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Medien in Marokko

Überwachung, Einschüchterung, Strafverfolgung

Feature

Marokkos Behörden gehen systematisch gegen unabhängige Medien vor. Nun steht eine Gruppe von Investigativjournalisten in Rabat vor Gericht, die die Methoden von Überwachung und Repression enthüllte.

Die Open-Source-App »Story Maker« ermöglicht, eine Geschichte mit Videos, Fotos, O-Tönen und Texten auf einem Smartphone selbst aufzubauen. Ein nützliches Tool für direkte, multimediale Berichterstattung, für Marokkos Behörden aber augenscheinlich ein gefährliches Werkzeug außerhalb der Kontrolle der eigenen Zensurstellen. »Im Juni 2015 erfolgte der Zugriff«, erinnert sich Bethel Tsegaye, Projektleiterin der Organisation »Free Press Unlimited«, die die Schulung für Journalisten und Bürgerjournalisten in Marrakesch organisiert hatte. »Das Training wurde nicht abgebrochen, aber die Behörde haben unsere Ausrüstung im beschlagnahmt.«

 

Auf die 26 eingesammelten Smartphones warten die Organisatoren heute noch. Der Vorfall ist kein Einzelfall: 2015 durfte der Marokkanische Verband für Investigativen Journalismus (AMJI) auch keine journalistischen Schulungen sowie öffentlichen Debatten mehr anbieten. Die Schikanen gegen sogar ein Stück weiter: Mehrere Verbandsmitglieder wurden von der »Brigade nationale de la police judiciaire« (BNPJ) in Casablanca verhört.

 

Zehn Stunden lang wurde Abdessamad Ait Aicha, Journalist und Ausbilder für Investigativjournalismus, über seine Beziehungen mit anderen Menschenrechtlern im August 2015 befragt. »Mir drohen jetzt bis zu fünf Jahre Gefängnis, nur weil ich in einem Land mit einem politischen System lebe, das unsere Berichterstattung und Engagement für Menschenrechte nicht unterstützt.« Ait Aicha zählt zu den sieben Journalisten und Menschenrechtlern, denen das marokkanische Königreich vorwirft, »die innere Sicherheit des Staates« zu bedrohen.

 

»Ich glaubte bisher, vieles verkraften zu können: Gewalt bei den Demonstrationen, Verschleppung durch Polizisten, endlose Verhöre, Verbote, das Land zu verlassen. Ich war immer der Überzeugung, dass mein Engagement an der Seite von Menschenrechtlern in einem Umfeld mit begrenzten Freiheiten seinen Preis hat.« Der 32-jährige Journalist, der für die Nachrichtenseite Lakome2 arbeitet, fügt bedauernd hinzu: »Diese Repressalien sind eine Art Abrechnung mit denjenigen, die Freiheit, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit einfordern.

 

»Seit dem 19. November 2015 wurde das Strafverfahren immer wieder vertagt. Am 27. Januar 2016 wurde der 23. März als nächster Termin vor dem Gericht in Rabat angekündigt. »So feiert das marokkanische Regime fünf Jahre Arabischer Frühling«, twitterte Hisham Almiraat, ein anderer der angeklagten Journalisten. »Der Staat will Reformer zum Schweigen bringen und verbreitet von sich gleichzeitig weltweit ein falsches Bild von Offenheit.«

 

In Folge der Demonstrationen, die die »Bewegung des 20. Februar« 2011 angestoßen hatte, wurde per Referendum in Marokko eine Verfassung angenommen, die die Menschenrechte eigentlich stärkt. Seitdem beobachten zivilgesellschaftliche Organisationen jedoch deutliche Rückschritte in Bezug auf die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit.

 

Den Trend bestätigt Bethel Tsegaye, die für Nordafrika zuständige Projektleiterin der niederländischen Organisation für Medienentwicklung »Free Press Unlimited«: »In Tunesien gibt es etwas mehr Spielraum, wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Journalisten können kritisch sein und investigativen Journalismus bedeutet weniger Risiken als in Marokko und Ägypten.« Bei den letzten journalistischen Schulungen in Marokko konnte die Projektleiterin die Ängste der Teilnehmer spüren: Interesse und Motivation sind da, aber auch die Angst im Gefängnis zu landen.

 

»Wir haben mehrere Razzien gegen unabhängige Journalisten, Medien und NGOs erlebt, die sich für Meinungsfreiheit und Menschenrechte im Allgemeinen und in Marokko im Speziellen engagieren. Journalisten wurden schikaniert, erpresst und festgenommen und ins Exil gezwungen.« Ein Klima der Angst beschreibt ebenfalls der bekannte marokkanische Investigativjournalist Ali Anouzla: »Unabhängige Journalisten in Marokko kämpfen im Alltag. Wir befinden uns auf einem Minenfeld: Wir wissen nicht, wann es explodiert.«

 

Als Beispiel erwähnt er unabhängige Journalisten, die den Job wechseln oder sogar das Land verlassen sollten. Seinerseits berichtet der Preisträger des Raif-Badawi-Preises immer wieder über Tabuthemen oder Menschenrechtsverletzungen wie Kritik am König, Korruption in den Behörden, Folter oder unfaire Prozesse. Dafür steht er seit September 2013 auch vor Gericht. Der Chefredakteur von Lakome2 bleibt aber von der Notwendigkeit der »vierten Macht« überzeugt, denn unabhängige Medien förderten mehr Freiheiten. »Die marokkanischen Behörden wollen keine freie und unabhängige Presse, auch keine freien und unabhängigen Journalisten, die ein Vorbild für andere Journalisten und vor allem für die Jugendliche werden könnten«, meint Anouzla.

 

Am 23. März sollen fünf Journalisten von unabhängigen Medien wie Lakome2 und Zamane mit zwei weiteren Menschenrechtlernvor Gericht in Rabat erscheinen. »Es geht nicht um sieben Aktivisten. Es geht um die Meinungs- und Pressefreiheit in Marokko«, twitterte Hisham Almiraat.

 

Spähsoftware italienischer und französischer Anbieter zur Überwachung marokkanischer Journalisten

 

Laut »Reporter ohne Grenzen« waren regierungskritische Artikel Auslöser ihrer Verfolgung, sowie zum Teil die Mitarbeit an einem Bericht über die digitalen Überwachungsmethoden der marokkanischen Regierung. Der im Juni 2015 veröffentlichte Report listete detailliert auf, wie das Online-Magazin Mamfakinch mit Überwachungstechnologie des italienischen Anbieters Hacking Team ausgeforscht wurde und wie Marokkos Regierung mit dem Überwachungssystem »Eagle« des französischen Anbieters Amesys E-Mails abfangen sowie Journalisten und Dissidenten in den sozialen Netzwerken überwachen kann.

 

2015 stand Marokko auf Platz 130 von 180 auf dem Pressefreiheit-Index von »Reporter ohne Grenzen«. Die »Marokkanische Organisation für Menschenrechte« (AMDH) zählte im vergangenen Jahr mehr als 40 Verfahren gegen Journalisten. Die NGO dokumentierte zudem willkürliche digitale Überwachung von Journalisten und anderer Bürger durch die Sicherheitskräfte ohne jegliche richterliche Überprüfung. Der 36-jährige Investigativjournalist Hicham Mansouri hat am eigenen Leib erfahren, welche Folgen es haben kann, über die staatlichen Schikanen gegen Medienschaffende aufzuklären: Zehn Monate musste er 2015 im Gefängnis absitzen, offenbar wegen einer Recherche über die digitale Überwachung bestimmter Aktivisten.

 

Auch er soll am 23. März vor Gericht in Rabat erscheinen, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. »Beunruhigend empfinde ich, dass der eingeteilte Richter für das Verfahren derselbe ist, der mich schon einmal ins Gefängnis geschickt hat«, sagt Hicham Mansouri. »In einem Land, in dem Richter die Abhängigkeit der Justiz und ihre Instrumentalisierung, hat dies nur eine Erklärung: Die Entscheidung wird woanders getroffen.«

Von: 
Charlotte Noblet

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