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Kommunalwahlen in Marokko

Lackmustest in den Lokalräten

Analyse

Die Regierungspartei PJD geht als Sieger aus den Kommunalwahlen in Marokko hervor. Entscheidender aber war die Bewährungsprobe für faire und freie Wahlen als Schritt in Richtung Dezentralisierung und Meinungsfreiheit.

Die ersten Wahlen in Marokko nach Annahme der neuen Verfassung von 2011 sind ein Lackmustest für den Reform- und Demokratisierungsprozess des Landes dar. Zudem lassen sich bereits erste Prognosen für die kommenden Parlamentswahlen 2016 abzeichnen. Mit doppelt so vielen Stimmen als bei den vergangenen Wahlen ging die islamisch orientierte »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD), die derzeit als stärkste Regierungspartei den Regierungschef Abdelilah Benkirane stellt, als klarer Sieger bei den Regionalwahlen hervor.

 

Vor allem in den Städten Casablanca, Fès, Tanger, Agadir und Rabat konnte die PJD überraschenderweise ein großes Wählerpotenzial mobilisieren. Vertreter der PJD versprechen sich aus diesem Wahlergebnis eine Stärkung ihrer Position und messen darin, die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der aktuellen Regierungsarbeit. Bis zum Eintritt in die Regierung 2011 konnte die seit 1967 in diversen Formierungen bestehende PJD ausschließlich als Oppositionspartei agieren.

 

Die 2008 von einem Berater des Königs gegründete Partei »Authentizität und Modernität« (PAM) wurde zwar bei den Kommunalwahlen stimmenstärkste Partei, musste aber im Vergleich zu den Regional- und Kommunalwahlen von 2009 starke Wählerverluste hinnehmen. Als weitere Wahlsieger gehen die Frauen hervor. Insgesamt konnten die Kandidatinnen 6.673 Sitze, fast doppelt so viel wie 2009, in den Kommunalräten für sich gewinnen. Bereits kurz nach den Wahlen gaben die vier Oppositionsparteien PAM, Istiqlal, die »Sozialistische Union der Volkskräfte« (USFP) und die »Konstitutionelle Union« (UC) bekannt, keine Koalitionen mit der PJD einzugehen. Aufgrund der Wahl einiger Minister zu Mitgliedern der Kommunal- und Regionalräte ist in den kommenden Wochen mit einer Regierungsumbildung zu rechnen.

 

Zudem führten parteiinterne Streitigkeiten im Vorfeld der Wahlen zu einer Schwächung der Oppositionsparteien. Am 24. Juli rief der Bürgermeister der Stadtkommune Agadir, Tarik Kabbaje, die »Partei Demokratische Alternative« (PAD) ins Leben, die vom Innenministerium nicht mehr rechtzeitig für die Wahlen zugelassen werden konnte. Die PAD ging aus einer Abspaltung der USFP hervor. Nach dem Tod des USFP-Parlamentsabgeordneten Ahmed Zaidi im November 2014 kam es zu einer Spaltung zwischen den Parteimitgliedern.

 

In der Parteigeschichte der USFP führten seit 2000 bereits drei Parteiabspaltungen zu einer kontinuierlichen Schwächung bei den lokalen und nationalen Wahlen. Bereits bei den Berufskammerwahlen im August dieses Jahres zeichnete sich eine erfolgreiche Prognose für die PJD ab, die einen Stimmenzuwachs von fast 9 Prozent erzielen konnte. Die PAM konnte bei den berufsständischen Kammern weiterhin ihre Führung beibehalten und erhofft sich einen Sieg bei den Wahlen des marokkanischen Oberhauses (Rätekammer) am 2. Oktober. Die Mitglieder der Rätekammer werden von Vertretern der territorialen Gebietskörperschaften (Kommunen, Provinzen und Präfekturen) und Mitgliedern der Berufskammern, berufsständischen Vereinigungen und Arbeitnehmervertretungen gewählt.

 

Die hohe Wahlbeteiligung spricht für den Wunsch der Bevölkerung nach mehr politischer Teilhabe

 

Mit einer Wahlbeteiligung von 53,6 Prozent (2009: 52,4 Prozent) nahmen deutlich mehr Marokkaner ihr Wahlrecht bei diesen Regional- und Kommunalwahlen als bei den nationalen Parlamentswahlen 2011 (45 Prozent) in Anspruch.

 

Die hohe Wahlbeteiligung lässt sich auf die gestiegene Anzahl der offiziell registrierten Wahlberechtigten (2 Millionen Wahlberechtigte mehr als 2009) und das Interesse der Bevölkerung an der Mitbestimmung in öffentlichen Angelegenheiten auf lokaler Ebene zurückführen. Das Ergebnis spricht für den Wunsch der Bevölkerung nach mehr politischer Teilhabe.

 

Im Zuge des am 22. August gestarteten Wahlkampfs prangerten sowohl Parteimitglieder als auch lokale Medien den massiven Wählerstimmenkauf sowie die intransparente Verwendung von Wahlgeldern an. Ein Wahlkandidat äußerte sich der marokkanischen Tageszeitung Liberation gegenüber: »Mit den großen Diskursen und Ideologien ist es zu Ende, das Geld macht die Gesetze. Heute kann man alles kaufen: Kandidaten, Wähler, Stimmen.« 

 

Stimmenkauf und Wahlboykott

 

Die öffentliche Denunzierung des Wählerstimmenkaufs durch Parteimitglieder und Medien stellt die demokratische Praxis freier und fairer Wahlen, der sich Marokko zuletzt erneut durch die Verfassung von 2011 verpflichtet hat, in Frage. Die korrekte Vorbereitung und Durchführung der Wahlen wurde von den etwa 4.000 nationalen und internationalen Wahlbeobachtern als auch nationalen Instanzen bestätigt. Der »Nationale Rat für Menschenrechte« (CNDH) lobte nach einer umfassenden Evaluierung des Wahldurchgangs die strenge Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben, sprach sich aber für eine höhere Frauenquote, die den demographischen Entwicklungen des Landes entspricht, sowie eine Vereinfachung der Stimmzettel aus, die auch der nicht alphabetisierten Wählerschicht eine Teilnahme ermöglicht hätte.

 

Trotz reibungslosen Verlaufs von Wahlkampagne und -durchgang riefen sowohl zivilgesellschaftliche Vereinigungen als auch politische Parteien zum Wahlboykott auf – eine direkte Kritik am politischen System und der regierenden Machtelite. Mitglieder der marokkanischen »Vereinigung für Menschenrechte« (AMDH) und der Partei »Al-Nahj al-Dimocrati« wurden aufgrund des Appels zum Wahlboykott bei einer Versammlung gewaltsam festgenommen. Trotz ihrer raschen Freilassung wurde dieser Vorfall vom Innenministerium verurteilt.

 

Der CNDH, sowie auch hochrangige Politiker, unter anderem Außenminister Salaheddine Mezouar, und Parlamentsabgeordnete sprachen sich für eine freie Meinungsäußerung aus, die einen Appell zum Wahlboykott umfasst, aus. Die größte tolerierte Oppositionsbewegung des Landes, »Al Adl Wal Ihsane«, rief ihre Anhänger ebenfalls auf, sich an den Wahlen nicht zu beteiligen. Laut offiziellen Regierungsangaben wurden 1.244 Beschwerden zu den Regional- und Kommunalwahlen eingereicht und 258 Personen strafrechtlich verfolgt.

 

Beim eigentlichen Wahldurchgang wurden dem CNDH zufolge statistisch gesehen nur wenige Regelwidrigkeiten erfasst. Ob die PJD auch ihre Beliebtheit weiterhin beibehalten kann, wird sich bei den Parlamentswahlen 2016 zeigen. Zunächst gilt es, die Koalitionen für die Regional- und Kommunalräte zu etablieren und notwendige Reformen auf lokaler Ebene anzugehen. Das Wahlversprechen der PJD für mehr Transparenz und weniger Korruption in öffentlichen Angelegenheiten dürfte ihr zum Wahlsieg verholfen haben. Erstmals konnte die Bevölkerung ihre regionalen Vertreter direkt wählen. Die Abwahl korrupter Politiker stellt einen regelrechten Sieg für die repräsentative Demokratie dar. Es lässt sich nur hoffen, dass die neu gewählten Regional- und Kommunalräte ihrem Prinzip für mehr Transparenz treu bleiben.

Von: 
Ingrid Heidlmayr

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