Die Historikerin Elke Hartmann erforscht armenisch-osmanisches Leben vor 1915. Sie erklärt, warum trotz zahlreicher Quellen so wenig über diese Zeit bekannt ist und welche Folgen die türkische Haltung zum Völkermord hat.
zenith: Elke Hartmann, Ihr Forschernetzwerk »Houshamadyan« will das armenische Leben im Osmanischen Reich vor dem Völkermord rekonstruieren. Ist darüber denn so wenig bekannt?
Elke Hartmann: Darüber ist in der Tat sehr wenig bekannt. In der historischen Forschung zum Osmanischen Reich kamen die Armenier sehr lange so gut wie nicht vor. Erst in letzter Zeit hat sich das geändert. Nun wird gerne der armenische Beitrag etwa zum Theater, zum Buchdruck, zur Architektur, zur Malerei oder zur Fotografie im Osmanischen Reich erwähnt. Das sagt uns aber noch nichts über ihr Alltagsleben und über das Zusammenleben mit Nicht-Armeniern sowie mögliche Konflikte und deren Ursachen.
Was ist Ihr Eindruck von dem Material, das Sie gesammelt haben?
Es war gegen Ende des Osmanischen Reichs in vielen Fällen ein Leben zwischen großen Hoffnungen, geradezu einer Aufbruchstimmung einerseits – und ständiger Gefährdung andererseits. Dabei muss man aber immer bedenken, dass die Armenier beileibe keine homogene Gemeinschaft waren. Sie teilten sich in verschiedene soziale Schichten und Gruppen auf, die auch auf politischem Feld unterschiedliche Präferenzen hatten. Ein genaueres Bild können uns daher erst mikrohistorische Detailstudien vermitteln: etwa über eine armenische Kaufmannsfamilie in Erzurum oder über den Alltag in einem armenischen Dorf in der Provinz Diyarbakir.
Was ist der Grund dafür, dass es solche Studien bislang nicht gibt? Ist die Quellenlage so schlecht?
Ganz im Gegenteil. Es gibt Abertausende von zugänglichen Quellen, die schlicht noch niemand eingehend verwendet hat. Am wichtigsten sind die armenischen Quellen. Sie sind bislang noch viel zu wenig in die Forschung eingegangen – dabei halten sie einen unermesslichen Reichtum an Informationen und Einblicken bereit.
Elke Hartmann
studierte Geschichte und Islamwissenschaft in Berlin. Gemeinsam mit dem Historiker Vahé Tachjian gründete sie 2010 das Forschernetzwerk »Houshamadyan« (Erinnerungsbuch), dessen Ziel es ist, das Alltagsleben der Armenier im Osmanischen Reich zu erforschen.
www.houshamadyan.org
In Istanbul gab es damals eine Reihe armenischer Zeitungen ...
Ja, aber nicht nur dort, sondern früh auch schon in einigen Provinzen. Nach 1908 gab es einen regelrechten armenischen Presse-Boom. Die armenische Kirche wiederum hat immer wieder Geistliche in die Provinzen geschickt, um über die Lage der Gemeinden zu berichten. Und es gibt viele armenische Selbstzeugnisse, die ebenfalls noch kaum einbezogen worden sind – ebenso wie türkische. Und schließlich enthält auch das Osmanische Staatsarchiv in Istanbul Tausende von Dokumenten, die Aufschluss über armenisches Leben in den Provinzen geben.
Wenn es also nicht an fehlenden Quellen liegt – wieso ist das armenische Alltagsleben vor 1915 bis jetzt so unbekannt?
Das hat vor allem mit der politischen Überlagerung des Themas zu tun: Die offizielle türkische Leugnung des Völkermords an den Armeniern hat wissenschaftliche Forschung bislang unterbunden – direkt oder indirekt. In der Türkei selbst war das Thema lange tabu, erst in den letzten Jahren sind neue Freiräume entstanden. Der türkische Staat hat aber auch weltweit regelmäßig wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema zu verhindern versucht – teils mit massiven diplomatischen Interventionen. Diese Politik setzt sich bis heute fort.
War die Türkei damit erfolgreich?
Ja. Besonders gravierend finde ich, dass sich in der Folge die internationale Osmanistik, Turkologie und Orientwissenschaft allgemein nicht mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigt hat – ja, nicht einmal mit den Armeniern im Osmanischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg. Damit hat sie sich der türkischen Leugnung passiv, teils aber auch mit aktiven Beiträgen angeschlossen. Auch hier gibt es allerdings in jüngster Zeit erste zaghafte Veränderungen.
Das heißt, es gibt eine Komplizenschaft der internationalen Osmanistik mit der offiziellen türkischen Geschichtsauffassung?
Ich würde eher von einer besonderen Zurückhaltung sprechen wollen, für die häufig auch Argumente des postkolonialen Diskurses ins Feld geführt werden: Man wolle sich nicht in kolonialistischer Manier in die Angelegenheiten der Türkei einmischen. Im Ergebnis ist diese Zurückhaltung aber eben keine Neutralität, sondern eine Position, die die offizielle türkische Lesart stützt – und damit letztlich auch die Fortsetzung des Völkermords, nämlich seine Leugnung, ermöglicht. Insofern bleibt mir diese Haltung unverständlich.
Auch die Armenier waren lange gefangen in der Logik der Leugnung. Sie haben dem keine Wissenschaft, sondern politische Kampagnen entgegengesetzt. So gibt es eine Fülle von Quelleneditionen, die »beweisen« sollen, dass der Völkermord tatsächlich stattgefunden hat und dass er beabsichtigt war – aber kaum Historiographie.
Von türkischer Seite heißt es, man habe 2009 angeboten, die Ereignisse von 1915 von einer unabhängigen Forscherkommission untersuchen zu lassen, Armenien habe aber abgelehnt.
Diese Protokolle wurden auch von Armenien unterzeichnet, ratifiziert haben sie jedoch weder Eriwan noch Istanbul. Ich persönlich glaube: Wer Interesse an wissenschaftlicher Aufarbeitung hat, schafft Räume für die breite Erforschung des Geschehens in seinen Kontexten. Eine staatlich eingesetzte Kommission mit politischen Vorgaben erscheint mir als weniger geeignetes Instrument.
Apropos breite Aufarbeitung: Wie haben wir uns das Leben einer typischen armenischen Familie in einer osmanischen Provinzstadt oder einem Dorf vorzustellen?
Die armenische Familie im Osmanischen Reich um 1900 gibt es wohl nicht. Einen Eindruck von der Vielfalt gewinnt man, wenn man sich Familienfotos ansieht: In Kleidung und Haltung spiegelt sich etwa der Reichtum einiger Fernhändler wider – im Kontrast zur Verelendung der Bauern aus von Krieg, Plünderungen und Fehden heimgesuchten Dörfern. Man sieht traditionelle Trachten und Frauen mit Kinnschleier ebenso wie Familien in westlicher Kleidung. Insgesamt kann man sagen, dass manche armenischen wirtschaftlichen Eliten ihre Chance zum Aufstieg genutzt haben. Gleichzeitig zeigten Überfälle, Morde, Entführungen oder auch staatliche Repressionen immer wieder die Grenzen der Teilhabe auf.
Schon vor 1915 gab es Massaker an Armeniern. Hat das Zusammenleben mit Muslimen überhaupt je funktioniert?
Man sollte nicht den Fehler machen, das halbe Jahrtausend, das Armenier unter osmanischer Herrschaft gelebt haben, nur durch die Brille der Massaker und der Vernichtung zu sehen. Über Jahrhunderte hinweg prägten Kriege und Kämpfe das Siedlungsgebiet der Armenier. Das Zusammenleben – oder vielleicht auch nur Nebeneinander-Her-Leben – zwischen Armeniern und Muslimen muss jenseits dessen aber einigermaßen funktioniert haben, wenn auch nicht nach heutigen Maßstäben. Die Loyalität der Armenier und die Hoffnungen, die sie noch Anfang des 20. Jahrhunderts in die Erneuerungsfähigkeit des Osmanischen Reichs steckten, sind sonst nicht zu erklären.
In der Türkei hört man in Bezug auf 1915 oft: Damals war eben Krieg, jeder hat jeden umgebracht ...
Man muss genau unterscheiden: 1915 hat eine Regierung mit Hilfe eines Staatsapparats einen definierten Teil der eigenen Bevölkerung systematisch vernichtet. – In einem Krieg bekämpfen sich zwei Staaten; ein Bürgerkrieg entsteht aus dem Zerfall von Staatlichkeit. Beides war im Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg nicht gegeben. Wir sprechen bei der Schoa ja auch nicht von Krieg oder Bürgerkrieg, weil die Juden im Warschauer Ghetto sich erhoben und es kleine jüdische bewaffnete Widerstandsgruppen gab. Dass der Krieg auch unter den Muslimen schreckliche Opfer gefordert hat, steht ebenfalls auf einem anderen Blatt und kann nicht gegen die Genozidopfer aufgerechnet werden.