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Industrie in Zentralmarokko

Raus aus dem Dornröschenschlaf

Reportage

Wie kann man Tourismus und Landwirtschaft in einem marokkanischen Provinznest am Rande der Sahara ankurbeln? Die Schlüssel: Billigflieger und Bioprodukte.

Mit einer Hand am Handy manövriert Elhoussaine Ouhlisse seinen Geländewagen hektisch durch den Stadtverkehr von Marrakesch. Die Fahrt geht aus der Stadt hinaus und über das Atlas-Gebirge in den Südosten Marokkos, in Ouhlisses Heimatort Kelaa M'gouna. Die Kleinstadt mit 14.200 Einwohnern ist im ganzen Land für seine Rosen bekannt. »Die vergessene Region,« so nennt Ouhlisse die vom Tourismus vernachlässigten Provinzen Tinghir und Ouarzazate in Südostmarokko, die den Rand der Sahara markieren und überwiegend von Berbern bewohnt sind.

 

Er selbst ist mit 27 Jahren in die Normandie ausgewandert. Jedes Jahr kehrt der Englischlehrer zum Familienbesuch nach Hause zurück. Aber in diesem Jahr ist er aus einem anderen Grund da: Er will mehr Touristen in seine Heimat holen. Ouhlisse rast durch die karge Wüstenlandschaft. Terrakottafarbene Häuser ziehen vorüber, hin und wieder von Oasen in unwirklich anmutendem Grün unterbrochen. Ein vollbeladener Esel trottet am Wegesrand an Rosenbüschen vorbei und folgt einer Gruppe Frauen, die ihre Kinder mit bunten Tüchern auf den Rücken gebunden haben.

 

Ob zu Fuß, per Lasttier oder motorisiert, alle zieht es in eine Richtung: zum größten Festival der Region. Seit 1960 findet in Kelaa M'gouna alljährlich im Frühsommer ein viertägiges Rosenfest statt. Das Spektakel zieht dieses Jahr fast eine halbe Million Besucher an. Geboten werden Produktschauen lokaler Hersteller, ein Jahrmarkt, musizierende Berbergruppen, Fachdebatten am runden Tisch, eine Pferdeschau und als Höhepunkt: die Wahl der Rosenkönigin.

 

»Aber dieses Mal ist alles anders», sagt Ouhlisse stolz und erklärt: »Das Festival ist professionell organisiert!« Auch ehrenamtliche Helfer haben daran ihren Anteil. »Ich stand schon als Kind auf den Feldern, habe zwischen den Rosen gespielt und Blüten gepflückt«, erinnert sich Ouhlisse, der extra für das Festival Urlaub genommen hat. Seine Familie besitzt selbst Land mit Rosensträuchern.

 

Im Januar 2013 gründete er zusammen mit anderen Akademikern aus seiner Provinz die Organisation »Saghrou«, die sich selbstbewusst als Think Tank versteht und den Tourismus in der Region fördern, Arbeitslosigkeit bekämpfen und der Abwanderung gen Westen etwas entgegensetzen will. »Wir brauchen mehr Veranstaltungen wie das Rosenfest, um Touristen in die Gegend zu locken«, findet Ouhlisse.

 

»Wer hierher reist, will keinen Massentourismus, sondern einen Abenteuerurlaub«

 

Die Voraussetzung dafür wären regelmäßige und preisgünstige Verbindungen nach Europa. 2006 unterzeichnete Marokko mit der EU ein Luftverkehrsabkommen, das den marokkanischen Luftraum umfassend freigegeben hat. Seither ist es inländischen und europäischen Fluggesellschaften gestattet, ohne Preis- oder Kapazitätsbeschränkungen alle Flughäfen im Land anzufliegen. Dieser Schritt hat den Tourismus mächtig angeheizt: Allein zwischen 2006 und 2007 nahm der internationale Flugverkehr um 25 Prozent zu und die Zahl der Fluggäste hat sich um 60 Prozent erhöht.

 

Obwohl die staatliche Airline Royal Air Maroc immer noch Marktführer ist, mit mehr als 50 Prozent Marktanteil, sind 22 neue Fluggesellschaften seit 2004 hinzugekommen. Auch einige Billigfluganbieter steuern nun marokkanische Städte wie Marrakesch, Agadir oder Casablanca an. Ryan Air bedient gar acht der 27 Flughäfen des Landes. Ouhlisse reicht das nicht aus, er fordert: »Die Infrastruktur muss besser ausgebaut und insbesondere das Flugstreckennetz erweitert werden. Ouarzazate muss auf die Karte der Billigflieger.«

 

Nach Ouarzazate, dem einzigen Flughafen in der Region, fliegt aber nur Royal Air Maroc. »Ein einziger Flug am Tag und der meist zu ungünstigen Zeiten«, beschwert sich Ouhlisse. »Wenn wir wollen, dass die Leute hierherkommen, müssen wir es ihnen leichter machen.« Auch die Straßen müssten ausgebessert werden: »Von Marrakesch nach Kelaa M’gouna braucht man vier Stunden, obwohl man es eigentlich in anderthalb schaffen könnte.« Von den 9,4 Millionen Touristen, die im Jahr 2012 nach Marokko reisten, besuchten nur rund 83.000 Ouarzazate.

 

Und das, obwohl die Gegend viel zu bieten hat: malerische Landschaften, zahlreiche Sehenswürdigkeiten und ein reiches Kulturerbe. Bisher lockte das vor allem die Filmindustrie nach Südostmarokko: Seitdem in Ouarzazate Anfang der 1960er Jahre »Lawrence von Arabien« gedreht worden war, diente die Landschaft als Kulisse für zahlreiche Historienund Monumentalfilme, wie beispielsweise »Prince of Persia«, »Gladiator« oder »Die Päpstin«.

 

Das verschafft den Einwohnern saisonbedingt eine Anstellung als Statist, wie etwa Taxifahrer Muhammad, der in »Gladiator« mitgespielt hat, wie er beflissen erzählt. Doch weil über die Vermittlungsagenturen viel Geld verloren gehe und der Lohn als Statist daher niedrig sei, hat er der unzuverlässigen Filmindustrie den Rücken gekehrt und kutschiert nun Touristen herum. »Die meisten Urlauber kommen aus Frankreich, Spanien und Deutschland«, sagt Muhammad über die Touristen, die es in die Provinzen verschlägt. »Wer hierher reist, will keinen Massentourismus, sondern einen Abenteuerurlaub in der Natur, zum Beispiel in der Wüste wandern.«

 

»Wir haben ein hochwertiges Produkt, aber wir können es noch nicht richtig vermarkten«

 

So wenig Touristen die Region besuchen, so viele junge Menschen verlassen sie – insbesondere die Hochqualifizierten. 70 Prozent der Universitätsabsolventen kehren nicht in die Region zurück, schätzt Ouhlisse. Sie gehen in die Städte oder versuchen auszuwandern. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eines der großen Probleme in Marokko: Laut einem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2012 sind fast ein Drittel der jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos, bei den Frauen in dieser Altersgruppe lag der Wert gar bei 84,3 Prozent.

 

Wie in den anderen nordafrikanischen Ländern protestierten auch in Marokko vor allem junge Menschen gegen hohe Arbeitslosigkeit und staatliche Vernachlässigung. Das Verfassungsreferendum und die Wahlen 2011 haben den Druck zwar größtenteils von der Straße an die Urne verlagert. Dennoch bezahlt das Land einen hohen Preis für die Perspektivlosigkeit seiner Jugend: Über 80 Marokkaner sollen sich seit 2011 selbst verbrannt haben. Der Einstieg ins Berufsleben gestaltet sich für junge Marokkaner schwierig.

 

Der Übergang von Studium oder Ausbildung in den Beruf dauert im Durchschnitt länger als drei Jahre. Hinzu kommt die auffallend hohe Arbeitslosenquote unter Akademikern – denn für die wenigen vorhandenen Arbeitsplätze braucht man in der Regel keinen Hochschulabschluss. Die meisten Menschen in den Provinzen Ouarzazate und Tinghir leben von der Landwirtschaft. Die Region ist bekannt für ihre aromaintensiven Erzeugnisse, die dann auf den Suks von Casablanca und Marrakesch feilgeboten werden: Neben Rosen werden in Südostmarokko auch Safran und das Öl des hier heimischen Arganbaumes verarbeitet – eine anstrengende, schlecht bezahlt Tätigkeit, der viele junge Menschen die Emigration vorziehen.

 

Wer Glück hat, ergattert einen der Jobs im öffentlichen Sektor: in der Verwaltung, im Bildungsbereich, in einem der Krankenhäuser oder in der Armee. Moulay al-Hassan ist trotz Universitätsabschluss in seiner Heimat geblieben. Auch er arbeitet als Lehrer, seit 20 Jahren unterrichtet er Schulkinder in arabischer Grammatik. Nebenbei hat er noch einen zweiten Job: Al-Hassan unterstützt die Arbeiterinnen einer Frauenvereinigung in Souk Lakhmis, der Association Féminine pour le Développement de la Famille à Oued Dades (AFDF).

 

Solche Zusammenschlüsse auf lokaler Ebene gewinnen in der Region immer mehr an Attraktivität. Im Jahr 2010 verzeichneten 19 landwirtschaftliche Genossenschaften in Ouarzartates Nachbarprovinz Tinghir fast 4.000 Mitglieder. Sie betrieben Bienenzucht, Milchproduktion oder Rosenverarbeitung. 13 davon waren Frauenvereine. Die AFDF ist auf die berühmten Rosen der Region spezialisiert. Die 35-jährige Lubna Hamidi arbeitet seit zehn Jahren in der kleinen Organisation.

 

Begeistert erzählt die Mutter dreier Kinder von der Zusammenarbeit mit den Franzosen: »Im Sommer kommt eine Gruppe Experten aus Grasse in Südfrankreich – der Welthauptstadt des Parfüms –, um uns beizubringen, wie wir Rosenmarmelade herstellen können.« Die Herstellung der Rosenprodukte sichert den Lebensunterhalt der Arbeiterinnen, von denen einige weder lesen noch schreiben können und damit zu den neun Millionen Analphabeten des Landes zählen.

 

Der Anteil der Marokkaner über 15 Jahren, die keine Schulbildung erhalten haben, beträgt immer noch 40 Prozent. Die AFDF bietet deshalb Alphabetisierungskurse für die Arbeiterinnen an und hat eine kleine Bibliothek eingerichtet. Die Fabrik stellt zudem Kinderbetreuung und eine Vorschule zur Verfügung. Auch Schulungen über Bienen, Schafund Ziegenzucht werden angeboten.

 

»Die Rose gibt uns allen hier in der Gemeinschaft eine Zukunft«

 

Der Arabischlehrer Moulay al-Hassan ist im Verein das Mädchen für alles. Der sanftmütige Mann erledigt administrative Aufgaben oder bringt den Verkäuferinnen auf dem Rosenfest einen Topf Tajine zum Mittagessen. Die AFDF wurde 2002 von einer Handvoll Frauen aus der Umgebung des Dades-Tals gegründet. Mittlerweile arbeiten 40 Frauen dort in einem Rotationssystem, weil es nicht immer genügend Arbeit für alle gibt. Sie besitzen eine kleine Destillerie und etwa 4.000 eigene Pflanzen.

 

Zusätzlich kaufen sie den umliegenden Familien, die ihnen Rosenblüten bringen, ein Kilo Rosen für 14 Dirham ab – umgerechnet etwas mehr als einen Euro. Außerhalb der Rosensaison stellen die Arbeiterinnen Trockenfrüchte und Öle aus Kräutern wie Lavendel und Thymian her. Im Austausch mit französischen Organisationen bilden sie sich über nachhaltige Landwirtschaft und umweltbewusste Verpackungen weiter. So nutzen sie die übriggebliebenen Rosenreste nach dem Verdampfen als Dünger und verwenden nur natürliche Pestizide.

 

Auf einer Gesamtfläche von mehr als 3.000 Hektar – immerhin ein Drittel der gesamten Blumenanbaufläche der Niederlande – wird die Sorte »Damaszener Rose« angepflanzt, deren Sommerart für ihren natürlich hohen Ölanteil geschätzt wird. Ein Teil der Produktion ist für den einheimischen Markt vorgesehen, der Rest wird exportiert. Für die Rose wünscht sich Ouhlisse eine Produktlinie, die zertifiziert und – ähnlich wie in der EU – herkunftsgeschützt ist. Denn: »Wir haben ein hochwertiges Produkt, aber wir können es noch nicht richtig vermarkten.«

 

Die Arbeiterinnen von der AFDF sind da schon ein Stück weiter: Sie wurden für ihre Kooperative mit dem Preis der Umweltstiftung der »Yves Rocher Foundation« und der Organisation »Terre des Femmes« ausgezeichnet. Viel bedeutender aber noch: Sie halten ein Zertifikat auf ihre Produkte. Aus diesem Grund ist Lubna Hamidi trotz der vielen Arbeit während der Saison zuversichtlich: »Die Rose gibt uns allen hier in der Gemeinschaft eine Zukunft.«

Von: 
Mai-Britt Wulf

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