Die Eskalation an der türkisch-syrischen Grenze schlug hohe Wellen. Auch Presse und Politik in der Türkei diskutieren eifrig – setzen aber ganz andere Schwerpunkte als westliche Medien.
»Flächenbrand« oder der nächste Weltkrieg? Während deutsche Medien und Politik die Eskalation des aktuellen Grenzkonflikts zwischen Syrien und der Türkei befürchten, schlägt der Parlamentsbeschluss für ein breites Militärmandat auch in der innenpolitischen Debatte und den Medien Wellen. Am 3. Oktober waren fünf Menschen, darunter vier Kinder, durch Mörser-Beschuss syrischer Streitkräfte auf die türkische Grenzstadt Akçakale ums Leben gekommen.
Daraufhin nahm die Türkei mehrere Ziele auf syrischem Gebiet, rund um den Militärposten Tel Abyad, unter Feuer, wobei laut syrischen Medien fünf Soldaten starben. Am vergangenen Donnerstag strömten tausende Menschen auf den Taksim-Platz im Herzen Istanbuls. Parteien, Gewerkschaften und Berufskammern hatten zu einem Anti-Kriegs-Protest aufgerufen.
Die Atmosphäre auf der Straße: eher unruhig als aufgeladen, die Luft schwer wie Blei. Studenten, Politiker, auch Hausfrauen, Rentner, Kinder mit ihren Eltern hatten sich im Stadtzentrum versammelt und riefen Slogans wie »Zwischen Brüdern darf kein Blut fließen« und »Das ist nicht mein Krieg«. »Wir müssen heute hier teilnehmen, dass sind wir unseren Enkeln schuldig«, meint ein altes Rentnerpaar. »Sie sollen in einem ruhigen, sicheren Land aufwachsen. Wir wollen keinen Krieg mit unseren Nachbarn.«
Kemalisten und Ultranationalisten ringen um die richtige Positionierung
Die Regierung, gegen deren Beschluss die Menschen auf dem Taksim-Platz auf die Straße gehen, argumentiert prinzipiell nicht anders. »Wir haben kein Interesse an einem Krieg mit Syrien«, bekräftigt Premier Erdoğan gebetsmühlenartig, legt aber nach: »Einerseits entschuldigt sich das Regime und spricht von einem Unfall, andererseits passiert es am nächsten Tag erneut. Was für eine Art von Unfall ist das?«
Dennoch ist sich der polternde Regierungschef ebenso bewusst, dass ein Krieg gegen Syrien mehr Opfer als die fünf Toten von Akçakale mit sich bringen würde: »Die Ergebnisse von Krieg sind im Irak und in Afghanistan sichtbar. Es ist unmöglich, dass wir so etwas befürworten«, so der Premier.
Auch im politischen Ankara stößt Erdoğan auf große Kritik, wenngleich die AKP von den Widersprüchen ihrer parlamentarischen Gegner profitierte, für die es bei der plötzlich anberaumten Abstimmung politisch eigentlich nichts zu gewinnen gab – egal ob sie für oder gegen das weitreichende Mandat votierten. 320 Ja-Stimmen erhielt das Mandat für den Militäreinsatz in der vergangenen Woche im Parlament, 129 Abgeordnete stimmten dagegen.
Die Nein-Front bestand aus der oppositionell-republikanischen Partei CHP und der kurdischen Partei BDP. Wieso die Kurden die Mandatsvorlage ablehnten, liegt auf der Hand. Sie werfen der Regierung vor, unter dem Mantel eines vermeintlichen Verteidigungseinsatzes gegen Syrien tatsächlich die bereits seit etwa zwei Monaten laufende Großoffensive gegen die PKK auszuweiten. »Mir scheint es, als ob der Angriff auf Akçakale nur ein willkommener Anlass war, um ein Militärmandat gegen Syrien auf die Tagesordnung zu setzen«, mutmaßte BDP-Chef Selahattin Demirtaş.
Die Haltung der CHP bringt die Kemalisten hingegen in die Bredouille. Bereits seit Beginn des Syrien-Konflikts tut sich besonders die nationalistische Opposition schwer, eine eigenständige und glaubhafte Position zu beziehen, die zugleich auch eine Alternative zur Regierungsparte AKP darstellt. Denn normalerweise sind es die strammen Nationalisten der CHP, die lauthals den Schutz des von ihrem Gründer Atatürk hinterlassenen türkischen Staates und seiner Grenzen fordern.
Die Opposition hätte hier ihre Kompromissbereitschaft bezeugen können – andererseits hätte sie das Heft des Handelns dann vollends aus der Hand gegeben. CHP-Parteivize Muharrem Inci kritisierte vergangene Woche vor dem Mandatsbeschluss des Parlaments, dass nicht einmal die Grenzen des Militäreinsatzes bekannt wären: »Mit solch einem Mandat könnt ihr sogar einen Krieg im Weltall anzetteln.«
Als wenige Tage später die erhoffte politische Belohnung der Weigerungshaltung allerdings ausblieb, sah sich Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu gezwungen, das Abstimmungsverhalten seiner Partei in einer Talk-Show auf dem Kanal CNN Turk zu rechtfertigen: »Es ist uns absolut nicht in den Sinn gekommen, das Assad-Regime zu verteidigen oder es in irgendeiner Weise zu legitimieren.«
Die ultranationalistische MHP hingegen stimmte für die Mandatsvorlage – und entschied sich dafür, eher innerhalb des nationalistischen Milieus nach Profil in Abgrenzung zur CHP zu suchen statt zu Erdoğans AKP. »Auf Grundlage unserer eigenen Prinzipien und der Staatssicherheit haben wir ohne jegliche Zweifel dem Militärmandat zugestimmt«, verkündete MHP-Chef Devlet Bahçeli staatstragend – nicht ohne eine unverhohlene Warnung an die kurdische PKK sowie deren syrischen Arm damit zu verbinden.
Was für die BDP ein vorgeschobener Grund, ist für die MHP wohl die Mindestvoraussetzung für die Zustimmung im Parlament. »Wir haben unseren Teil dazu beigetragen«, versuchte Bahçeli tapfer das Stimmgewicht seiner 52 Abgeordneten in der 550 Sitze fassenden Nationalversammlung aufzuwerten – ob die Ultranationalisten von ihrer Haltung auch politisch profitieren können, ist aber mehr als fraglich – den meisten Kommentaren zur Parlamentsabstimmung war die MHP-Haltung, wenn überhaupt, nur eine Randnotiz wert.
Obwohl sich die kemalistisch-laizistischen und islamisch-sozialkonservative Presse gewöhnlich bittere Wortgefechte um die Meinungshoheit liefern, zeugen die Kommentare zur Mandatsannahme im Parlament von seltener Eintracht in der türkischen Medienlandschaft.
»Militärische, politische und diplomatische Antworten nach Damaskus«
Die auflagenstärkste und regierungsnahe Zeitung Zaman titelte »Der internationale Aufruf zur Nüchternheit und Unterstützung« und legte den Schwerpunkt auf Reaktionen der Nato, Deutschland, Russland und dem Europarat, um die positive internationale Unterstützung für die Türkei zu belegen.
Mit erhobenem Zeigefinder posierte der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu in der liberal-konservativen Hürriyet neben der Titelschlagzeile und Eigenaussage »Assad hat die Botschaft erhalten«. Syrien-Korrespondent Faruk Balikci begab sich zu grenznah stationierten FSA-Soldaten, die sich als potenzielle Grenzschützer empfahlen.
Die islamisch-konservative Zeitung Yeni Akit titelte »Die Befugnis liegt bei der Regierung«. Auch sie berichtet recht nüchtern über das angenommene Mandat und die Aussagen Erdoğans – um dem konservativen Charakter der Zeitung Recht zu werden, musste allerdings Israel schuld an allem sein: »Syrien schießt auf die Türkei und die Türkei schießt auf Syrien – Israel freut sich!«, orakelte Kolumnist Ali Ihsan Karahasanoğlu.
Die mitte-links gerichtete Habertürk schloss sich an und titelte »Militärische, politische und diplomatische Antworten nach Damaskus« und begrüßte die militärische Intervention mit Schlagzeilen wie »Die Türkei reagierte sofort!« oder »Blitz-Rückschlag auf fünf Ziele!« Die linksliberale Radikal machte in ihrer Ausgabe nach dem Parlamentsbeschluss mit einem großen »Warum?« auf und versuchte über diverse Fragen rund um das Parlamentsmandat aufzuklären.
Kontra gab hingegen Kolumnist Koray Caliskan in der Online-Ausgabe der Radikal: »Derjenige, der das Mandat noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Der Premier möchte die Erlaubnis zum Angriff von ›fremden Ländern‹. Solch ein Mandat ist inakzeptabel. Gibt es etwa Länder, die nicht fremd für uns sind?«




