Lesezeit: 9 Minuten
Autor Abbas Khider aus dem Irak im Interview

»Die Literatur kann den Menschen eine Stimme geben, die keine haben«

Interview

Autor Abbas Khider über seinen neuen Roman »Brief in die Auberginenrepublik«, die Aufgabe von Literatur und Aufarbeitung im Irak.

zenith: Die Zufälligkeit von Gut und Böse fällt in allen Ihren Büchern auf. Würfeln Sie das Schicksal Ihrer Protagonisten und deren Rolle in der Gesellschaft aus?

Abbas Khider: Es gibt ja nicht nur schwarz und weiß. Der Hintergrund oder der Geburtsort eines Menschen spielt eine große Rolle. Und manchmal handeln wir und wissen nicht, dass wir wie Täter handeln. Und manchmal benehmen wir uns wie Täter aber sind im Kern Opfer. Hinter jeder Diktatur steht auch eine Gewaltkultur, mit ein paar Verurteilungen ist es danach nicht getan. Diese ganze Komplexität und Vielfalt des Geschehens, diesen Regenbogen des Grauens, versuche ich darzustellen.

 

»Die wirklich politisch Aktiven verlieren immer ihr Leben«

 

In Ihren Romanen über den Irak ist kein Platz für die politischen Kämpfer, Ihre Protagonisten sind scheinbar zufällig zu Gegnern des Systems von Saddam geworden.

Ich kenne keinen politisch Aktiven, der überlebt hat. Nur diejenigen, die ins Exil gegangen sind. Die wirklich Aktiven, die gekämpft haben, verlieren immer ihr Leben. Die Idee ist aber auch zu zeigen, dass in einem System, in dem jeder verdächtig ist auch jeder für das System ein Täter werden kann. Es könnte jeder plötzlich im Knast landen, ich habe das mit eigenen Augen gesehen.

 

Die Menschen in Ihren Romanen haben kaum Einfluss auf ihr Leben, sind fast alle ohnmächtig dem Geschehen ausgeliefert.

Ja, das ist wie im Dritten Reich, jedes Wort konnte das Ende bedeuten. Analphabeten, Unpolitische, einfache Menschen, die keine Ahnung von Politik haben, saßen jahrelang im Gefängnis, wurden gefoltert. Wie fühlen sich diese Menschen? Was denken sie? Meine Aufgabe ist es, zu zeigen, wie dieses System funktioniert und wie schrecklich es war.

 

Welche Bedeutung haben die Leitmotive Ohnmacht und Willkür für Sie?

Das ist die Realität. So leben Menschen als Gefangene, Soldaten oder Flüchtlinge in der Diktatur. Das gilt auch für Asylanten in Europa. Sie sind abhängig von irgendeinem Sachbearbeiter, der für sie unterschreibt und entscheidet, ob ihr Leben beschissen ist oder nicht. Ich habe das Gefühl, die Figuren in den Romanen der demokratischen und die in den Romanen der nicht demokratischen Länder unterscheiden sich. In den demokratischen Ländern widmen sich die Romane mehr dem inneren Leben der Figuren. In den Romanen der anderen Länder wird das Leben mehr von politischen Fakten bestimmt und das Ich ist immer irgendwie zerstreut in verschiedenen Ereignissen und Abhängigkeiten. Hätte ich die Möglichkeit, dass meine Figuren sich aus Luxus langweilen, würde ich nicht nein sagen. Aber das ist nicht der Fall.


Abbas Khider

wurde 1973 in Bagdad geboren und lebt seit 2000 in Deutschland. 1993 bis 1995 saß er als politischer Häftling in irakischen Gefängnissen. Diese Erfahrungen verarbeitete er literarisch in seinem Roman »Die Orangen des Präsidenten«. Für sein vielbeachtetes Debüt »Der falsche Inder« erhielt Khider 2010 den Chamisso-Förderpreis.

 

 
Und wie geht man mit der Ohnmacht und der Willkür um?

Viele reagieren mit Humor, andere kämpfen dagegen an, wieder andere ziehen sich innerlich zurück und werden religiös. Jeder hat seinen eigenen Weg, damit umzugehen. Diese Geschichten, diese Menschen, ihre Träume zu dokumentieren, das versuche ich.

 

Wie wird heute mit den kleinen Tätern, den Aufsehern oder Wärtern, aus den Zeiten des Saddam-Regimes im Irak umgegangen?

Am Anfang wurden viele ermordet oder sind abgehauen. Es gab auch einige, die dann plötzlich mit den Amerikanern und mit den neuen Parteien zusammengearbeitet haben.

 

Dann kann es einem passieren, dass man heute seinen ehemaligen Folterknecht im Café wieder trifft?

Ja. Und sogar im irakischen Parlament.

 

»Mit einem Messer kann man Obst schneiden oder jemanden töten. Und es gibt Menschen, die können beides«

 

Und sind das hilflose, eigentlich armselige kleine Menschen wie die Figur des »Charlie Chaplin« in Ihrem Roman »Die Orangen des Präsidenten«?

Nein, aber es gibt Charaktere, die mit einem Messer jemanden töten oder Obst schneiden können. Und es gibt Menschen, die können beides. Sie sind gewissermaßen Angestellte in einem diktatorischen System – genauso können sie sich aber  auch in ein demokratisches einfügen. Und solche Menschen gibt es unglaublich viele!

 

Sie betonen die Bedeutung des Archivierens und auch Ihre Protagonisten schreiben auf, was ihnen widerfährt – aber sie alle verlieren immer ihre Manuskripte. Warum der Verlust?

Das hat mit meiner Vorstellung von Schrift und Schreiben zu tun. Genauso das Lesen, es ist plötzlich eine politische Tat. Im Irak war auch das verboten. Wenn jemand immer Bücher in der Hand hatte, haben die Leute ungern mit ihm geredet, weil sie Angst hatten, dass der Geheimdienst ihn beobachtet. Lesen war immer eine gefährliche Tat und Schreiben war noch gefährlicher. Die Schrift als Metapher der Revolution und die Angst vorm Lesen bedeutet den Verlust einer Freiheit. Die Literatur ist nie harmlos und das Schreiben spielt eine große Rolle in meinen Romanen.

 

Alle Ihre Romane sind bislang politisch gewesen. Könnten Sie auch ein luftig-leichten Liebesroman schreiben oder wären Ihre Leser dann enttäuscht?

Ich glaube die Autoren wählen ihre Themen nicht, die Themen wählen ihre Autoren. Alles was ich geschrieben habe, ist aus meiner Leidenschaft entstanden. Wenn ich nicht das schreibe, was ich will, gäbe es diese Leidenschaft nicht mehr. Die Leser würden das merken, das wäre nicht echt. Und ich will immer authentisch bleiben.

 

Und haben Sie keine Sorge, in eine Schublade gesteckt zu werden?

Nein, ich denke das hängt mit der Persönlichkeit zusammen. Ich bin jemand, der alle Facetten des Lebens kennengelernt hat. Ich habe alles hinter mir und wenn ich zu mir zurückkommen will, dann weiß ich, wie ich das anstellen kann.

 

Die Nähe zwischen Ihren Romanen und Ihrer Biografie führt zu mancher Verwirrung und zieht immer die Frage nach sich, wie autobiografisch Ihre Romane sind?

Alle Figuren sind fiktiv. Ich schreibe über Themen, die real sind, aber wenn ich meine Autobiografie schreiben würde, bräuchte ich 1.000 Seiten. Außerdem schreibe ich Literatur, versuche aber die Stimmung meiner Zeit, meiner Generation wiederzugeben. Es ist also alles autobiografisch, selbst das Erfundene. [lacht]

 

Sie haben in einem sehr frühen Interview einmal die Distanz durch die deutsche Sprache für Sie beschrieben, die es Ihnen erleichtert, über das Erfahrene zu schreiben? Besteht die noch?

Nein, nicht mehr in dem Maße. Ich fühle mich frei in der deutschen Sprache, sie ist mir nah, diese Distanz ist vorüber. Ich brauche sie nicht mehr, ich denke, ich habe alles ausgekotzt. Ich glaube, ich habe mich akzeptiert, so wie ich bin, mit allen meinen Problemen. Und das war auch möglich weil ich gesagt habe: In Ordnung, ich bin weder Deutscher noch Araber, ich bin beides.

 

Im Jahr 2003 sind Sie nach sieben Jahren im Exil in den Irak zurückgekehrt. Was wollten Sie dort tun?

Ich wollte etwas für die Heimat tun, mit anderen Künstlern etwas Neues aufbauen. Aber der Irak, den ich kannte, war nur noch ein Traum. Es herrschte Chaos und wieder konnte man seine Meinung nicht frei äußern, man konnte nirgendwo ansetzen und ich fühlte mich hilflos.

 

Und jetzt, zehn Jahre später? Sind die Leute nicht durstig nach Kultur?

Nein, sie sind durstig nach Strom, sauberem Wasser, Sicherheit. Wenn der Mensch hungrig ist und du ihm ein Stück Brot und ein Buch anbietest, was nimmt er? Natürlich das Brot. Aber dass man beides geben kann, das kapieren die irakischen Politiker nicht. Nach einer so langen Zeit der Gewaltkultur muss man aber auch an der Kultur arbeiten. In dieser Gesellschaft wurde die Kultur der Menschheit verfremdet. Im Irak redet man nicht über Leben, Liebe und Menschsein.

 

Aber Sie hoffen noch auf eine Rückkehr, irgendwann in der Zukunft?

Ja, auf jeden Fall. Ich glaube an die Revolution. Ich glaube, sie kann es schaffen, die Menschen zu ändern. Ich war schon elf mal in meinem Leben im Knast und habe oft erlebt, dass Menschen sehr grausam sein können. Die schlechte Seite der Menschen habe ich also sehr gut kennengelernt. Aber die schönste Seite der Menschen kann man in einer Revolution erleben! Ich träume von der arabischen Revolution! Aber die Iraker werden erst am Ende an der Reihe sein – und das wird sehr, sehr lang dauern.

 

Und was ist aus der kämpferischen Seele des 17-Jährigen geworden, die Sie in einem früheren Interview erwähnten?

Die gibt es noch – gerade dank der aktuellen Revolutionen und Umbrüche der Zeit!

Von: 
Katharina Kretzschmar

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.