sie: »Oh, ich habe versucht, einen solchen Baum in unserem Garten in Teheran zu pflanzen, aber es hat nicht funktioniert, weil es zu kalt war.« Jahre später, als ich den Roman schrieb, erinnerte ich mich an die Idee meiner Großmutter, einen Baum zu haben, aber keinen zu bekommen. Und ganz allmählich begann dieser Baum für mich die iranische Revolution zu symbolisieren. Genauso wie meine Großmutter und meine Eltern wollten, dass die iranische Revolution von 1979 zu einem wunderschönen Baum wird – sie ist nie einer geworden. Der Baum ist ein utopisches Bild von etwas, das nie zu dem wurde, was es werden sollte.

 

Eltern wie Kinder werden in Ihrem Roman irgendwann von der Vergangenheit eingeholt. Ein Entrinnen ist nicht möglich.

Die Vergangenheit ist für jeden immer ein schwieriges Thema. Aber gleichzeitig ist die historische, die nationale Vergangenheit wichtig, um an Geschehnisse zu erinnern. Ich mag in diesem Zusammenhang nicht das Wort »Vergangenheit« verwenden, sondern eher »Erinnerung«. Es geht darum, Erinnerung lebendig zu halten. Ansonsten haben wir keine Zukunft oder das gleiche kann noch einmal passieren. Wenn sich der Iran sehr langsam und mühsam eine demokratische Zukunft schaffen will, muss er sich daran erinnern, was dreißig Jahre vorher passiert ist. Damals, in den Jahren von 1983 bis 1988, wurde im Iran die absolute Diktatur geschaffen.

 


Kinder des Jacarandabaums

Sahar Delijani

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller

Droemer, 2014

320 Seiten, 19,99 Euro


Warum ab dem Jahr 1983?

Dieses Jahr markiert den Augenblick, als das Regime alle politischen Aktivisten unterschiedlichster Couleur verhaftet hat. In den vier Jahren davor war noch die Rede von Demokratie, dass jeder eine Stimme habe und kommen und wählen solle. 1983 änderte sich alles. Da war Schluss für alle. 1988 ist die Regierung noch einen Schritt weiter gegangen und hat viele der inhaftierten politischen Gegner auch physisch beseitigt (Im Zuge der Massenhinrichtungen in den Gefängnissen im Sommer 1988; Anm. d. Red.).

 

Später werfen die Kinder ihren Eltern vor, ihnen die Wahrheit vorenthalten zu haben. Wäre es besser gewesen, ihnen das Geschehene früher zu erzählen?

Es ist nicht möglich, seinem Kind eine solche Wahrheit wie den Tod des Vaters vorzuenthalten. Ein Beispiel ist die Figur der Sheida, die etwas so Persönliches nicht weiß. Es hat auch eine soziale Relevanz für das ganze Land, das so etwas nicht wusste. Es passierte mitten in Teheran, nicht weit weg und niemand wusste davon.

 

Wissen wirklich so wenige, was im Sommer 1988 im Iran passiert ist?

Es gibt unglaublich viele Menschen, die das nicht wussten – und es noch immer nicht wissen. Viele Iraner, die mich fragen, worum es in meinem Roman geht, sind erstaunt, wenn sie von den damaligen Ereignissen hören.

 

In Ihrem Roman geht es um Iraner, die nach ihrem Gefängnisaufenthalt in ihrer Heimat bleiben, aber auch um solche, die ins Ausland gehen. Welchen Unterschied sehen Sie zwischen den beiden Gruppen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, denn es gibt eine Menge Unterschiede. Wir haben uns ein Leben in einem anderen Land geschaffen. Wir sprechen andere Sprachen. Unsere Realität, unser Umgang mit alltäglichen Dingen, hat sich verändert. Wenn man in den Iran zurückgeht, sieht man, dass die Menschen eingeschränkt sind. Sie können nicht das sagen, was sie wollen, nicht den Film schauen und das Buch lesen, das sie schauen und lesen möchten. Das ändert alles. Man kann nicht zu einem Konzert gehen, das irgendwo im Geheimen stattfindet, ohne Angst zu haben, dafür ins Gefängnis zu kommen. Was ist das für eine Art von Leben? Jedes Mal, wenn man eine Feier macht, ist man besorgt. Ich denke, das hat Auswirkungen auf die Seele der Menschen.

 

»Ich bin für Veränderungen – klein und langsam, aber konkret«

 

Teheran wird in Ihrem Roman einmal als ein »schlafender Vulkan« bezeichnet. Wann wird er wieder ausbrechen?

Ich hoffe sehr, dass das nicht passiert. Auch die Menschen im Iran hoffen, dass es nicht dazu kommt. Denn das führt nur dazu, dass Menschen wieder inhaftiert, gefoltert und einige von ihnen getötet werden. 2009 waren wir so verängstigt über das, was geschehen ist. Wenn man Reformen will, sollte man eigentlich nicht erschossen werden. Ich denke, dass sich die Menschen jetzt wünschen, dass sich die Dinge langsam auf politischer Ebene ändern und nicht auf der Straße. Ich hoffe, dass einige der Fragen beantwortet werden, damit es nicht wieder zu einer Explosion kommt. Ein Land kann nicht alle dreißig Jahre eine Revolution haben.

 

Im Iran gab es drei im 20. Jahrhundert: Erstens die Konstitutionelle Revolution zwischen 1905 und 1911; zweitens die von Großbritannien und den USA initiierten gewaltsamen Unruhen Anfang der 1950er Jahre infolge der Verstaatlichung des Öls durch Premierminister Mohammed Mossadegh; drittens die Revolution von 1979.

Das ist zu viel. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ist es genug und nicht mehr der richtige Weg, den man einschlagen sollte. Ich persönlich bin für Reformen, für Veränderungen, die, wenn sie auch klein sind und langsam kommen, konkret sind, nicht oberflächlich.

 

Gehören die Menschen, die 2009 auf die Straße gingen, auch zu einer »verlorenen Generation«?

Ich denke nicht. Was an der »Grünen Bewegung« – zumindest für mich – so wichtig war: Bis dahin wusste ich nicht, in welch großem Umfang die Menschen nicht mehr wollten, dass das Regime so weitermacht wie bisher. Ich dachte, es wäre eine Minderheit. Das Bedeutsame war, dass die Menschen ihr Gesicht gezeigt haben. Nach dem Motto: »Wir sind erwachsen geworden, haben eine Stimme und wollen Dinge verändern. Ihr könnt uns nicht nach Hause zurückschicken.«

 

Die Proteste wurden niedergeschlagen.

Und Mahmud Ahmadinejad blieb weiter Präsident. Aber die Tatsache, dass die Menschen weiter wählen gegangen sind und auch bei den letzten Wahlen wieder die Reformer gewählt haben, geht zurück auf die »Grüne Bewegung«. Das Ganze hat seinen Sinn erfüllt, nicht auf der Straße, aber politisch. Ich denke, es ist noch nicht vorbei. Außerdem haben wir von der Vergangenheit unserer Eltern gelernt. Und zwar, dass wir Reformen und keine Revolution wollen. Denn eine Revolution verursacht viel Blutvergießen und Gewalt und Dinge, die außer Kontrolle geraten können. Was wir wollen, ist etwas auf dem aufbauen, wofür unsere Eltern gekämpft haben, und dann einen Schritt weitergehen.

Von: 
Behrang Samsami

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