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Bürgerproteste gegen Korruption und Gewalt im Irak

Wut und Ränkespiele im irakischen Frühling

Analyse

Auch im Irak brachen 2011 massenhafte Bürgerproteste gegen Korruption und Gewalt aus. Nach zwei Jahren flammt die Wut erneut auf. Doch heute ist es allein die sunnitische Bevölkerung, die sich gegen die Führung in Bagdad wehrt.

Am 23. Dezember 2012 folgten tausende Iraker im sunnitischen Norden und Westen des Landes dem Aufruf bekannter Politiker, Stammesführer und religiöser Würdenträger zu Massendemonstrationen und Streiks. Die größten Proteste ereigneten sich in der Provinz Anbar, wo die Autobahnverbindung nach Syrien und Jordanien blockiert wurde. Auch in den Provinzen Salahuddin, Niniveh, Diyala und Bagdad wurden in der Folge Kundgebungen abgehalten.

 

Die Demonstranten beklagten willkürliche Verhaftungen im Namen der Terrorbekämpfung, die Politisierung der Justiz und die Billigung von Korruption durch Premierminister Nuri al-Maliki. Die Menge forderte auch ein Ende der gezielten Verfolgung von Sunniten durch die Regierung. Einige Teilnehmer zeigten ihre Wut und Enttäuschung über den schiitischen Regierungschef durch anti-schiitische Parolen, Sympathiebekundungen für den gestürzten Diktator Saddam Hussein – und drohten mit einem Marsch auf Bagdad.

 

Ausgelöst wurde die Protestwelle durch die Verhaftung der Leibwächter des irakischen Finanzministers Rafa al-Issawi am 20. Dezember 2012. Dies wurde als erster Schritt auf dem Weg zur Verhaftung des Ministers selbst interpretiert. Denn ein Jahr zuvor hatte bereits eine vergleichbare Festnahme der Bodyguards von Vizepräsident Tariq al-Haschemi zur Anklage des Politikers wegen angeblicher Terroranschläge geführt.

 

Vor seiner Festsetzung war Haschemi damals in die Türkei geflüchtet, von wo aus er Maliki vorwarf, Sunniten wie ihn marginalisieren zu wollen. Tatsächlich stützen die erneuten Ermittlungen gegen einen sunnitischen Spitzenpolitiker die Anschuldigung, der Premierminister ließe bewusst oppositionell gesinnte Regierungsmitglieder von der Justiz verfolgen. In einem Akt der Solidarität reagierten daher auch einige Minister des sunnitisch-dominierten Parteienblocks »Iraqiya« mit einem Boykott der Kabinettssitzungen.

 

»Lass dir Baschar eine Lehre sein«

 

Nuri al-Maliki reagierte auf die Proteste in den sunnitischen Provinzen öffentlich mit Zugeständnissen. So gab er die Bildung von Komitees bekannt, in denen die Forderungen der Demonstranten besprochen werden sollten. Insbesondere die beklagten Bedingungen in den Gefängnissen sollten überprüft und die Lage von inhaftierten Frauen verbessert werden. Der Premier warnte jedoch, dass unangemeldete Demonstrationen nicht ewig hingenommen werden könnten. Es sei »nicht akzeptabel«, dass »Straßen gesperrt und Streit zwischen den Volksgruppen angestachelt« würden.

 

Entsprechend setzte Maliki Armeeeinheiten ein, um Kontrollpunkte zu errichten und regierungsfeindliche Demonstranten von der Teilnahme an Kundgebungen abzuhalten. Dabei kam es auch zu ersten Zusammenstößen mit mehreren Verletzten. Die angespannte Situation eskalierte am 25. Januar 2013 in Falludscha. Als Demonstranten eine Straßensperre der Armee mit Flaschen und Steinen bewarfen, gaben die Soldaten zunächst Warnschüsse ab, feuerten dann jedoch auch in die offene Menge. Dabei wurden acht Menschen getötet und 59 verletzt.

 

Als Reaktion wurden Armeefahrzeuge angezündet und Kontrollpunkte angegriffen, mehrere Soldaten getötet und verletzt. Am nächsten Tag nahmen Tausende an der Beerdigung der Opfer teil. Auf einem anschließenden Protestmarsch wurden Forderungen nach einem Umsturz im Land laut. Viele Demonstranten riefen: »Hör zu Maliki, wir sind freie Menschen« und »Lass dir Baschar (al-Assad) eine Lehre sein«. In einem Fernsehinterview drohte der bekannte Stammesführer Ahmed Abu Risha mit Gewalt und verlangte die Auslieferung der verantwortlichen Soldaten.

 

Seine Forderung wurde im Februar in weiteren Massenversammlungen aufgenommen. Während die Sprecher der Demonstranten mit Regierungsvertretern erste Verhandlungen aufnahmen, halten die Proteste im März im vierten Monat hintereinander an. Die Regierung rechtfertigte den Einsatz der Armee damit, die Bevölkerung vor geplanten Angriffen der al-Qaida schützen zu müssen. Tatsächlich bemühten sich Qaida-Kämpfer, die gefährliche Lage mit Anschlägen weiter anzuheizen und die aufgebrachte Bevölkerung zum Dschihad aufzuhetzen.

 

Daneben verübten Unbekannte aber auch eine Reihe von Attentaten in deren Mittelpunkt häufig Kritiker des Premierministers standen. So wurden mehrere prominente Vertreter der Lokalverwaltung in Anbar, Niniveh und Salahuddin ermordet, Finanzminister Issawi überlebte am 13. Januar einen Bombenanschlag. Vertreter seiner Partei beschuldigten daraufhin die Sicherheitsdienste des Premierministers, Issawi einschüchtern zu wollen. Dies schien sich am 12. März zu bestätigen, als Issawis Autokonvoi in der Grenzregion zu Jordanien von Militärhelikoptern abgefangen wurde, die scheinbar versuchten, ihn zur Flucht in das Nachbarland zu bewegen.

 

Zwangsurlaub für die Minister der »Iraqiya«

 

In Bagdad blieben die politischen Parteien uneins darüber, wie auf die Proteste reagiert werden sollte. Der sunnitische Parlamentspräsident Osama al-Nujaifi zeigte sich erschüttert und verlangte in einer ersten Reaktion die Ernennung eines neuen Premierministers, der »Achtung vor dem Blut der Iraker hat und die Einheit, Stabilität und Sicherheit des Irak bewahrt«. In einer von ihm anberaumten außerordentlichen Sitzung des Repräsentantenrates drängte er die Fraktionen dazu, Position zu beziehen.

 

Die Abgeordneten der schiitischen und kurdischen Parteien stützten dabei die Regierung und wiesen Vorschläge für eine Generalamnestie, die Neufassung des Anti-Terror-Gesetztes und die Überarbeitung des Ent-Baathifizierungs-Gesetzes, dass eine politisierte Verfolgung mutmaßlicher Staatsfeinde erlaubt, zurück. Allein das sunnitisch-dominierte Parteienbündnis »Iraqiya« unterstützte somit die Forderungen der Demonstranten. Bereits im Januar ließ die Gruppierung verkünden, ihre Minister würden erst wieder an Kabinettssitzungen teilnehmen, wenn diese erfüllt seien.

 

Daraufhin stellte Premierminister Maliki klar, dass jeder Minister, der nicht zur Arbeit erscheine, in Zwangsurlaub versetzt werde. Die Geschäfte würden von Beauftragten des Premiers weitergeführt. Dies betraf zuerst Finanzminister Rafa al-Issawi, dessen Posten von einem Mitglied der schiitischen Sadr-Bewegung besetzt wurde. Auf einer Massenkundgebung in der Protesthochburg Ramadi gab Issawi daraufhin seinen Rücktritt bekannt. Premierminister Maliki erklärte jedoch, dass er zunächst eine Untersuchung über die »finanziellen und administrativen Unregelmäßigkeiten« in Issawis Ministerium abwarten werde.

 

Eine Woche nach Issawi verkündete auch Landwirtschaftsminister Izz al-Din al-Dawla seinen Rückzug aus dem Kabinett. Dagegen verblieb mit Vizepremier Saleh al-Mutlaq ein wichtiger Repräsentant der »Iraqiya« in der Regierung. Auch Elektrizitätsminister Abdul Karim Aftan nahm weiter an den gemeinsamen Besprechungen mit Premierminister Maliki teil. Dafür wurde der Politiker jedoch offiziell aus der »Iraqiya« ausgeschlossen. So ließ das Parteienbündnis Anfang März erste Spaltungstendenzen erkennen. Vor den angesetzten Provinzwahlen am 20. April wirkt die »Iraqiya« mit ihrer fortgesetzten Regierungsbeteiligung somit gefährlich uneins und für ihre Wählerschaft zunehmend unglaubwürdig.

 

Auch Malikis kurdische und schiitische Verbündete sind unzufrieden

 

Während die sunnitischen Demonstranten in Bagdad allein von der »Iraqiya« unterstützt werden, haben sich die übrigen Parteien in Fragen der Inneren Sicherheit und der politischen Integration der Sunniten weitgehend auf die Seite Nuri al-Malikis gestellt. Doch auch sie haben in den vergangenen Monaten im eigenen Interesse die Konfrontation mit dem Premierminister gesucht. So musste Maliki schwere Niederlagen hinnehmen, als schiitische, kurdische und sunnitische Abgeordnete im Parlament gegen den Haushaltsentwurf für 2013 stimmten, seinen Verbündeten Medhat al-Mahmoud als obersten Verfassungsrichter wegen seiner Verbindungen zum Saddam-Regime stürzten und eine Begrenzung der Amtsdauer des Premiers auf zwei Wahlperioden durchsetzten.

 

Damit zeigten auch Kurden und Schiiten ihre Verstimmung über die Amtsanmaßungen des autoritär regierenden Premierministers. Indes blieben die Machteinbußen für Maliki nur von kurzer Dauer. Nach einer monatelangen Blockade des Haushaltes gelang am 7. März schließlich doch dessen Verabschiedung. Die Abstimmung wurde zwar weiter von kurdischen Abgeordneten boykottiert, doch hatte Maliki schiitische Verbündete zurückgewonnen.

 

Zudem nahm auch Vizepremierminister Saleh al-Mutlaq mit einigen Abgeordnete der »Iraqiya« an der Stimmabgabe teil, was den Eindruck einer Spaltung des Wahlbündnisses vertieft. Bereits am 18. Februar wurde auch die Entscheidung zur Suspendierung von Medhat al-Mahmoud als Oberster Verfassungsrichter wieder rückgängig gemacht. Infolge eines Wechsels in der Führung der Ent-Baathifizierungskommission wurde dem Richter bescheinigt, ein Opfer des Baath-Regimes gewesen zu sein.

 

Darüber hinaus wird die Begrenzung der Amtszeit von Nuri al-Maliki kaum juristisch aufrechtzuhalten sein, da das Verfassungsgericht 2010 entschieden hat, dass nur das Kabinett neue Gesetze im Parlament einbringen darf. Erstaunlicherweise perlen somit alle Versuche, die Politik der Zentralregierung in Bagdad zu beeinflussen, erfolglos an Premierminister Nuri al-Maliki ab. Während tausende Iraker die Massendemonstrationen fortsetzen, bleiben ihre Grundsatzforderungen unbeachtet.

 

Derweil sind auch die durchaus beeindruckenden Initiativen des Parlaments, demokratische Aufsichtsrechte über die Regierung zurückzugewinnen, gescheitert. Bis auf Weiteres wird der Frühling im Irak so von einem Wechselspiel aus Massenprotesten und Ränkespielen geprägt, deren Dynamik kaschieren kann, dass das Land seit den Nationalwahlen vor drei Jahren in politischer Stagnation verharrt.

Von: 
Hauke Feickert

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