Regisseurin Lina Soualem zeichnet in »Bye Bye Tiberias« den Lebensweg ihrer berühmten Mutter nach: der Schauspielerin Hiam Abbas. Der Reise durch vier Jahrzehnte palästinensischer Geschichte gelingt etwas, woran viele Dokumentarfilme zum Nahostkonflikt scheitern.
Die Mutter schwimmt mit ihrer kleinen Tochter im klaren Wasser. Hier, am See Tiberias, fließen die Grenzen des Libanons, Palästinas, Syriens und Jordaniens ineinander. Im Hintergrund erklärt eine Stimme: »Meine ganze Kindheit lang badete ich in diesem See. Als wollte meine Mutter, dass ich in seine Geschichte eintauche.«
Lina Soualem porträtiert in »Bye Bye Tiberias« die Geschichte ihrer Mutter: Hiam Abbas wurde 1960 in dem palästinensischen Dorf Deir Hanna geboren. Die Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft beginnt nach der Schule eine Karriere als Schauspielerin; erst mit dem palästinensischen Nationaltheater Al-Hakawati, später geht Hiam Abbas auf Tournee in Europa. In Paris lässt sie sich schließlich nieder und feiert ihren Durchbruch auf der Leinwand: Zu den bekanntesten Produktionen, in denen sie mitwirkt, gehören »Die syrische Braut« (2004), »Paradise Now« (2005) und »München« (2006).
Ihre Tochter Lina Soualem tritt seit mehreren Jahren in die Fußstapfen ihrer Mutter und hat sich inzwischen einen Namen als Dokumentarfilmerin gemacht: 2020 erschien ihr Debutwerk »Ihr Algerien«, der die Beziehung zwischen ihrem Vater und den algerischen Großeltern nachzeichnet. Mit »Bye Bye Tiberias« begibt sich Lina Soualem nun auf die Spuren ihrer Mutter und Großmutter mütterlicherseits: Über vier Generationen zeichnet die Regisseurin ein Familienporträt und setzt dem Heimatdorf Deir Hanna ein filmisches Denkmal.
Dabei sind die Lebenswege der Familie Abbas weit über Israel und Palästina hinaus verstreut: Hiams Tante Hosnieh muss im Zuge des Krieges 1948 nach Syrien fliehen, um sich ein neues Leben in Jarmuk nahe Damaskus aufzubauen. Nach etlichen Jahren sehen sich die beiden Frauen in der Jarmuk wieder – unter Tränen nehmen sie sich in die Arme. »Lass mich den Geruch meiner Familie riechen«, sagt Hosnieh zu ihrer Nichte in der Szene. Möglich wurde die kurzweilige Wiedervereinigung erst dank der französischen Staatsbürgerschaft, die Hiam Abbas in Paris erhielt: Als Person mit israelischem Pass wäre ihr die Einreise in Syrien unmöglich gewesen. Seit dieser intensiven Begegnung sind viele Jahre vergangen. Hosniehs Grab befindet sich heute im vom Krieg in Syrien fast völlig zerstörten Jarmuk.
Lina Soualem verwebt einzelne Momentaufnahmen aus mehreren Jahrzehnten ineinander
Im Zentrum des Films steht immer wieder die konfliktbehaftete Beziehung zwischen Hiam und ihrer Mutter – die Schauspielerin entsprach nicht den Erwartungshaltungen einer konservativen Gesellschaft. Stattdessen schleicht sie sich heimlich nach Jerusalem, um sich im Nationaltheater Al-Hakawati auf der Bühne zu verwirklichen.
Das Bedürfnis, aus der Enge des Dorfes Deir Hanna und dessen konservativer Umgebung auszubrechen, dürfte wohl mit ein Grund ein, weshalb die Schauspielerin nach Frankreich ausgewandert ist – auch wenn der Zuschauer über die genauen Beweggründe im Unklaren gelassen wird. Lange hatte Hiam Abbas den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen – erst als die Schauspielerin selbst Mutter wurde, machte sie sich zurück auf den Weg in die Heimat. Nach dem Tod ihrer Mutter reflektiert Hiam Abbas Reue und Angst, die eigene Familie enttäuscht zu haben: »Heute würde ich meine Mutter gerne fragen, ob sie mir meine Entscheidung verzeiht, entgegen allen Traditionen zu handeln.«
Lina Soualem verwebt einzelne Momentaufnahmen aus mehreren Jahrzehnten ineinander – nach und nach füllt sich der See der Erinnerungen mit Schwarz-Weiß-Einspielern aus den 1940er-Jahren und Farbaufnahmen aus den Neunzigern. »Bye Bye Tiberias« ist eine meisterhafte Reflektion über Mütter und Töchter, Flucht und Zufluchtsorte. Über eine Frau, die mit patriarchalen Normen brach, um sich ihren Traum von der Schauspielerei zu erfüllen.
Seine Wirkung entfaltet der Film vor allem deshalb, weil er nicht den Anspruch erhebt, den politischen Konflikt mit historischen Fakten zu entschlüsseln. Vielmehr wird eine sehr spezifische Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Konflikts erzählt. Damit beleuchtet Film eine unter vielen Perspektiven auf palästinensische Identität. Denn die Lebensrealität eines in Ramallah großgewordenen Jungen unterscheidet sich von dem einer in Haifa mit israelischer Staatsbürgerschaft aufwachsenden palästinensischen Frau. Lina Soualems Film könnte so den Anstoß geben, um Perspektiven zu vermitteln, die in der Literatur und Kunst oft nur eine Randnotiz waren: Die vielschichtige Geschichte palästinensischer Israelis, ebenso wie die sich überkreuzenden arabisch-jüdischen Identitäten in Israel und im Nahen Osten.
»Bye Bye Tiberias«