Die Fans von al-Ahly sprechen vom »Massaker von Port Said«, in Kairo liegen nach dem Tod mindestens 74 Menschen die Nerven blank. Hat der Militärrat den Gewaltexzess nicht nur zugelassen, sondern sogar forciert?
Schlachtrufe hallten am frühen Donnerstagmorgen durch den Kairoer Ramsis-Bahnhof: »Die Polizisten sind Verbrecher« und »Nieder mit dem Militär« war zu hören. Zu sehen waren: aufgebrachte junge Männer, Anhänger des Fußballvereins Al-Ahly und deren Intimfeinde – Mitglieder der »Ultra White Knights« des Stadtrivalen Zamalek.
Die Verbrüderung hat ihren Grund: Über 70 Tote und hunderte Verletze. So die Bilanz nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Anschluss an das Fußballmatch der ägyptischen Erstliga-Mannschaften Masry und Ahly in der Stadt Port Said am Mittwochabend. Doch dass die Opfer, meist Ahly-Fans, lediglich zufällige Opfer waren, daran glaubte bereits gestern Nacht niemand.
Zumal die Zeitung al-Masry al-Youm eine Twitter-Nachricht veröffentlichte, in der ein Fan aus dem Stadium heraus eine Nachricht an die Öffentlichkeit schrieb: »Die Polizei öffnet die Tore für Horden von Masry-Anhängern, so dass sie uns erreichen können. Die Ausgänge, die normalerweise offen sind, sind jetzt verschlossen.«
Der ägyptische Schriftsteller und Freiheitskämpfer Khaled al-Khamissi stellt im Gespräch mit zenithonline den Vorfall in den Zusammenhang zu den anhaltenden Repressionen des Militärrates gegen seine öffentliche Kritik. Aber was war geschehen?
»Ein Krieg, der geplant war«
Kaum hatte Masry aus Port Said einen 3:1-Sieg gegen den Erzrivalen Ahly aus Kairo errungen, quollen die Fans der Gastgeber aus ihrem Fanblock auf das Spielfeld und stürmten den Rängen der Ahly-Fans entgegen. In den folgenden Minuten entzündete sich ein Gewaltexzess, wie ihn der ägyptische Fußball noch nie erlebt hat. Bemerkenswert sind die Bilder, die das Staatsfernsehen zeigte. Deutlich sind die Polizeikräfte, ausgerüstet mit Helm und Schutzschild, zu sehen, die weitgehend tatenlos zuschauen, während die Fans sowohl Spieler als auch Anhänger des Kairoer Vereins jagen.
Die üblichen Sicherheitsmaßnahmen, um die Fangruppen bei brisanten Spielen voneinander zu trennen, blieben aus. Ein Anwohner des Stadions berichtet, dass – anders als an normalen Spieltagen – kaum Polizei auf der Straße um die Sportstätte zu sehen gewesen sei. Am Ende starben über 70 Menschen an Hieb- und Stichverletzungen oder wurden zu Tode getrampelt. Die Mannschaft aus Kairo wiederum wurde in ihrer Kabine eingeschlossen, wie der Spieler Sayed Hamdi per Telefon live im Staatsfernsehen berichtete. Ein Fan starb nach Angaben des Vereins direkt in der Kabine der Gäste. Der Team-Arzt Dr. Ehab Ali nannte die Gewalt im Stadion einen »Krieg, der geplant war«.
Damit stimmt er mit der These des linken Autoren Khaled al-Khamissi überein. Sein Buch »Im Taxi« wurde auch in Deutschland veröffentlicht und beschreibt in kurzen Szenen Erlebnisse mit Kairoer Taxifahrern und deren Gedankenwelt.
Am Rande einer Konferenz des spanischen Büros der Bertelsmann-Stiftung und des Think Tanks »IEMed« über die Herausforderungen der arabischen Staaten und Europas nach dem so genannten Arabischen Frühling in Barcelona erfährt Khamissi von den gestrigen Ereignissen. Der Intellektuelle sieht in dem Gewaltausbruch einen weiteren Angriff auf die in Ägypten auch nach den Wahlen aus seiner Perspektive noch andauernden Revolution: »Das vergangene Jahr war katastrophal. Seit Februar 2010 versucht das Militär alle Stimmen, die nach einem echten Wandel in Ägypten rufen, zu unterdrücken.« Schon 14 Tage nachdem Hosni Mubarak abgedankt hatte, sei Khamissi selbst mit elektrischen Schlagstöcken von offiziellen Sicherheitskräften verprügelt worden. Erst vor zwei Wochen sei sein jüngster Artikel der Zensur zum Opfer gefallen.
»Die Muslimbrüder sind die Polizei für das Militär«
Vorvergangenen Mittwoch hatte der Militärrat dann die seit 1981 geltenden Notstandsgesetze, die willkürliche Verhaftungen ermöglichten, außer Kraft gesetzt, doch behielt es sich die Junta vor, die alten Gesetze gegen Unruhestifter weiter anzuwenden. So sind Demonstranten in Kairo, Alexandria oder Ismailiya nach wie vor praktisch vogelfrei.
In den Ereignissen von Port Said sieht Khamissi nun eine Reaktion auf den Auftritt der Ahly-Ultras auf dem Tahrir-Platz vor sechs Tagen, bei dem sie sich gegen die Militärregierung wandten. Bereits im Herbst hatten die Fans öffentlich gegen das Militär skandiert.
Die ungewöhnlich dünne Polizeipräsenz beim gestrigen Spiel ist für ihn ein Indiz für einen absichtlich provozierten Zwischenfall der beiden rivalisierenden Fangemeinschaften.
»Es ist eine Fortsetzung der Mubarak-Methoden: Chaos verbreiten.« Das Konzept, Unruhen zu nutzen, um gegen das aufbegehrende Volk vorzugehen, würde nach wie vor konsequent verfolgt, so Khamissis Einschätzung. Doch das Militär braucht es gar nicht immer. Vor zwei Tagen, so berichtet er, sei seine Tochter verhaftet worden, als sie sich an einem Marsch auf das Parlamentsgebäude beteiligte. Allerdings waren es Mitglieder der Muslimbrüder, die die Barrieren vor dem Gebäude gegen Protestierende sicherten – das Militär war nicht zu sehen. Die Maske in Ägypten sei schnell gefallen, so Khamissi. Ein Agreement zwischen Militär und Muslimbrüder sieht er nicht mehr nur als Spekulation an. Mit dem konservativen Gebaren des Militärs können sich die Muslimbrüder arrangieren. »Sie sind die Polizei für das Militär«, sagt Khamissi.
Auch andere Stimmen neben Khamissi glauben nicht an einen unerwarteten Zusammenprall der Fans. In der Onlineausgabe der ägyptischen Zeitung al-Masry al-Youm stellt Parlamentsmitglied Al-Badry Farghaly fest, dass sowohl der Gouverneur von Port Said sowie der Sicherheitschef dem Stadion ferngeblieben waren, was bei einer so brisanten Begegnung ungewöhnlich sei.
Dennoch stützen sich die skeptischen Stimmen auf Indizien. Ob die vom Militärrat angekündigte Untersuchung Klarheit bringen wird, steht in den Sternen. Ob die Ereignisse von Port Said tatsächlich forciert wurden, bleibt wohl ebenso verborgen. Dass sich Ägypten auf anschwellende Gewalt einstellen muss, steht aber für Khamissi und andere Beobachter außer Frage.