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Bundeswehr in der Türkei und der Krieg in Syrien

Deutsche Soldaten zwischen Raketenalarm und Langeweile

Feature

Das Bunderwehr-Kontingent in Kahramanmaras soll die türkische Stadt vor Raketenbeschuss aus Syrien beschützen. Tagtäglich haben die Soldaten aber mehr mit Heimweh, Langeweile und der Wartung des teuren »Patriot«-Systems zu kämpfen.

Auf einem mit goldgelbem Gras bewachsenen Hügel liegt die Gazi-Kaserne oberhalb der südosttürkischen Stadt Kahramanmaras. Vom höhergelegenen hinteren Teil der Kaserne aus kann man weite Teile der wachsenden Stadt mit rund 575.000 Einwohnern sehen; zwischen Hochhäusern ragt die Abdülhamid-Han-Moschee hervor, die als drittgrößte Moschee der Türkei und Wahrzeichen der Stadt gilt, und am Stadtrand kann man ein großes weißes Rechteck ausmachen – ein Flüchtlingslager der Vereinten Nationen, das rund 18.000 geflohenen Syrern Unterschlupf gewährt.

 

Die deutschen Soldaten, die mit dem Luftverteidigungssystem »Patriot« die gut 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernte Stadt beschützen, können die Aussicht jedoch nicht genießen – zwei von Ihnen sitzen in einem engen Container, der mit so viel Elektronik vollgepackt ist, dass nur Platz für einen schmalen Gang und zwei Arbeitsplätze mit einem Stuhl vor einer Konsole mit zahlreichen Knöpfen und einem großen Radarbildschirm bleibt. Von dort aus überwachen ein Feldwebel und ein Offizier jeweils für zwölf Stunden am Stück den syrischen Luftraum.

 

Sollte tatsächlich eine Rakete aus Syrien das rund 175 000 Quadratkilometer große Stadtgebiet bedrohen, müssten die beiden Soldaten innerhalb von Sekunden reagieren, um den Flugkörper mit einer kleineren Rakete noch in der Luft zu zerstören. Das war seit dem Beginn des Einsatzes im Januar 2013 allerdings noch nie nötig. Entsprechend entspannt ist auch die Stimmung bei Hauptfeldwebel Michael R. und Oberleutnant Michael M. während ihrer Schicht – Michael R. hat sich sogar einen Krimi mit in den Container gebracht, der von einem ehemaligen Mitglied der Einheit geschrieben wurde. Scheinbar ist die Bedrohung durch Langeweile während der zwölfstündigen Schicht größer als durch Raketenbeschuss aus Syrien.

 

Im dritten Jahr seit Beginn des Einsatzes schätzt die NATO die Gefahr einer syrischen Rakete, die auf türkischem Boden einschlägt, als »niedrig, aber weiterhin glaubhaft« ein. Der Chef der Einsatzstaffel in Südostanatolien sagt, dass die Bedrohung nicht so greifbar sei wie in anderen Auslandseinsätzen der Bundeswehr – beispielsweise in Afghanistan: »Das ist schon sehr untypisch, dass die Familien der Soldaten am Einsatzort Urlaub machen könnten.« Deshalb dürfen die Soldaten die Kaserne auch einmal pro Woche ohne ihre Uniform verlassen.

 

In Afghanistan war das ohne Schutzweste und Bewaffnung unmöglich, erzählt Hauptfeldwebel Thomas J., der bereits an mehreren Auslandseinsätzen der Bundeswehr teilgenommen hat. Auch in der Kaserne gibt es eine Menge Möglichkeiten für die Soldaten sich außerhalb ihrer Dienstzeit zu beschäftigen: Nachdem es zu Beginn des Einsatzes Probleme mit den durch die Türkei zur Verfügung gestellten Einrichtungen gab, die die Soldaten zwang, anfangs in einem Hotel zu übernachten, gibt es inzwischen sogar eine voll ausgestattete Sporthalle mit allen erdenklichen Sportgeräten. Die Soldaten essen in einer komplett neu renovierten Kantine, mit angeschlossener Bar, Spielraum und einem mit Tarnnetzen verkleideten und mit Fernsehern ausgestatteten Balkon.

 

Auch die Sanitäranlagen und Unterkünfte sind komplett überholt worden. So luxuriös wie ein Hotelzimmer sind die rund 15 Quadratmeter großen Stuben, die sich jeweils zwei Soldaten teilen, allerdings nicht: Zwei Stockbetten und sechs Metallspinde stehen dort standardmäßig auf grauem Linoleumboden. Weitere Möbel müssen die Soldaten sich selbst besorgen oder bauen. Selbst gebaut haben viele der Staffeln auch ihre eigenen Aufenthaltsbereiche, die sogar eigene Namen haben.

 

Der Bereich der Einsatzstaffel mit dem »Patriot«-System hat aufgrund der vielen – zum Teil aneinandergereihten – Lastwagen den Namen »Wagenburg« bekommen. Zwischen den Containern und Zelten der Bundeswehr haben die Soldaten mit Sperrholz eine Baracke gebaut und diese auch mit Möbeln ausgestattet. In der Wagenburg stehen sogar ein Sofa, mehrere Sessel und eine selbst gebaute Bank, die rund um einen großen Tisch geht. Das macht den Einsatz einerseits gemütlicher, durchbricht die Routine und scheint auch ein bisschen Heimatgefühl zu schaffen. Auf Schildern an der Wagenburg haben die Soldaten die Entfernungen zu ihren Heimatstandorten aufgeschrieben: »3.800 Kilometer« steht auf dem Schild für Husum – dem Hauptstandort des Flugabwehrraketengeschwaders 1, dem die meisten Soldaten hier angehören.

 

»Wenn Berlin entscheidet, dass wir hier weitermachen, dann haben wir als Soldaten einfach nur sicherzustellen, dass es weitergeht«

 

Die Trennung von ihrer Familie ist für viele Soldaten die größte Belastung. Viereinhalb Monate dauert der Einsatz in der Türkei und viele sind nicht zum ersten Mal dort. Michael R. ist bereits zum dritten Mal für die Bundeswehr in Kahramanmaras und hat sich bereits freiwillig für einen vierten Einsatz gemeldet. Er weiß, dass er als Feuerleitfeldwebel gebraucht wird, um das »Patriot«-System zu bedienen.

 

Deshalb zieht er es vor, sich freiwillig für den Einsatz zu melden und so selbst zu bestimmen, wann er im Ausland stationiert ist. »Das ist für mich mit Familie planbarer«, sagt er. So kann er es einrichten, während den Sommerferien seiner Kinder in Deutschland zu sein. Knapp die Hälfte der Soldaten in der Einsatzstaffel ist zum wiederholten Mal im Einsatz.

 

Zurzeit fehle es vor allem an jungem, entsprechend ausgebildetem Personal, erklärt Major Hauke H. Es stünden zwar rund 500 Soldaten für die Aufgaben der 60 Mann starken Einsatzstaffel in der Türkei zu Verfügung, schätzt der ehemalige Kontingentführer Oberst Wolfgang Rasquin. Doch gerade ältere Soldaten dürften nicht mehr in den Auslandseinsatz geschickt werden, weil sie entsprechende medizinische Kriterien nicht erfüllen, erklärt Major Hauke H. das Problem.

 

Das führt dazu, dass die vorgeschriebene Pause von 20 Monaten zwischen zwei Auslandseinsätzen in Kahramanmaras häufig nicht eingehalten werden kann. In der Einsatzstaffel lägen durchschnittlich nur 12 bis 20 Monate zwischen zwei Einsätzen, sagt Oberleutnant Johannes R. Schnelle Abhilfe sei jedoch nicht in Sicht, so Major Hauke H. – selbst wenn nun neue Soldaten eingestellt würden, müssten sie erst drei bis vier Jahre lang ausgebildet werden, bevor sie in den Einsatz dürften.

 

Der ehemalige Kontingentführer Oberst Wolfgang Rasquin macht dafür vor allem die Politik verantwortlich: »Wenn Berlin entscheidet, dass wir hier weitermachen, dann haben wir als Soldaten einfach nur sicherzustellen, dass es weitergeht.« Dass ein zweiter Einsatz dieser Größenordnung die Bundeswehr vor Probleme stellen würde, wird im Gespräch mit den Soldaten vor Ort schnell klar – offiziell zugeben möchte das aber niemand. 

 

Der Einsatz die Bundeswehr kostet jährlich rund 20 Millionen Euro

 

Doch nicht nur das Personal zur Bedienung des Luftverteidigungssystems kommt durch den Einsatz an seine Belastungsgrenze. Dass drei der insgesamt zwölf »Patriot«-Systeme, die die deutsche Luftwaffe besitzt, seit mehr als zwei Jahren in der Türkei stationiert sind, macht sich in Deutschland bei der Ausbildung der Soldaten bemerkbar.

 

So warnte der parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe aus dem Verteidigungsministerium bereits letztes Jahr vor »Einschränkungen im Ausbildungs- und Übungsbetrieb«, sollte der Einsatz 2015 weitergeführt werden. Der Chef der Einsatzstaffel, Hauke H., in Kahramanmaras sieht das ähnlich: »Wir fokussieren unsere Kräfte hier, die stehen zu Hause nicht zur Verfügung.« Das werden sie frühestens wieder ab Anfang 2016 – der Bundestag hat das Mandat für den Einsatz zu Beginn dieses Jahres bis zum 31. Januar 2016 verlängert.

 

Die Niederlande, die neben den Deutschen und Amerikanern an der NATO-Mission beteiligt waren und die Hafenstadt Adana schützten, haben hingegen Konsequenzen gezogen und sind Anfang 2015 von spanischen »Patriot«-Einheiten abgelöst worden. Denn von den rund 500 Raketen, die seit Beginn des Einsatzes 2013 in Syrien abgefeuert wurden, ist bisher keine einzige in der Türkei gelandet. Zudem kostet der Einsatz die Bundeswehr jährlich rund 20 Millionen Euro. Ein stolzer Preis dafür, dass die Bewohner von Kahramanmaras sich sicher fühlen.

Von: 
Mathias Birsens

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