Ende Oktober jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland zum 50. Mal. Doch gefeiert wird zunächst nicht. Dabei gäbe es Grund genug, wie ein von Cem Özdemir und Wolfgang Schuster herausgegebener Essayband aufzeigt.
Deutschland feiert diesen Tag nicht. Am 30. Oktober jährt sich zum fünfzigsten Mal der Abschluss des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Seit einem halben Jahrhundert leben wir nun also zusammen, und alles, was Deutschland dazu einfällt, ist, keine Party zu schmeißen und kein Denkmal aufzustellen. Dabei haben die Menschen, die damals auf der Suche nach Arbeit hierher aufbrachen, Deutschland eine ganze Kultur mit all ihren Facetten und Fragmentierungen mitgebracht. Sie haben geholfen, das Wirtschaftswunder auf die Beine zu stellen. Haben sich »halb totgeschuftet«, wie Feridun Zaimoglu wütend in der ZEIT sagt. Er fordert: »Man sollte diesen großartigen Menschen ein Denkmal setzen, um sie zu würdigen.«
Doch die Party zum Jubiläum fällt aus, und ein Treffen von Angela Merkel und Tayyip Erdogan ist auf Anfang November verschoben. Sicher, der türkische Ministerpräsident kann gerade nicht weg, nachdem ein Erdbeben der Stärke 7,2 die Region um die Stadt Van im Osten der Türkei erschüttert hat und das Land an der Grenze zu einem neuen Bürgerkrieg steht. Tayyip Erdogan, der so gern in Deutschland vor »seinen Landsleuten« auftritt und die Massen überzeugt, dass sie doch Türken seien, wenngleich sie auch in Europa lebten. Da ist er sich ganz einig mit Kanzlerin Merkel, die sicher auch nicht auf die Idee käme, die Gastarbeiter und deren Kinder als Deutsche zu bezeichnen. Auch wenn die Deutschen inzwischen einsehen mussten, dass Deutschland wohl doch de facto ein Einwanderungsland ist.
Das Gefühl aber, dass sie Deutschland mehr kosten als bringen, diese Einwanderer, das ist stetig präsent in der öffentlichen Debatte, nicht nur in den Thesen von Thilo Sarrazin, sondern auch in den Feuilletons der großen Zeitungen. Und manchmal zwischendurch darf auch mal jemand von den »Betroffenen« reden, wie sie die Geschichte der Einwanderung denn eigentlich sehen. So wie Feridun Zaimoglu es jüngst getan hat. Dass er nun gerade eine Hasstirade gegen all die bürgerlichen Islamkritiker und den ganzen Kulturbetrieb losließ, war wohl nicht so gedacht. Doch von Zaimoglu, dem Autor der Bücher »Kanak Sprak«, »Koppstoff« und »Abschaum« ist man harte Worte gewohnt.
Wenn schon keine Party stattfindet
Auch Cem Özdemir könnte man als »Betroffenen« bezeichnen, schließlich ist er ein Gastarbeiterkind und hat aufgrund seiner persönlichen Erfolgsstory sicher mehr als genug Grund, sich bei seinen Eltern zu bedanken. Der Co-Vorsitzende der Grünen äußert sich selten so harsch zum Thema Rassismus und Integration, wie es Zaimoglu getan hat, und doch versucht Özdemir im Bereich Migrationspolitik, seine Glaubwürdigkeit als Sprachrohr und Anwalt für jene zu erhalten, die wie seine Familie einmal aus der Türkei eingewandert sind. Auch wenn nur ein Bruchteil der »Deutschen mit Migrationshintergrund« die Grünen wählt oder wählen würde.
Wo schon keine Party stattfindet und auch keine Statue die schwere Arbeit der Zugezogenen und ihrer Kinder ehrt, hängen die Grünen aber zumindest ein mehrere Quadratmeter großes Transparent an die Fassade ihrer Parteizentrale, auf dem sie sich mehrsprachig bei den Menschen bedanken. Dafür, dass sie gekommen und geblieben sind.
Darüber hinaus hat Cem Özdemir zusammen mit dem Stuttgarter Bürgermeister Wolfgang Schuster ein Buch zum Jubiläum herausgegeben. »Mitten in Deutschland – Deutsch-türkische Erfolgsgeschichten« soll nicht nur positive Geschichten über die Einwanderer und ihre Geschichten erzählen, es ist auch als Gegenpol zu Sarrazins kruden Thesen zu lesen.
Fünfzig subjektive Sichtweisen
In kleinen Essays kommen über fünfzig Menschen zu Wort, die meisten davon türkischen Ursprungs. Es sind ganz unterschiedliche Texte, viele sehr subjektive Sichtweisen auf fünfzig Jahre Einwanderung aus der Türkei. Einige der Autoren sind bekannt – unter ihnen der Autor Osman Engin, die Psychiaterin und Ärztin Meryem Schouler-Ocak und die Rapperin Aziza A. Andere wurden wohl aufgrund ihrer persönlichen Erfolgsgeschichte ausgewählt, auch wenn ihre Namen nicht sofort einen Wiedererkennungseffekt haben.
Es sind viele Jubeltexte darunter, Danksagungen an Deutschland, welches den jeweiligen Autoren Chancen gegeben und Möglichkeiten eröffnet habe. Angesichts der fehlenden Dankbarkeit auf der anderen Seite sind diese Texte ein wenig mühsam zu lesen und wirken fast unterwürfig, auch wenn sie im Einzelfall sicher nicht so gemeint sind.
Doch manche Essays sind anders, sie stechen raus – und machen das Kompendium dann doch spannend zu lesen. So titelt der Journalist Ömer Erzeren, Deutschland habe ihn nicht geliebt. Erzeren, der mit drei Jahren nach Deutschland kam, hat dem Land inzwischen bewusst den Rücken gekehrt und pendelt seitdem zwischen Istanbul und Buenos Aires. Denn Erzeren sagt, im deutschen Lebensalltag gebe es kein Entrinnen vom Rassismus. Und in Argentinien werde niemand seinen Sohn mit achtzehn Jahren fragen, ob er Argentinier oder Türke sei.
Schade, dass wir noch nicht weiter sind
Dagegen beschreibt Cagdas Karakurt, ein in Freiburg lebender Politologe und Ethnologe, mit viel Humor den Kulturschock, den er erlebte, als er aus der nordischen Großstadt Hamburg ins beschaulich-sonnige Freiburg umzog. Und er fügt ein Bio-Brot-Backrezept hinzu, vielleicht um zu zeigen, dass auch unter den Einwanderern die ganz normale Aufsplitterung in Aldi-, Edeka-, Gourmet- und Bio-Nasen existiert.
Vural Öger behauptet, als er Anfang der sechziger Jahre nach Deutschland gekommen sei, habe es noch keine Fremdenfeindlichkeit gegeben. Und Necla Kelek lobt die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, und meint, dass der Mangel an Stolz der Grund sei, warum die Deutschen bei anderen so ungern Missstände anprangerten. Sarrazins Thesen hatte Kelek da wohl kurzzeitig vergessen und Vural Öger dafür seine Hausaufgaben in Geschichte schlecht gemacht. Es sind eben subjektive Erzählungen, interessant genug, sich mit ihnen auseinander zu setzen.
Özdemirs und Schusters Buch ist ein Symbol dafür, dass es immer noch nötig ist, auf die Vielfalt und den Erfolg der Einwanderer hinzuweisen und gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass sie Deutschland bereichert haben, dass man sie viel zu oft ungerecht behandelt, und dass das Zusammenleben um einiges einfacher sein könnte, würde die Einwanderungsgesellschaft sich auch als solche begreifen. Es ist schade, dass wir noch nicht weiter sind.
Mitten in Deutschland. Deutsch-türkische Erfolgsgeschichten
Cem Özdemir, Wolfgang Schuster (Hrsg.)
Herder Verlag, 2011
330 Seiten, 19,95 Euro