Israels Vorgehen in den C-Gebieten der Westbank macht eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich. Die palästinensische Führung und internationale Geber suchen jetzt nach Alternativen, der israelischen Expansionspolitik etwas entgegenzusetzen.
Wir sind mit dem Auto unterwegs von Ramallah nach Nablus. Nachdem wir das florierende Bergdorf Ramallah hinter uns gelassen, und den ersten Checkpoint durchfahren haben, sind wir recht schnell auf der Hauptstrasse, der so genannten »Route 60«, die uns in Richtung Norden führt. Die Westbank ist zu dieser Jahreszeit ein wahres Paradies. Ein sattes Grün überzieht den steinigen Boden der Hügellandschaft und lässt alles freundlich Erscheinen. Fast unwirklich wirken hier die Jeeps und Soldaten der israelischen Armee, die uns auf dem Weg in regelmäßiger Häufigkeit begegnen. Wir sind in Zone C, dem von Israel vollständig verwalteten Gebiet des Westjordanlandes.
Als Folge des zweiten Oslo-Abkommens von 1995 wurde das Gebiet des Westjordanlandes in drei Verwaltungszonen eingeteilt: Zone A unter vollständiger palästinensischer Selbstverwaltung, Zone B mit geteilter palästinensischer und israelischer Verwaltung und Zone C unter vollständiger israelischer Verwaltung für alle Fragen der Zivilverwaltung und Sicherheit. Von der Gesamtfläche der Westbank nach den Grenzen von 1967 beträgt die Fläche der Zone C rund 62 Prozent. Es ist das einzige zusammenhängende Gebiet in der Westbank und trennt die A- und B-Gebiete in miteinander unverbundene Verwaltungsbereiche.
Die Straße windet sich an den mit Olivenbäumen gesäumten Hügeln auf und ab – mitten durch den nördlichen Teil der Westbank. Wir passieren mehrere größere Siedlungen, die sich auf den Kuppen der Hügel thronend über uns erheben. Fast aus jeder Siedlung kommt lauter Baulärm entgegen. Deutlich sieht man Kräne, Bagger und halbfertige Häuser, die von Israels Entschlossenheit zeugen, auch entgegen internationalem Druck, in Sachen Siedlungspolitik keinerlei Kompromisse einzugehen. Nach dem Mord an einer Siedlerfamilie in Itamar im März 2011 titelte Israels auflagenstärkste Zeitung Israel Ha-Yom: »Sie morden, wir bauen.«
Geheimpläne mit klarer Absicht
So in etwa lässt sich die israelische Haltung zur Siedlungsfrage erklären. Die Ende März von der israelischen Tageszeitung Haaretz veröffentlichten Geheimpläne des Verteidigungsministeriums zur Annexion weiterer 10 Prozent der Westbank für zukünftigen Siedlungsbau, die sich erstaunlich genau mit der geographischen Lage der auch nach israelischen Recht illegalen Outposts decken, unterstreicht, dass es sich bei den Siedlungsaktivitäten nicht um das Bestreben einzelner Radikaler handelt, sondern um ein von oberster politischer Ebene gesteuertes und gefördertes Expansionsprogramm.
Für die Siedler, aber auch für viele Israelis ist die Region aus biblischer Sicht ohnehin das eigentliche Kernland –Lev Israel – »Herz Israels« – und die Anwesenheit der palästinensischen Bevölkerung an sich schon eine Provokation. Mitglieder der »Hilltop Youth«, einer ultraradikalen Siedlergruppierung, wollen das Leben der Palästinenser unerträglich machen, so dass diese »freiwillig« ihr Land verlassen. So sind die arabischen Schriftzüge an vielen der Straßen- und Ortsschilder mit schwarzem Graffiti übersprüht. Daneben stehen verschiedene anti-palästinensische und rassistische Slogans, darunter auch immer wieder »Mavet le-Aravim – Tod den Arabern«.
ugendliche aus den Siedlungen ziehen durch die umliegenden arabischen Dörfer, terrorisieren die Bevölkerung oder zünden deren landwirtschaftliche Lebensgrundlage an. Die israelische Armee hat indes kein Mandat einzugreifen, wenn Palästinenser attackiert werden – sie sind zum Schutz der Siedler da. Allein von der berüchtigten Siedlung Yitzhar mit etwa 900 Einwohnern hat die UN-Organisation OCHA im Jahr 2011 70 Angriffe auf umliegende palästinensische Dörfer registriert – die Dunkelziffer ist hoch.
Fehlende Perspektiven, Wohnraumknappheit, Strom- und Wassermangel und nicht zuletzt der starke Anstieg von Siedlergewalt haben zu einem signifikantem Rückgang der palästinensischen Einwohnerzahlen in Zone C geführt – bei gleichzeitigem rapiden Zuwachs der israelischen Siedlungen. Von den circa 2,5 Millionen Palästinensern in der Westbank leben nur rund 150.000 Palästinenser in den C-Gebieten. Laut einem aktuellen Bericht der UN zur Lage im Jordantal ist die Zahl der palästinensischen Bewohner dort seit 1967 von circa 250.000 auf gerade einmal rund 56.000 geschrumpft. Angesichts der durchschnittlichen Geburtenraten in der Region eine alarmierende Zahl.
In UN-Kreisen wird schon länger von einer »schleichenden Vertreibung« der Palästinenser aus den C-Gebieten gesprochen. Anfang des Jahres hatte die geplante Umsiedelung der Jahalin-Beduinen aus einem Gebiet östlich von Jerusalem, das Israel für größere Siedlungspläne vorsieht, auf ein Feld neben einer Mülldeponie für internationale Kritik gesorgt. Die Pläne sind derzeit auf Eis gelegt. Allerdings hat die israelische Armee die Zufahrtsstraße zerstören lassen und die kürzlich von einer italienischen Hilfsorganisation gebaute Schule mit einer Abrissverfügung versehen.
EU-Gesetz macht exakte Herkunft für aus Israel bezogene Importe verpflichtend
Neben Siedlergewalt und Landnahme hat die israelische Besatzung noch weitere schwerwiegende Konsequenzen für die palästinensischen Bewohner in den C-Gebieten. Das israelische Oberste Gericht hat erst kürzlich den von Israel praktizierten Ressourcenabbau in den C-Gebieten nachträglich legalisiert. Die C-Gebiete beinhalten den Großteil des fruchtbaren und ressourcenreichen Erdbodens der Palästinensischen Gebiete. 63 Prozent des gesamten Agrarlandes der Westbank und bedeutende Wasserreserven befinden sich in den C-Gebieten.
Neben den landwirtschaftlichen Flächen im Jordantal, aus denen Israel einen beträchtlichen Anteil seiner Agrarprodukte bezieht, besteht Israel auch auf die Nutzung von Bodenschätzen, wie vor allem Wasser, aber auch Kiesel- und Kalkstein. Als die EU vor zwei Jahren die Subventionen für israelische Produkte aus den besetzten Gebieten kürzte, löste dieser Schritt auf israelischer Seite heftige Kritik und Unverständnis aus. Die daraufhin angewendete Praxis, die Herkunft von Siedlerprodukten zu verschleiern, soll nun von einem neuen EU-Gesetz erwidert werden, dass die exakte Herkunft für aus Israel bezogene Importe verpflichtend macht.
Auf halber Strecke passieren wir die »Tapuah Junction«, eine Kreuzung, die nach rechts und links zu größeren Siedlungsblöcken führt. Auf der linken Straßenseite befindet sich eine Busstation, die die Siedler an das israelische Busnetz anschließt, jedoch auch von palästinensischen Bussen benutzt wird. Auf der einen Seite stehen israelische Siedler, bewacht von Soldaten, auf der anderen Palästinenser. Vor der Kreuzung steht ein großes Schild: »Palestinians left only!« Wir fahren geradeaus – in Richtung des palästinensischen Dorfes Huwara. Auf der rechten Seite sind die Überreste einer asphaltierten Straße zu sehen, die vor kurzem aufgrund fehlender Baugenehmigung von israelischen Bulldozern zerstört wurde.
Gemäß den Oslo-Vereinbarungen trägt die israelische Zivilverwaltung »übergangsweise« volle Verantwortung über Vergabe von Baugenehmigungen in den C-Gebieten. Die israelische Rechtspraxis stützt sich dabei auf verschiedene Gesetze und Regelungen, die teilweise bis zurück ins osmanische Recht von 1858 reichen. Wichtigste Grundlage bilden jedoch das jordanische Planungs- und Baurecht von 1966 und die Zusatzartikel, die durch die israelische Militäranordnung Nummer 418 im Jahr 1971 in Kraft gesetzt wurden, und die die Palästinenser aus allen Entscheidungsprozessen ausschließen. In den für Baugenehmigungen zuständigen Gremien sitzen seitdem ausschließlich israelische Staatsbürger, darunter auch Vertreter der israelischen Siedlungen. Die Folge ist eine restriktive israelische Verwaltungspolitik, die den Palästinensern kaum überwindbare Hindernisse für Baugenehmigungen, Entwicklungsplanung, Wasserversorgung und Straßenbenutzung errichtet.
Über 90 Prozent aller palästinensischen Baugenehmigungsanträge wurden in den vergangenen Jahren abgelehnt
Auf etwa 70 Prozent der Fläche des C-Gebietes ist von vornherein jede Bautätigkeit rechtlich untersagt. Über 90 Prozent aller palästinensischen Baugenehmigungsanträge wurden in den vergangenen Jahren abgelehnt, was die Einwohner zu dem Bau von nicht genehmigten Bauten zwingt, die nach israelischem Recht jederzeit zerstört werden können. In den letzten 12 Jahren wurden durchschnittlich 200 Häuser jährlich zerstört. Diese Zahlen sind im Jahr 2011 deutlich angestiegen: Allein in der ersten Jahreshälfte zählte UN-OCHA 342 zerstörte Bauten von Palästinensern, darunter 125 Wohnhäuser und 20 Wasserzisternen. Davon betroffen waren 656 Menschen, einschließlich 351 Kinder, die ihre Wohnstätte verloren. Zurzeit stehen über 3000 Abrissverfügungen aus, darunter 18 für Schulen, welche jederzeit vollstreckt werden können.
Die internationalen Geberorganisationen und die Palästinensische Autonomiebehörde stehen seit Jahren vor einem Dilemma. Während Hilfsgelder in den von den Palästinensern verwalteten Zonen für einem beachtlichen Aufschwung gesorgt haben, werden die Palästinenser, die in den C-Gebieten leben, kaum erreicht. Auch als Antwort auf den verstärkten Siedlungsbau und die damit verbundene politische Ausweglosigkeit hat die palästinensische Führung auf dem diesjährigen Geberkoordinierungstreffen in Brüssel ein neues politisches Papier vorgelegt, das den Schwerpunkt auf die humanitäre Notlage der Palästinenser in den C-Gebieten und eine langfristige Strukturentwicklung legt.
In EU-Kreisen wird intern schon eine neue Strategie besprochen, die eine grundlegende Abkehr von der derzeitigen Praxis in den C-Gebieten darstellen würde. Wohl auch deshalb hat die israelische Seite nur einen Vertreter auf Generaldirektorenebene nach Brüssel geschickt. Eigentlich ein Eklat, wäre man solch ein Verhalten nicht schon gewohnt. Geber der EU würden demnach die Palästinenser bei der Erstellung umfassender und langfristiger Strukturentwicklungspläne unterstützen, diese zusammen mit allen erforderlichen Dokumenten der israelischen Zivilverwaltung zwar vorlegen, danach jedoch innerhalb einer sechsmonatigen Frist auch ohne Baugenehmigungen von israelischer Seite die erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen in den C-Gebieten vorantreiben.
Eine hochpolitische Entscheidung, da sie einer deutlichen Delegitimierung der bisherigen Baugenehmigungspolitik Israels gleichkäme. Jedoch gewinnt sie aufgrund der derzeitigen israelischen Vorgehensweise immer mehr Unterstützer. »Wer die Zwei-Staaten-Lösung will, muss sie auch möglich machen«, heißt es aus Geberkreisen. Da die israelische Regierung derzeit alles dafür tue, eine Realisierung eines Palästinensischen Staates zu verhindern, verlöre die EU endgültig ihre Glaubwürdigkeit, würde sie weiterhin die Zwei-Staaten-Lösung propagieren, allerdings tatenlos dabei zusehen, wie diese Option endgültig unmöglich gemacht wird.
Neuanfang durch Selbstauflösung?
Derweil ist für führende palästinensische Politiker die Zwei-Staaten-Lösung schon jetzt nicht mehr zu verwirklichen. Zu lange habe sich die internationale Staatengemeinschaft Israels Siedlungsbau und die schleichende Vertreibung der Palästinenser aus den C-Gebieten angeschaut – und dadurch die Fakten schaffende Politik der Netanyahu-Regierung indirekt akzeptiert. Trotz allgemein zugänglicher Informationen über Israels langfristige Besiedlungspläne hören palästinensische Politiker aus Europa und den USA stets dieselben unverbindlichen Floskeln.
Premierminister Salam Fayyad und seine Berater sind indes schon einen Schritt weiter. Sie zerbrechen sich seit Monaten den Kopf über Alternativen, die den Palästinensern noch bleiben. Intern hat sich dabei ein Szenario durchgesetzt, das inzwischen von vielen Beobachtern als weitaus wahrscheinlicher gilt als die Realisierung der Zwei-Staaten-Lösung: Die Auflösung der Oslo-Verträge und die dadurch bedingte vollständige Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde – verbunden mit der Übergabe der Verantwortung des Westjordanlandes an Israel.
Dabei wissen Fayyad und Abbas genau, dass das für Israel sowohl politisch, als auch ökonomisch ein Desaster wäre. Auch deshalb verwendet die palästinensische Führung diesen Schritt seit Monaten als Drohung, wenn Israel zum wiederholten Mal palästinensische Steuergelder einbehält, oder neue Siedlungsbauaktivitäten bekanntmacht. Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman hat die palästinensischen Bemühungen um einen eigenen Staat in der letzten Woche als »diplomatischen Terrorismus« bezeichnet und sie im gleichen Satz mit den grausamen Attentaten von Toulouse und Montauban verglichen. Ein geschmackloser Vergleich, der allerdings die verblüffende Weltsicht des israelischen Außenministers widerspiegelt.
Nach etwa einer Stunde erreichen wir Nablus. Eine Stadt, die noch mehr als das kleine Ramallah vor immensen städtebaulichen Herausforderungen steht. An der Einfahrt eine große Baustelle. Hier entsteht mit Hilfe ausländischer Steuergelder – auch deutscher – ein Regierungsbezirk für die Palästinensische Autonomiebehörde – einer Regierung ohne Staat. In Anbetracht der derzeitigen Gedankenspiele ein mehr als optimistisches Projekt.