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Bosnien 20 Jahre nach Kriegsbeginn

Ringen um das bosnische »Wir«-Gefühl

Feature

Im April 1992 entflammte in Bosnien-Herzegowina zwischen Serben, Kroaten und Muslimen ein blutiger Bürgerkrieg. Wie steht es 20 Jahre nach Kriegsbeginn um das komplexe Land am südöstlichen Rand Europas?

Der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andric schrieb einst über seine Heimat: »Bosnien ist das Land der Angst, das Land des Hasses.« Ein Hass, der sich in den Jahren 1992 bis 1995 in einem Bürgerkrieg zwischen orthodoxen Serben, katholischen Kroaten und muslimischen Bosniaken entlud. Die traurige Bilanz bei Kriegsende: mehr als 100.000 Tote, 250.000 Flüchtlinge und die Teilung des Landes in zwei eigenständige Verwaltungseinheiten – eine serbische und eine kroatisch-muslimische.

 

20 Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs ist Bosnien-Herzegowina noch immer tief gespalten – entlang ethnischen und religiösen Konfliktlinien. In der südlichen Stadt Mostar, die der Fluss Neretva in zwei Hälften teilt, sieht man dies besonders gut. An einem Flussufer ruft der Muezzin seine Gläubigen in die Moschee, auf der anderen Seite laden Kirchenglocken Katholiken zur Messe ein. Viele vor allem junge Bewohnerinnen und Bewohner Mostars, welche die ethnischen Hassbilder ihrer Eltern oder populistischer Politiker unreflektiert übernehmen, haben Zeit ihres Lebens noch keinen Fuß über den Fluss gesetzt.

 

»Wir wollen nicht zusammenleben«

 

Die hohe Arbeitslosenquote von über 40 Prozent und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit und Armut tun ihr übriges, um die Wut auf »die anderen« weiter anzuheizen. Die Politiker ihrerseits verschwenden ihre Energie vor allem darauf, den Gegenspielern aus der anderen Verwaltungseinheit das Leben schwerzumachen. Folglich verkommt die bosnische Politik zum Nullsummenspiel, bei dem der Vorteil des Einen stets als Nachteil des Anderen wahrgenommen wird.

 

Zwar gibt es einen über beide Teile wachenden Gesamtstaat. Dieser kann jedoch mangels Befugnisse dem endlosen Zwist lediglich ohnmächtig zusehen. »Unsere Situation ist vergleichbar mit Belgien«, bringt der arbeitslose Velibor Kralj aus der nordbosnischen Banja Luka die Situation auf den Punkt: »Dort wie hier wollen die einzelnen Volksgruppen nicht zusammen leben.«

 

Nicht alle teilen Kraljs Meinung. Zwei die anders denken und handeln sind Emir Malkoc aus der zentralbosnischen Stadt Travnik und Dalila Odobasic aus Bihac im Westen des Landes. Als Mitglieder des Führungsgremiums des landesweiten Schulsprecher-Netzwerkes ist es den beiden 18-Jährigen ein wichtiges Anliegen, die ideologischen Gräben in ihrer Heimat zuzuschütten. »Wir vernetzen junge Menschen über religiöse, ethnische und nationale Grenzen hinweg. Damit meine ich, dass wir uns gegenseitig kennen lernen und im gemeinsamen Gespräch die vielen vorhandenen Vorurteile abbauen«, erklärt Malkoc und seine nicht weniger resolute Kollegin ergänzt: »Wir müssen endlich lernen, innerhalb unserer politischen Landesgrenze friedlich zusammen zu leben und die Grenzen in unseren Köpfen abzubauen.«

 

Viele Bosnierinnen und Bosnier, die sich ebenfalls ein geeintes Heimatland wünschen, legen ihre Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt. »Egal was du von der EU hältst«, so der 28-jährige Ante Juric aus Banja Luka, »es ist eine Gemeinschaft verschiedener Nationen, die nun seit bald 65 Jahren friedlich zusammen arbeiten. Wenn also Bosnien-Herzegowina Teil dieses Kollektivs wird, dann erhoffe ich mir, dass der unheilvolle Nationalismus der Serben, Kroaten und Muslimen zugunsten eines bosnischen ›Wir-Gefühls‹ verschwindet.« Der Weg in die EU ist für Bosnien-Herzegowina aber noch ein weiter. Nicht nur aufgrund der ethnischen Querelen, der Defizite in den staatlichen Institutionen oder der Diskriminierung von Minderheiten gilt das Land in der internationalen Gemeinschaft als das schwarze Schaf der Balkanstaaten.

 

»Korrupt, korrupt und korrupt«, antwortet die 28-jährige Fotojournalistin Dijana Muminovic auf die Bitte, ihre Heimat in drei Wörtern zu beschreiben. In dem von »Transparency International« im Jahr 2011 veröffentlichten Korruptionswahrnehmungsindex findet sich Bosnien-Herzegowina auf Rang 91 von insgesamt 182 untersuchten Ländern (Deutschland liegt auf Rang 14). Ob Wählerstimmen oder Doktortitel, alles ist käuflich. Als Folge davon lassen sich junge Leute kaum mehr zum Lernen motivieren, da nicht Bildung und Leistung sondern die Größe des Bankkontos für den Erfolg als relevant erscheinen.

 

»Korrupt, korrupt und korrupt«

 

»Einige meiner Freunde können ihr Studium nicht abschließen, weil ihr Professor sie nur gegen Schmiergeld die Prüfungen bestehen lässt. Und eine hochschwangere Freundin musste ihrem Gynäkologen im öffentlichen Spital ein Geldgeschenk machen, um sicher zu gehen, dass bei der Geburt alles gut laufen wird. Und von diesen Geschichten gibt es hier viele«, erzählt Muminovic und zupft dabei achtlos an ihrem leuchtend-roten Schal.

 

Unterkriegen lässt sich die lebensfrohe Fotografin dennoch nicht. Sie spielt mit dem Gedanken, zukünftig junge Leute in der Kunst der Fotografie zu unterrichten und ihnen – im wahrsten Sinne des Wortes – eine berufliche Perspektive zu bieten. »Ich will etwas verändern in diesem Land. Viele hier halten mich für naiv. Vielleicht haben sie recht. Doch ich bin lieber naiv als resigniert.«

 

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Bosnien-Herzegowina zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn bei der Entfaltung seines Potenzials selbst im Weg steht. Die ethnische Zersplitterung, die hohe Arbeitslosigkeit sowie ein aufgeblähter und korrupter Regierungsapparat sind Realität.

 

Doch Emir, Dalila, Ante und Dijana – und mit ihnen viele mehr – haben verstanden, dass Serben, Kroaten und Muslime nur gemeinsam Angst und Hass überwinden und die zahlreichen Herausforderungen in ihrem Land anpacken können. Symbolhaft für dieses Umdenken steht die bosnische Nationalhymne »Intermeco«. Zehn Jahre lang lieferten sich die Ethnien ein zähes Ringen auf der Suche nach einem für alle akzeptablen Liedtext. Im Jahr 2009 einigten sie sich nun endlich auf die hoffnungsvollen Worte: »Deine Generation sagt vereint: Lasst uns zusammen in die Zukunft gehen!«

Von: 
Rebekka Salm

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