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Die Rechte in Israel

Ein gescheiterter Staat?

Kommentar

Israels Rechte hat ihr Korrektiv verloren. Jetzt nähert sich das Land dem Bild an, das seine ärgsten Kritiker seit jeher von ihm zeichnen. Ein Kommentar von zenith-Mitherausgeber Christian Meier.

Wer regelmäßig Einsicht in die Vielfalt der israelischen Gesellschaft hat, musste die Kritiker, Schwarzmaler und Polemiker stets korrigieren. Nein, Israel ist eine pluralistische Gesellschaft, es ist nicht alles so eindeutig, und gewiss will die Mehrheit Frieden und eine Zweistaatenlösung. An diesen Gewissheiten kommen immer mehr Zweifel auf, und nicht erst seit dem jüngsten Krieg im Gazastreifen. Während sich die deutschen Medien hoffend an die üblichen israelischen Mahner wie David Grossmann oder Amoz Oz halten oder über israelisch-palästinensische Friedensdemos in Berlin berichten, so spielen diese in Israel selbst doch längst keine Rolle mehr.

 

86 Prozent der Israelis unterstützen den jüngsten Krieg gegen die Hamas, berichtet der israelische Fernsehsender Arutz 10. Während noch vor zehn Jahren die Mehrheit der Bevölkerung den Abzug aus dem Gazastreifen dazu nutzte, sich von den Nationalisten und Gegnern einer Zweistaatenlösung demonstrativ zu distanzieren, sind diese inzwischen komplett mehrheitsfähig geworden. Ein Avigdor Lieberman wäre damals als nationalistischer Tölpel belächelt, ein Naftali Bennett als nationalreligiöser Spinner abgetan worden. Nun gestalten diese beiden die große Politik in Israel. Sie können Premier Netanjahu vor sich hertreiben, auch wenn das nur selten nötig ist. Sicher wäre es auch ohne Liebermans Austritt aus der Koalition zum Gazakrieg gekommen.

 

Seit Jahren beklagen Linke und Friedensaktivisten den massiven Rechtsruck in der Gesellschaft und die Marginalisierung der einst machtvollen Fraktion der »Tauben«. Ob die Gründe dafür nun eher in dem – nach allgemeiner Auffassung – fehlgeschlagenen Sommerkrieg 2006 gegen die libanesische Hizbullah zu suchen sind oder schon in der Zweiten Intifada ab 2000 – oder ob sie noch weiter zurückliegen –, mag diskutiert werden. Seither jedenfalls ist Desillusionierung das vorherrschende Gefühl. Und eine verachtungsvolle Haltung bemächtigt sich selbst der klügsten Köpfe.

 

Der bekannte israelische Historiker Benny Morris reagierte auf die Frage, ob die Polizei nicht exzessiv gehandelt habe, als sie im Herbst 2000 in Nazareth 13 arabisch-israelische Demonstranten erschoss, mit der ganz und gar nicht ironisch vorgebrachten Feststellung: In Deutschland würde die Polizei doch wohl ebenso reagieren, wenn Demonstranten eine Straße blockieren und Autos mit Steinen bewerfen würden. Die Besatzung leistet der Verrohung direkt Vorschub – durch den Armeedienst, das »Krebsgeschwür« der Siedlungen (so der Publizist Ari Shavit) und die Gewalt.

 

Aber auch indirekt – durch die Dominanz des Militärischen in der Gesellschaft, eine jüdisch-arabische Polarisierung sowie ein stetes Bedrohungsgefühl, das in der jüdischen Geschichte seinen Resonanzraum findet. All das ist nicht neu, und doch war das ganze Ausmaß vielen eher liberal eingestellten Israelis bis vor kurzem offenbar nicht bewusst. »(M)an konnte, man wollte sich nicht vorstellen, dass die rechtsextremen Krawallmacher mehr sind als eine dumpfe Minderheit, die wegen ihrer Lautstärke bedeutsamer wirkt, als sie in Wirklichkeit ist«, schrieb die israelische Journalistin Alexandra Belopolsky kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

 

Was das in einer Gesellschaft anrichtet, zeigte sich im Juni, als die Ermordung dreier Teenager durch palästinensische Terroristen binnen Stunden dazu führte, dass eine Welle antiarabischen Hasses durch das Land brandete. Inklusive eines Rachemordes, öffentlicher Hetzkampagnen sowie einer in manchen Städten pogromgleichen Atmosphäre. Israel – ein Land von Rassisten?

 

In seinem gegenwärtigen Zustand besitzt Israel nicht die Reife, über fremdes Gebiet zu herrschen

 

Das Erschrecken darüber war auch im Land selbst groß, doch in der aufgeheizten Atmosphäre angesichts des Militäreinsatzes gegen den Gazastreifen ertönt die nationalistische Begleitmusik zu laut, als dass man sich in Ruhe darüber Gedanken machen könnte, was hier eigentlich falsch läuft. Dabei gäbe es da eine Menge zu diskutieren – und zwar unabhängig von der aktuellen Krieg-gegen-den-Terror-Rhetorik, die bis zu einem gewisse Grad nachvollziehbar sein mag. Denn nicht nur zu Kriegszeiten schmiedet der Außenminister des Landes öffentlich Pläne, die arabischen Bewohner des Landes – rund 20 Prozent der Bevölkerung – teilweise ausbürgern zu lassen.

 

Es lässt sich nicht nur mit emotionalem Stress durch Raketenbeschuss erklären, wenn wie in den vergangenen Wochen Linke und andere Bedenkenträger als »Verräter« angefeindet und verprügelt werden. Es hat nichts mit der Lage in Gaza zu tun, wenn selbst ernannte Wächter über die Rassenreinheit des Judentums israelische Frauen terrorisieren, die Beziehungen mit Nichtjuden eingehen. Die, die etwas ändern könnten, wollen nicht.

 

Der Rest wird vom nationalchauvinistischen Strudel mitgerissen oder wartet still darauf, dass alles besser wird. Aber es ist eine Sackgasse. Ein bestimmtes Gesellschaftsmodell ist gescheitert: eines, das auf den Ideen und Abkommen der 1990er Jahre beruhte. Auch wenn sie daran nicht allein die Schuld tragen – ja um so mehr –, gilt: Rund 20 Jahre nach Oslo müssen die Israelis damit beginnen, sich dem Problem der Besatzung neu zu stellen – und damit auch sich selbst. Denn immer offenbarer wird, dass das Land in seinem gegenwärtigen Zustand nicht die Reife besitzt, über fremdes Gebiet zu herrschen.

Von: 
Christian Meier

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