Verfassungslos und orientierungslos dümpelt die politische Elite in Bosnien-Herzegowina vor sich hin. Während die ehemaligen jugoslawischen Geschwisterstaaten mehr oder weniger näher an die EU rücken, herrscht in Sarajevo Stillstand.
Auf den Straßen und Plätzen von Sarajevo gehen die Menschen ihren gewohnten Lauf, keine Aufregung, nichts Besonderes zu berichten, keinen Anlass zur Freude. Selbst das anstehende Qualifikationsspiel zur nächsten Fußball-Europameisterschaft gegen die Portugiesen scheint von hier aus gesehen weit weg. In Zenica, einer Stadt rund 60 Kilometer nördlich von Sarajevo, machen die Fans mehr Stimmung, deswegen findet dort das Spiel des Jahres statt und nicht in der ehemaligen Olympiastadt Sarajevo.
In der Innenstadt gehen die Menschen shoppen. Diejenigen, die es sich leisten können, gönnen sich westliche Markenprodukte, auf westlichem Preisniveau. Alle anderen, die jede Mark zwei Mal umdrehen müssen, empören sich – nur einige Gehminuten von den edlen Boutiquen entfernt – über die horrenden Preise für Lebensmittel: ein Kilo Paprika für 3,50 Mark (das sind rund 1,75 Euro), unter dem Schriftzug »Paradeiser« – aus dem Österreichischen für Tomaten – steht 3 Mark/Kilo. Bei einem Durchschnittsgehalt von ungefähr 400 Euro pro Haushalt ist das für die meisten nur schwer zu verstehen. Die nach der Deutschen Mark benannte und mittlerweile an den Euro gekoppelte Währung von Bosnien-Herzegowina hat ihren Stabilitätscharakter jedenfalls für die armen Leute schon längst verloren. Die Mieten, die Energie- und Lebensmittelkosten, alles liegt auf dem Niveau einer mittelgroßen Stadt in Westdeutschland.
Die Verfassung ist schlicht nicht verfassungskonform
Seit mehr als einem Jahr regiert in Sarajevo lediglich eine geschäftsführende Regierung. Die letzten Wahlen fanden im Oktober 2010 statt. Die verschiedenen Parteien, oder besser gesagt, die Repräsentanten der verschiedenen Ethnien können sich nicht auf eine Koalition, geschweige denn auf ein Regierungsprogramm einigen. Zumindest offiziell auf Parteiebene können sich die Völker in Bosnien-Herzegowina nicht leiden. Die Europäische Union hat deswegen schon seit Monaten ihre Zahlungen eingestellt, die ausländischen Investitionen sind um mehr als 70 Prozent eingebrochen, die Finanz- und Wirtschaftskrise trifft die ohnehin schwache Wirtschaft hart. Offizielle Statistiken existieren nicht in Bosnien-Herzegowina, die braucht man aber nicht, um den Kollaps des Staates vorauszusehen, wenn es so weiter geht.
Im Jahr 2009 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, dass die Verfassung von Bosnien-Herzegowina gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Die prominenteste Stelle im Verfassungstext garantiert den drei Hauptethnien im Land, also den mehrheitlich muslimischen Bosniaken, den christlich-orthodoxen Serben und den römisch-katholischen Kroaten, die Ämter an der Spitze des Staates. Damit werden Minderheiten wie Juden und Roma aktiv und ganz offiziell diskriminiert. Seit zwei Jahren ist das Urteil gesprochen, seit zwei Jahren ist nichts passiert. Keine Reform, noch nicht mal ein Entwurf, gar nichts.
»Auf dem Papier ist Bosnien-Herzegowina das Land in Europa mit dem besten Schutz der Menschenrechte«, sagt Saša Madacki, Leiter des Menschenrechtszentrums in Sarajevo, »in der Verfassungswirklichkeit sind wir aber Schlusslicht«. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die so genannten »Mauerschulen«. Im ganzen Land lernen kroatische, serbische und bosniakische Kinder zwar unter demselben Dach, aber je nach ethnischer Zugehörigkeit haben sie separate Eingänge und Schulbereiche. Und Mauern, die garantieren sollen, dass sich die Ethnien auf dem Schulgelände nicht mischen: »Fatal für die Psyche der Kinder, für die Aufarbeitung der Geschichte und für den Frieden in Zukunft«, sagt Madacki.
Hohe Repräsentanten mit niedriger Moral
Der Hohe Repräsentant Valentin Inzko hat schon seit Jahren aufgegeben, seiner Verpflichtung nachzugehen. Im Daytoner Friedensvertrag wurde im Jahr 1995 festgehalten, dass der Hohe Repräsentant als supranationale Instanz gemäß der Rolle eines Ombudsmannes mit den Missständen in der Politik aufräumen soll. Wo immer auch ein Politiker die Existenz des Staates oder gar den Frieden innerhalb und außerhalb der bosnisch-herzegowinischen Grenzen gefährdet, besitzt Inzko die Kompetenz, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber wie gesagt, die Feder dafür hat er schon längst aus der Hand gegeben.
Aber nicht nur Inzko versteht seine Rolle falsch, anders als er überschätzen die religiösen Führer im Land ihre Rolle. Die Spitzen der katholischen und orthodoxen Kirchen, aber auch der »Raisu-l-Ulama«, also der geistige Führer der Muslime in Bosnien, politisieren ihren Glauben auf banale Art. Wahlempfehlungen sind da die harmloseste Form, es wird auch schon mal gegen die anderen gehetzt, es werden Gläubige aufgerufen, die »feindlichen Kräfte« zu »bekämpfen«. Vor drei Wochen endete dieser radikale klerikale Diskurs zum Beispiel in einem Anschlag auf die Botschaft der USA.
In Brüssel ist man derzeit – wenn es überhaupt um Nachbarschafts- und Beitrittspolitik in Sachen Balkan geht – auf Belgrad und Zagreb konzentriert. Kroatien wird wohl im Jahr 2013 der Europäischen Union beitreten, Serbien hat den Kriegsverbrecher Ratko Mladic ausgeliefert und wird trotz gravierender Defizite in fast allen Bereichen den Kandidatenstatus im Dezember verliehen bekommen. »Für Bosnien und Herzegowina interessiert sich kein Schwein«, sagt Faruk Borić, Chefredakteur des linksliberalen Magazins DANI. Nach dem Krieg zogen die internationalen Akteure und Medien einfach weiter. Was auf dem Balkan passiert, war danach nicht mehr so relevant.
Und auch die meisten nationalen Medien, jeweils für die verschiedenen Ethnien aufgelegt, konzentrieren sich entweder auf die Propagierung nationalistischer Parolen oder den Zickenkrieg der hiesigen Volksmusikstars. Am Desinteresse der Bevölkerungsmehrheit an der Zukunft ihres Staates kann der Start des bosnisch-serbo-kroatischen Programms des Nachrichtensenders Al-Jazeera mit Hauptsitz in Sarajevo erstmal nur wenig verändern. Die Leute sprechen zwar dieselbe Sprache, interessieren sich aber nur bedingt für die »Anderen«.
»Die Menschen können das Wort Verfassungsreform nicht mehr hören«, erklärt Mirela Gruenter-Dicevic, Leiterin des Landesbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo. »Jeden Tag hören die Menschen dieses Unwort im Fernsehen, tatsächlich ist aber nichts passiert«, erklärt Gruenter-Dicevic das Desinteresse der Bevölkerung. Mehr als 60 Prozent des Haushaltsbudgets gehe in die Finanzierung der Verwaltung. In Bosnien und Herzegowina hat man es mit dem Föderalismus mehr als nur ein bisschen übertrieben. Auf jeder Ebene – national, regional, kantonal und kommunal – gibt es für jedes erdenkliche Politikfeld jeweils einen eigenen Ministerposten mit dem dazugehörigen Pomp und Personal. Nicht nur die Verfassung, sondern der ganze Staatsapparat müsste umgekrempelt werden.
Alte Konflikte aufgewärmt
In Person von Milorad Dodik zeigt sich das ganze ethnische Dilemma im Land. Vor allem er, der Präsident der Entität der Republika Srpska – also noch so einer föderalen Aufteilung – macht Probleme. Sein Ziel ist es, die mehrheitlich von Serben bewohnte Region im Osten des Landes in die Unabhängigkeit, besser noch nach Serbien zu führen. Er finanziert Zeitungen und Fernsehkanäle, die seine Propaganda verbreiten, und tritt dort bevorzugt selber auf, um wieder zu betonen, dass die Serben nicht mit den anderen, vor allem nicht mit den Muslimen, zusammenleben wollen und dass der Genozid von Srebrenica ja gar nicht so schlimm war.
Das ist der alte Konflikt, der auf neue Art ausgefochten wird. Und wie beschrieben schreitet der Hohe Repräsentant auch hier nicht ein. »Wenn man sich das Feld so lange wie ich anschaut, erkennt man, dass es den Politikern hier mehr um Macht und Geld als um die Geschichte rund um die Ethnien geht«, resümiert Gruenter-Dicevic von der Böll-Stiftung nüchtern. Jedenfalls in Sarajevo kümmert diese Streiterei die Menschen herzlich wenig. Solange sich die meisten noch nicht mal ein Kilo Paradeiser leisten können, haben sie anderes im Kopf.