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Ein letztes Interview mit Peter Scholl-Latour

»Wir alle leben doch in Erwartung des Todes«

Interview

Am 16. August 2014 starb Peter Scholl-Latour mit 90 Jahren. Kurz vor seinem Tod führte zenith ein letztes Interview mit ihm – über seine Familie und sein Leben, den Aufstieg des Dschihadismus im Nahen Osten und den »Fluch der bösen Tat«.

zenith: Herr Scholl-Latour, Sie haben einmal erwähnt, dass Ihr Vater schon früh die Neugier auf die Welt in die Wiege gelegt habe. Wie meinten Sie das?  

Peter Scholl-Latour: Als Kind habe ich sehr viel gelesen, wobei mir die Bibliothek meines Vaters zugute kam. Mein Vater war ja Arzt, hatte aber auch die Ader eines Abenteurers, er war für seine Zeit ein extravaganter, weltoffener Mann, der sehr viel Wert auf literarische Bildung legte. An meinem zehnten Geburtstag empfahl er mir, mich nicht mehr nur mit der Lektüre Karl Mays zu beschäftigen, sondern mit den großen Entdeckern wie beispielsweise David Livingstone, Henry Morton Stanley oder Ferdinand Magellan. Die Werke über diese Forscher und Entdecker, die einst in maritime und terrestrische Weiten aufbrachen, faszinierten mich und weckten mein Interesse an der Welt, an ihrer geographischen und ethnologischen Vielfältigkeit.

 

Befanden sich in der Bibliothek Ihres Vaters auch die Werke des 1944 verstorbenen Schriftstellers Alfons Paquet? 

Ja. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich an diesen großartigen deutschen Reiseschriftsteller erinnern, der leider völlig in Vergessenheit geraten ist. Als ich seine Bücher zu lesen begann – es war wohl Mitte oder Ende der 1930er Jahre –, stand er bei den Nazis ja schon nicht mehr hoch im Kurs. Wahrscheinlich gerade deshalb machte mich mein Vater mit dem Werk dieses Mannes bekannt.

 

Alexander Baldus beschrieb Alfons Paquet 1928 als »Mensch des Westens, doch dem Osten verbrüdert, Sohn der Stadt, doch Bürger der Welt, Reporter des Tages, doch Prophet der Ewigkeit, Aristokrat des Wortes, doch Demokrat der Überzeugung«. Fühlen Sie sich da auch an Ihr berufliches und privates Leben erinnert? 

Zu seinen Lebenszeiten wurde Paquet auch als »Rheinländer und Weltdeutscher« bezeichnet, was meinem Vater sehr gut gefiel, der ja aus Lothringen stammte.

 

Und Ihre Mutter stammte aus dem Elsass. 

Richtig, die Familie meiner Mutter war auch lange in Straßburg ansässig.

 

Dort wurde auch der Bruder Ihrer Mutter geboren, Ihr Onkel Robert Nussbaum. 

Mein Großvater Moritz Nussbaum war dort als Direktor eines Gymnasiums tätig, in den Jahren nach der Reichsgründung, nach dem deutsch-französischen Krieg von 1871, als Elsass-Lothringen wieder zum Deutschen Reich kam. Die Familie Nussbaum war aber nie bereit, alles Französische pauschal zu verdammen, wie es damals üblich war, sondern behielt immer etwas von diesem Lebensgefühls Lotharingiens bei – wie man dieses Reich Lothars II. zwischen Westfranken und Ostfranken im 9. Jahrhundert nannte – also zwischen dem heutigen Deutschland und dem heutigen Frankreich. Dieses Lebensgefühl wurde mir quasi in die Wiege gelegt.

 

Die Familie Ihrer Mutter war jüdischen Glaubens. Ihr Onkel Robert Nussbaum, ein Arzt, bekannt aufgrund seines sozialen Engagements für arme und mittellose Menschen, wurde 1941 von den Nazis ermordet. 

Mein Onkel wurde Opfer einer Intrige, was angesichts der damaligen antisemitischen Gesetzgebung verheerende Folgen für ihn hatte. Ich war damals noch Internatsschüler in der Schweiz, wohin meine Eltern mich geschickt hatten, um nicht den politischen Verhältnissen in Deutschland ausgesetzt zu sein oder der nationalsozialistischen Politik. 1940 kehrte ich zurück. In dieser Zeit lag die wohlbehütete Welt meiner Kindheit schon in Trümmern. Meine Eltern hatten sich zum Schein scheiden lassen, weil mein Vater sonst nicht mehr als Arzt hätte praktizieren dürfen, denn meine Mutter galt nach den Nürnberger Gesetzen als Jüdin, da sie aus einer jüdischen Familie stammte, obwohl sie schon viel früher zum Katholizismus konvertiert war.

 

Und Sie galten als »Mischling 1. Grades«. 

Nach meiner Rückkehr nach Deutschland zog ich nach Kassel, dem Wohnort meiner Mutter, die dort mit gefälschten Papieren geschützt lebte. Nur dort konnte auch ich, ebenfalls mit falscher Identität, 1943 mein Abitur ablegen. Es gab zu dieser Zeit auch Helden, die andere Menschen schützen, mit und ohne Parteiabzeichen übrigens. Mein damaliger Schulleiter wusste Bescheid, obwohl er zu Beginn ein begeisterter Anhänger Hitlers gewesen war.

 

»So merkwürdig es klingen mag, Berlin eignete sich in der NS-Zeit besser zum Untertauchen als die Provinz«

 

Die Gefahr schwebte aber immer über dem Schicksal Ihrer Familie.

Natürlich. Meine Mutter machte sich spätestens nach 1938, und nach der Ermordung ihres Bruders, keinerlei Illusionen mehr über das bevorstehende Schicksal der Juden im Herrschaftsbereich Hitlers. Deshalb ging ich ja nach dem Abitur nach Berlin, wo ich quasi im Untergrund lebte. So merkwürdig es heute klingen mag, die Hauptstadt des »Dritten Reichs« war dafür besser geeignet, schon aufgrund ihrer Größe und Einwohnerzahl, als ein Ort in der Provinz. Außerdem war in dem damaligen Berlin noch mehr vom Anti-Nazi-Geist zu spüren innerhalb der Bevölkerung, von der noch ein Großteil kurz vor der Machtübernahme sozialdemokratisch oder kommunistisch votiert hatte, als anderswo.

 

Sie haben die jüdische Herkunft Ihrer Mutter lange Zeit geheim gehalten. 

Warum hätte ich sie denn erwähnen sollen? Die jüdische Religion spielte weder bei meiner Mutter noch in meiner Erziehung eine Rolle. Weder meine Mutter noch ich hatten jemals die Absicht, uns im Nachkriegsdeutschland aufgrund des erlittenen Unrechts als NS-Opfer zu stilisieren. Mein Onkel hätte das Recht dazu gehabt, beziehungsweise seine Familie, wenn er diese Zeit überlebt hätte.

 

In Ihrem Buch »Leben mit Frankreich« beschreiben Sie, wie Sie in die Hände der Gestapo gerieten. 

Die Gestapo war noch harmlos im Vergleich zum Sicherheitsdienst (SD). Diese Erfahrung, dass ich mit 20 schon knapp vor dem Tode stand, hat mich für mein Leben geprägt und gezeichnet sowie später gegen Unheil gewappnet.

 


Peter Scholl-Latour

Der 1924 geborene Journalist berichtete aus Krisenherden in Afrika, Südostasien und Nahost. Sein Buch »Der Tod im Reisfeld« ist das meistverkaufte deutsche Sachbuch nach 1945. Daneben schrieb Scholl-Latour über 30 weitere Bücher – oft zum Ärger von Wissenschaftlern, die seine starre Weltsicht kritisierten.


 
 
Sie sind jetzt 90 Jahre alt. Georg Stefan Troller sagte mir anlässlich seines 90. Geburtstages, er nehme an, er verdrängt den Tod. Wie sieht das bei Ihnen aus? 

Wissen Sie, ich habe im Laufe meines langen Lebens dem Tod schon so oft ins Auge geblickt, dass er für mich nur ein Teil der condition humaine, der »menschlichen Bedingungen« ist, um es mit Malraux auszudrücken. Wir alle leben doch in Erwartung des Todes. Persönlich erwarte ich ihn schon lange, gefürchtet habe ich ihn nie. Sterben kann schlimm sein, der Tod ist wie das Leben. Der Anblick von sterbenden Menschen, von denen ich in meinem Leben viele gesehen habe, hat mich immer stärker berührt als der Anblick von Leichen. Wenn der Tod kommt, dann kommt er. Der Tod ist die Signatur des Menschen.

 

Welcher weltpolitische Krisenherd bereitet Ihnen momentan die größten Sorgen? 

Da gibt es einige Konflikte, die Anlass zur Sorge bieten. Den Aufstieg des »Islamischen Staats im Irak und Syrien« (ISIS) betrachte ich als ein epochales Ereignis, mit verheerenden Folgen. ISIS konnte entstehen aus den Wirren des syrischen Bürgerkrieges, als der Westen die Rebellen massiv gegen Assad aufrüstete. Wer spricht denn heute noch von der »Freien Syrischen Armee«? Das alles flankiert von der westlichen Komplizenschaft mit Saudi-Arabien, dem reaktionärsten Regime in der Region.

 

Sie haben früh vor diesen Folgen gewarnt, damals warf man Ihnen unter anderem Antiamerikanismus vor. 

Mein berufliches Leben war oft davon geprägt, dass meine Beobachtungen und Thesen anfangs heftigster Kritik ausgesetzt waren – nicht selten unsachlicher Kritik – und man mir dann teilweise nachträglich Recht gab; ich sage das ohne Eitelkeit. Als ich damals bezweifelte, dass im Irak ein »Leuchtturm der Demokratie« entstehen würde – so wurde es ja formuliert –, warnte ich vor den Gefahren eines schiitisch-sunnitischen Bürgerkriegs, wobei meine Gesprächspartner teilweise mit den Begriffen Schiiten und Sunniten noch gar nichts anfangen konnten. Ich wurde des Antiamerikanismus bezichtigt – teilweise von Kommentatoren, die noch einige Jahre zuvor vor Nato-Kasernen demonstriert hatten, während ich mich massiv für den Nato-Doppelbeschluss einsetzte ...

 

»Meine Kritiker hätten lieber mal vor Ort recherchieren sollen, als am Schreibtisch schlaue Artikel zu fabrizieren«

 

... der auf Drängen der USA die Stationierung neuer Raketen mit Atomsprengköpfen unter anderem in der BRD vorsah, um das strategische Gleichgewicht mit der Sowjetunion zu erhalten.

Dann wieder hieß es, ich würde den Islam als Feindbild aufbauen; andere warfen mir vor, ich wäre zu islamfreundlich. Diese Kritiker hätten lieber mal vor Ort recherchieren sollen, als ihre schlauen Artikel zu Hause am Schreibtisch zu fabrizieren. Der Ukraine-Konflikt bereitet mir auch Kopfschmerzen, insbesondere die Einseitigkeit der westlichen Berichterstattung.

 

Ihr neues Buch, das im Herbst erscheint, trägt den Titel »Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient«. 

Der Titel wurde durch Schillers »Wallenstein« inspiriert«: »Das eben ist der Fluch der bösen Tat / dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.«

 

Das klingt nicht sehr optimistisch. 

Wie sagte doch Paul Valéry: »Im Abgrund der Geschichte ist für alle Platz.« Aber ich möchte gar nicht nur pessimistisch argumentieren. Langsam aber sicher setzt sich ja im Westen die Erkenntnis durch, dass die enge Partnerschaft mit Saudi-Arabien für uns gefährlich ist. Besonders die Verbreitung der dort praktizierten Lehre des Wahhabismus. Aber wenn wir auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens schauen, dann ist diese doch gebeutelt wie keine zweite durch jahrzehntelange politische und militärische Interventionen des Westens, die allesamt mehr Fluch als Segen waren. Inzwischen fliehen die Christen in Massen aus der Region, während sich Wahhabiten und Salafisten verbreiten. Es gärt und brodelt überall.

 

Was sollte der Westen tun? 

Wenn der Westen Demokratie und Menschenrechte fordert, dann bitte konsequent, nicht nur selektiv. Obama reiste im Frühjahr nach Brüssel, sprach gegenüber Russland in den blumigsten Worten von Menschenrechten, kritisiert die Annexion der Krim. Einen Tag später flog er nach Saudi-Arabien, sprach diese Themen überhaupt nicht an und sagte auch kein Wort zur Besetzung Bahrains durch saudische Truppen, sondern unterzeichnete stattdessen einen neuen Waffendeal. Danach wundert man sich dann darüber, weshalb Truppen wie ISIS so aufrüsten konnten. Ich betrachte das als Skandal.

Von: 
Ramon Schack

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