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Verfassungsrechtliche Erklärung und die Rolle von Ahmad Al-Shar’a

Was steckt in Syriens neuer Verfassung?

Analyse
Verfassungsrechtliche Erklärung und die Rolle von Ahmad Al-Shar’a

Die verfassungsrechtliche Erklärung soll Syriens künftigen konstitutionellen Rahmen festlegen und wagt dabei einen Spagat. So umstritten wie unklar bleibt die Doppelrolle von Ahmad Al-Shar’a als Revolutionsführer und Republikpräsident.

Seitdem der syrische Präsident Ahmad Al-Shar’a den Entwurf der verfassungsrechtlichen Erklärung am 13. März 2025 unterzeichnet hat und ihm dadurch endgültigen Charakter verlieh, divergieren die Meinungen darüber zwischen Jubelstürmen, harscher Kritik und einer Fraktion des »Ja, aber«. Ohne hier in die Einzelheiten der Argumente eingehen zu wollen, leiten sich Ton und Inhalt dieser Meinungen von einem politisch-qualitativen Ausgangspunkt ab, der sich hauptsächlich auf die Rolle von Al-Shar’a bezieht.

 

Während die Kritiker ihn de jure als einen neuen Diktator sehen, betrachten die Jubelnden ihn als Befreier, und die dritte Fraktion erkennt zwar seine herausragende Position an, bemängelt jedoch grundsätzlich, dass es kein weiteres Staatsorgan gibt, das vom Volk direkt legitimiert ist und eine bedeutsame Rolle im Entscheidungsfindungsprozess neben Al-Shar’a spielt.

 

Dass aus verfassungspolitischer Perspektive alle drei Meinungen grundsätzlich berechtigt sind, steht außer Frage. Auch die weiteren Kritikpunkte, beispielsweise hinsichtlich der mangelnden Anerkennung der Vielfalt aufgrund der Betonung des arabischen Charakters des Staates, haben ihre Berechtigung. Dabei geht es in der Betrachtung der verfassungsrechtlichen Erklärung nicht um einzelne Aspekte eines Übergangsverfassungsdokuments, sondern vielmehr darum, sich mit der konstitutionellen Gestaltung einer Epoche im Leben des syrischen Staates auseinanderzusetzen, selbst wenn diese Epoche provisorischen Charakter hat. Mit anderen Worten geht es um die Frage, welche theoretischen Grundlagen die syrische verfassungsrechtliche Ordnung in den nächsten fünf Jahren hauptsächlich aufweisen wird.

 

Verfassungsgestaltung durch geschriebene Regelungen

 

Dass man sich für die Übergangszeit geschriebene Regelungen gegeben hat, zeigt deutlich, dass die Bindungskraft des geschriebenen Verfassungsrechts anerkannt wird. Mit anderen Worten dürfen die aufgrund dieser verfassungsrechtlichen Erklärung agierenden Staatsgewalten nicht im rechtsfreien Raum handeln. Sie sind kraft des geschriebenen Rechts gebunden.

 

Zudem bezieht sich diese Bindung auf das gesamte Dokument, bestehend aus der Präambel und vier Kapiteln: Allgemeine Regelungen; Rechte und Freiheiten; das Regierungssystem während der Übergangszeit sowie Endbestimmungen. Darüber hinaus sind folgende zwei Regelungen nicht nur für die formelle, sondern auch für die materielle Bindung der Verfassungsbestimmungen von Bedeutung.

 

Die Entscheidung, die Präambel zu einem untrennbaren Bestandteil der verfassungsrechtlichen Erklärung zu machen, bedeutet, dass die Gesamtheit der Argumentationen hinsichtlich der neuen staatlichen Epoche seit dem 8. Dezember 2024 eine bindende Wirkung für die rechtliche Gestaltung der staatlichen Ordnung in der Übergangszeit hat.

 

Die uneingeschränkte Anerkennung der Gesetze des syrischen Staates (Artikel 51), unabhängig davon, ob diese gegen die Bestimmungen der verfassungsrechtlichen Erklärung verstoßen. Die Normen des syrischen Staates bleiben in Kraft, solange sie nicht geändert oder aufgehoben worden sind. Dadurch setzt sich die syrische Rechtsordnung formell und materiell fort und bleibt grundsätzlich ein untrennbarer Bestandteil der Rechtsordnung in der Übergangszeit.

 

Begründung und Legitimation der neuen Verfassungsgestaltung

 

Ein Blick auf die Präambel macht deutlich, dass der 8. Dezember 2024 als epochaler Beginn im Leben des syrischen Staates festgelegt wird. Dabei wird dieser Beginn als Resultat einer 14 Jahre andauernden Revolution des Volkes dargestellt. In diesem Zusammenhang lässt sich ein Balanceakt zwischen der militärischen Operation, die zum direkten Sturz des Regimes geführt hat, und dem Kampf des Volkes in all seinen Facetten während der Jahre der Revolution feststellen. Alles in allem ist erkennbar, dass die revolutionäre Legitimation als Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Erklärung dient.

 

Dieser Balanceakt setzt sich in der Präambel fort, indem folgende drei Grundlagen der verfassungsrechtlichen Erklärung anerkannt werden. Erstens, die Konferenz des Nationalen Dialogs samt der Diskussionen in allen in den Provinzen organisierten Dialogrunden und die in der Enderklärung erwähnten Punkte, insbesondere die Bewahrung der Einheit und Unversehrtheit Syriens, die Implementierung der Übergangsjustiz, der Aufbau eines auf dem Konzept der Bürgerschaft basierenden Rechtsstaates und die Regelung der Angelegenheiten des Landes auf Basis der Governance-Prinzipien.

 

Zweitens, den Geist früherer Dokumente, insbesondere der Verfassung von 1950 als Konstitution der Unabhängigkeit, was als Botschaft interpretiert werden kann, dass die gesamte verfassungsrechtliche Entwicklung Syriens als eine historische Einheit betrachtet wird. Und drittens, die Entscheidungen des militärischen Operationsmanagements vom 29. Januar 2025, als sich dieses Gremium zu einem Revolutionsrat erklärte und unter anderem das alte staatliche, verfassungsrechtliche und politische System Syriens terminierte sowie Ahmad Al-Shar’a zum Staatspräsidenten ernannte.

 

Darüber hinaus erklärt die Präambel die Werte der vielfältigen syrischen Gesellschaft und ihr kulturelles Erbe sowie die nationalen und universellen Prinzipien zu den Grundlagen der Übergangsverfassungsordnung. Dadurch hat man zum einen eine Balance zwischen den drei oben erwähnten Grundlagen und der Diversität des syrischen Volkes geschaffen. Zum anderen verweist man auf Überverfassungsprinzipien internationalen Standards, indem explizit die gesamte Menschheit als Basis der Übergangsverfassungsordnung genannt wird.

 

Hauptfundamente des Staates in der Übergangszeit

 

Syrien ist eine arabische, aber explizit keine islamische Republik (Artikel 1), wobei sich dieser Artikel aus der syrischen Verfassungstradition ableitet. Mit anderen Worten bleibt Syrien zumindest in der Übergangszeit in der republikanischen Tradition verankert. Auch die Betonung der Einheitlichkeit des Landes findet ihren Ursprung in den nacheinander folgenden syrischen Verfassungen. Allerdings hat die Kriminalisierung von Aufrufen zur Sezession, Teilung oder zur ausländischen Intervention keine Grundlage in der syrischen Verfassungstradition (Artikel 7, Absatz 1), obwohl solche Aktionen in der syrischen Geschichte mehr oder weniger stets strafbar waren.

 

Aufgrund der aktuellen politischen Probleme ethnischer und konfessioneller Natur mit den Alawiten, Drusen und Kurden sah sich der Verfassungsgeber gezwungen, dieses Thema verfassungsrechtlich zu regeln. Gleichzeitig setzt er auf Frieden und Stabilität in der Gesellschaft sowie auf die Stärkung des Zusammenlebens (Artikel 7, Absatz 2). Zudem verbietet die Verfassung alle Gewaltaktionen und Aufrufe, die das gesellschaftliche Zusammenleben stören oder den Konfessionalismus befeuern, und verpflichtet den Staat, alle Arten des Extremismus zu bekämpfen (Artikel 8, Absatz 3).

 

Die Betonung des arabischen Attributs im Namen der Republik und die Festlegung der arabischen Sprache als offizielle Sprache des Landes leiten sich von der syrischen Verfassungstradition ab, wobei ein expliziter Verweis auf die arabische Nation fehlt. Die Kritik an der Bezeichnung »Arabische Republik« sowie an der fehlenden Anerkennung weiterer Sprachen in der Verfassung ist insbesondere im Hinblick auf den kurdischen Anteil der syrischen Bevölkerung nachvollziehbar.

 

Gleichzeitig zeigt sich eine gewisse Abwendung vom Gedanken einer »großarabischen Nation«. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass neben der Anerkennung der kulturellen Vielfalt auch kulturelle und sprachliche Rechte für alle Syrer ohne Gesetzesvorbehalt garantiert werden (Artikel 7, Absatz 3). Dies ist als Reflexion der Gleichheit und des Diskriminierungsverbots in Artikel 10 zu verstehen. Allerdings wird die Konfession explizit nicht in das Diskriminierungsverbot einbezogen, was sich jedoch aus der allgemeinen Betonung der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ableiten lassen könnte.

 

Die konfessionelle und/oder religiöse Zugehörigkeit spielt in Syrien eine bedeutende Rolle, insbesondere da das Personalstatut (Familien-, Erb- und Personenstandsrecht) sich traditionell, ebenso wie in der verfassungsrechtlichen Erklärung (Artikel 3 Absatz 3), nach der religiösen oder konfessionellen Zugehörigkeit des Einzelnen richtet. Der Präsident muss zwar Muslim sein (Artikel 3, Absatz 1), eine konfessionelle Beschränkung ist jedoch nicht vorgesehen. Zudem ist eine ursprüngliche Zugehörigkeit zum Islam keine Voraussetzung: Ein zum Islam konvertierter Christ kann ebenfalls Präsident werden.

 

Die islamische Religionszugehörigkeit des Staatspräsidenten lässt sich verfassungsrechtlich traditionell begründen. Zahlreiche syrische Konstitutionen, darunter die von 1950, 1973 und 2012, enthalten eine entsprechende Klausel. Auch wenn diese vielfach kritisiert wird, sollte man stets ihre verfassungspolitische und symbolische Bedeutung berücksichtigen, da sie eine Botschaft an die muslimische Mehrheit der syrischen Bevölkerung sendet. Noch mehr Kritik erfährt jedoch die Festlegung der islamischen Jurisprudenz (Fiqh) als Quelle der Gesetzgebung im selben Absatz.

 

Obwohl dieser Punkt ebenfalls aus der syrischen Verfassungstradition stammt, bedeutet er nach herrschender Auffassung der Gerichte und Verfassungsrechtler im arabischen Raum nicht zwangsläufig, dass alle Gesetze islamisch begründet sein müssen. Vielmehr sollen qualitativ bedeutsame islamisch geprägte Grundsätze im Gesetzgebungsprozess berücksichtigt werden. Dennoch bleibt der Begriff Fiqh vage und weit auslegbar, wodurch er vielfältige Interpretationen ermöglicht.

 

Trotz der Entscheidung für einige islamisch geprägte Elemente erkennt die Verfassungsordnung bereits in Artikel 3, Absatz 2 – und nicht erst im Kapitel über Rechte und Freiheiten – die Glaubensfreiheit sowie die Pflicht des Staates, alle abrahamitischen Religionen und die Freiheit der religiösen Riten zu respektieren an. Damit folgt die verfassungsrechtliche Erklärung Syriens konstitutioneller Tradition. Dennoch wird dieser Artikel vielfach kritisiert, etwa wegen der fehlenden Anerkennung der nach außen gerichteten Religionsfreiheit, also des Rechts auf Religionswechsel, oder wegen der Nichtanerkennung nicht-abrahamitischer Religionen. Zudem ist die Ausübungsfreiheit religiöser Riten an die öffentliche Ordnung gebunden.

 

Auch wenn die Wirkung eines Grundrechtekatalogs erst mit der endgültigen Verfassung und deren praktischer Umsetzung beurteilt werden kann, lassen sich zwei Bestimmungen feststellen, deren Bedeutung in entgegengesetzte Richtungen interpretiert werden kann. Zum einen, eine umfassende Anerkennung aller Grundrechte und Freiheiten, die in den von Syrien unterzeichneten internationalen Abkommen verankert sind, als untrennbarer Bestandteil der verfassungsrechtlichen Erklärung (Artikel 12, Absatz 2).

 

Zum anderen, eine Erweiterung der Begründung für gesetzliche Einschränkungen der Grundrechte und Freiheiten mit Verweis auf nationale Sicherheit, die öffentliche Unversehrtheit und die territoriale Integrität, die Wahrung der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit und der allgemeinen Moralgrundsätze sowie die Verhinderung von Straftaten (Artikel 23). Inwiefern die Ausübung der Grundrechte und Freiheiten aufgrund einer systematischen Auslegung dieser beiden Bestimmungen erweitert oder eingeschränkt wird, ist eine Frage, die sich erst in der verfassungsrechtlichen Praxis klären wird.

 

Form und Arbeitsweise der Staatsgewalten

 

Der Verfassungsgeber hebt bereits in Artikel 2 das Prinzip der Gewaltenteilung als Basis des künftigen politischen Systems hervor. Es scheint, als wolle dieser über das zukünftige System des syrischen Staates sprechen, ohne die Übergangsphase explizit einzubeziehen. Diese Auffassung erscheint nachvollziehbar, wenn man den Aufbau der syrischen Staatsgewalten in der Übergangszeit betrachtet. Denn dieser Aufbau leitet sich direkt oder indirekt vom Staatspräsidenten ab. Mit anderen Worten stellt er die Quelle der Legitimation aller weiteren Staatsgewalten dar, die sich aus Legislative, Exekutive und Judikative zusammensetzen.

 

Mit der Festlegung der exekutiven Gewalt in Artikel 31 hat der Verfassungsgeber den amtierenden Republikpräsidenten für die Übergangszeit bestätigt; eine Wahl-, Abwahl- oder Auswahlmöglichkeit von Al-Shar’a ist nicht vorgesehen. Damit wird seine doppelte Funktion als Revolutionsführer und Republikpräsident bestätigt, was die revolutionäre Legitimation des gesamten Verfassungsaufbaus in der Übergangszeit unterstreicht. Dies erklärt die Entscheidung für ein Präsidentschaftssystem mit einem Republikpräsidenten und Ministern (beziehungsweise Staatssekretären), die von ihm ernannt und entlassen werden und ihm allein gegenüber verantwortlich sind (Artikel 35). Einen Ministerpräsident wie in früheren Regierungen wird es nicht mehr geben.

 

Der Republikpräsident ist entsprechend der syrischen Verfassungstradition der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und für die Wahrung der Einheit des Landes sowie der Interessen des Volkes verantwortlich (Artikel 32-33). Zudem repräsentiert er den Staat nach außen und unterzeichnet als letzte Instanz internationale Abkommen (Artikel 37). Er ist berechtigt, den Kriegszustand und die allgemeine Mobilmachung durch seine Entscheidung nach Zustimmung des von ihm ernannten Nationalen Sicherheitsrates zu erklären (Artikel 41, Absatz 1). Erwähnenswert ist, dass Artikel 36 Erlässe, Befehle und Präsidialentscheidungen behandelt, ohne dem Präsidenten die Befugnis einzuräumen, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen – eine Abweichung von der syrischen Verfassungstradition der letzten Jahrzehnte.

 

Das Erlassen, Ändern oder Aufheben von Gesetzen bleibt ausschließliche Aufgabe des Volksrates, der als Übergangsparlament fungiert (Artikel 30, Absatz 1/a-b). Der Republikpräsident bleibt jedoch berechtigt, Gesetzesvorschläge einzubringen und kann durch ein begründetes Veto eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit des Volksrates zur Verabschiedung eines Gesetzes erzwingen (Artikel 39). Auffällig ist, dass der Begriff »Volksrat« – ein sozialistisch geprägter Ausdruck – beibehalten wurde, anstatt Begriffe wie »Parlament« oder »Abgeordnetenhaus« zu verwenden. Dies könnte darauf hindeuten, dass man sich nicht allzu weit von der bisherigen Verfassungstradition entfernen möchte.

 

Dennoch wendet sich der Verfassungsgeber gegen direkte Wahlen zur Bestimmung der Mitglieder des Volksrates und sieht stattdessen ein gemischtes System aus direkter und indirekter Ernennung durch den Republikpräsidenten vor (Artikel 24). Der Republikpräsident ernennt ein Drittel der Mitglieder direkt, während die verbleibenden zwei Drittel durch neu zu schaffende lokale Komitees gewählt werden, deren Bildung wiederum von einer vom Republikpräsidenten ernannten Oberkommission überwacht wird. Damit bleibt der Republikpräsident der zentrale Ausgangspunkt aller Staatsgewalten.

 

Auch in der Struktur der Judikative ist die Präsenz des Republikpräsidenten deutlich spürbar, obwohl die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter hervorgehoben wird (Artikel 43, Absatz 1). Die Aufsicht und Kontrolle der Justiz obliegen beispielsweise dem Justizrat, der von der Exekutive im Allgemeinen und vom Republikpräsidenten im Besonderen beeinflusst wird (Artikel 45, Absatz 2). Der Republikpräsident wird zudem die Mitglieder des neu zu schaffenden Verfassungsgerichts ernennen, nachdem das bestehende Gremium kraft der verfassungsrechtlichen Erklärung explizit aufgelöst wurde (Artikel 47). Dies ist eine logische Konsequenz der vollständigen Abschaffung der alten Konstitution.

 

Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung

 

Ein bemerkenswerter Aspekt der Präambel ist die Verwendung internationaler Begriffe des Völkerstrafrechts zur Beschreibung der Verbrechen des Assad-Regimes, etwa »Kriegsverbrechen« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Der Verfassungsgeber verweist zudem explizit auf das internationale Recht, das vom Assad-Regime verletzt wurde. In diesem Zusammenhang sind solche Taten vom Rückwirkungsverbot ausgenommen (Artikel 49, Absatz 2). Das bedeutet, dass Gesetze erlassen werden können, um solche Verbrechen auch nachträglich zu kriminalisieren, wodurch Verjährungsfristen umgangen werden könnten.

 

Zudem sieht der Verfassungsgeber explizit die Einführung einer Übergangsjustiz vor (Artikel 48), indem ein Komitee gegründet wird, das Wege zur Wahrheitsfindung und zur strafrechtlichen Verantwortung der Schuldigen sowie zur Gerechtigkeit für die Opfer erarbeiten soll (Artikel 49, Absatz 1). Als Teil der Aufarbeitung verbietet Artikel 49, Absatz 3 die Verherrlichung des Assad-Regimes und seiner Symbole sowie die Leugnung oder Rechtfertigung seiner Verbrechen. Darüber hinaus hebt Artikel 48 alle Ausnahmegesetze auf, darunter das Terrorgesetz, Gerichtsurteile des Antiterrorgerichts und Beschlagnahmungsentscheidungen von Eigentum.

 

Dass Al-Shar’a mit seiner doppelten Funktion als Republikpräsident und Revolutionsführer im Mittelpunkt der Übergangsverfassungsordnung steht, ist eine nachvollziehbare Konsequenz der Umstände der Befreiung vom Assad-Regime. Dennoch fehlt der verfassungsrechtlichen Erklärung eine klare Festlegung darauf, wie die politische und konstitutionelle Ordnung unter der ständigen Verfassung aussehen soll. Dies verleiht dem Republikpräsidenten zusätzliche Macht in diesem Bereich. Auch hinsichtlich des Prozesses der Verfassungsgebung bleibt vieles unklar: Es wird nicht spezifiziert, ob eine verfassungsgebende Versammlung gewählt oder ernannt wird oder ob eine einfache Kommission eingerichtet werden soll. Ebenso fehlt eine Aussage darüber, ob der Verfassungsentwurf durch einen Volksentscheid oder einen anderen Mechanismus ratifiziert wird.

 

Den Signalen der verfassungsrechtlichen Erklärung zufolge ist es unwahrscheinlich, dass unmittelbare Wahlen oder Volksentscheide die Grundlage der verfassungsgebenden Versammlung oder der Ratifizierung des künftig geltenden Konstitution bilden. Dies wird insbesondere dadurch verstärkt, dass Begriffe wie Demokratie, Partizipation oder Volkssouveränität in der verfassungsrechtlichen Erklärung gänzlich fehlen. Wahrscheinlicher ist ein Mischsystem aus Ernennungen, indirekten Wahlen und mittelbaren Abstimmungen.

Von: 
Naseef Naeem

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