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Simplicissimus auf Aserbaidschanisch

Simplicissimus auf Aserbaidschanisch

Feature

Der Band »Molla Nasreddin« vereint eine Auswahl von Karikaturen der gleichnamigen Satire-Zeitschrift, die vor hundert Jahren im Orient für ihre Gesellschaftskritik und die Propagierung eines säkular geprägten Fortschritts bekannt war.

»Oh Brüder, ich bin doch kein Volk ohne Sprache, dass Ihr mir diese Zungen in meinen Mund drückt…«, ruft ein erwachsener Mann auf Aserbaidschanisch aus, der rücklings auf dem Boden liegt. Seine Worte gelten drei bei ihm knienden Männern, die ihn festhalten, am Aufstehen hindern und ihm jeweils eine fremde Zunge verpassen möchten. Bei ihnen handelt es sich, wie an der Kleidung zu erkennen, um einen Russen, einen Araber und einen Perser. Hinter ihnen steht auch ein islamischer Geistlicher, der ihr Tun scheinbar gutheißt, lächelt er doch wohlwollend.

 

Das Thema dieser auf dem Cover von »Molla Nasreddin« abgedruckten Karikatur ist nicht ungewöhnlich für die berühmte satirische Zeitschrift. Die politische und kulturelle Beherrschung Aserbaidschans durch fremde Nachbarvölker steht wiederholt im Mittelpunkt dieses vor hundert Jahren im Orient berühmten Blattes – und zwar, und das ist das Außergewöhnliche an diesem Periodikum, auf Aserbaidschanisch.

 

Gegründet 1906 in Tiflis, im multikulturellen, als »warmes Sibirien« bezeichneten Transkaukasien, wo liberale Russen auf die muslimische Intelligenzija der Region trafen, entstand »Molla Nasreddin« in einer Epoche vielfältiger Umwälzungen. Es fungierte als publizistisches Sprachrohr der »Jadid« (arabisch für »neu«), die eine reformerische, westlich orientierte Bewegung unter muslimischen Bildungsbürgern im zaristischen Russland am Ende des 19. Jahrhunderts darstellten.

 

Diese hatten wie andere politische und intellektuelle Gruppierungen infolge des Russisch-Japanischen Krieges und der Revolution 1904/05 von Zar Nikolaus II. per Dekret mehr Pressefreiheit zugewilligt bekommen. Und diesen neu entstandenen Freiraum nutzten auch die bis dahin unterdrückten Ethnien des Kaukasus, um ihre Ziele zu formulieren.

 

Wichtigstes Vorbild für andere orientalische Zeitschriften

 

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass das nach dem legendären, mittelalterlichen Protagonisten humoristischer Erzählungen benannte »Molla Nasreddin« schon durch die Auswahl der Blattsprache für Aufsehen sorgte. Denn im Gegensatz zum Russischen galt das Aserbaidschanische um 1900 bei einer Reihe von gebildeten Einheimischen nicht als Kultursprache.

 

Durch diese Entscheidung wollten die Blattmacher ihren patriotischen Impetus betonen sowie die nationale Identität ihrer Leser fördern und stärken. Gleichzeitig gelang es ihnen, mit den satirischen Karikaturen auch Leseunkundige, die es damals in hoher Zahl gab, über den Kaukasus hinaus zu erreichen.

 

Die Zeitschrift war für ihre scharfe, durch Wort und Bild geübte Kritik an den bestehenden sozialen Missständen, den Unterschieden zwischen den Klassen, an dem mächtigen, jedoch erstarrten Klerus bekannt. Ebenso aber stellte sie auch die Kolonialpolitik der Europäer und Amerikaner und ihre politischen und kulturellen Einflussnahme im Orient sowie auf dem Balkan in Frage.

 

Zugleich nahm sie auch in anderer Weise eine stark aufklärerische Haltung ein. So propagierte sie Bildungsreformen in den islamisch geprägten Ländern und setzte sich hierbei mit Leidenschaft für die Verbesserung der Lage der muslimischen Frauen in Vorderasien ein.

 

Schließlich gelangte »Molla Nasreddin« mit seinen Karikaturen und Texten – unter ihnen Dialoge und Witze, Gedichte und Feuilletons, Anekdoten und satirische Anzeigen – in der gesamten islamischen Welt zu großem publizistischen Einfluss. Damit wurde das Periodikum zugleich zum wichtigsten Vorbild für andere orientalische Zeitschriften. So inspirierte sie beispielsweise die beiden reformerischen Blätter »Nasim-e Shomal« (Rascht) und »Sur-e-Esrafil« (Teheran), die im Iran der Zeit der Konstitutionellen Revolution 1906/09 gegründet wurden.

 

»Um Gottes Willen, liebe Schwester, ich erstarre innerlich. Was sind das bloß für Menschen?«

 

Nun ist vor einiger Zeit in der Reihe »Christoph Keller Editions« beim Schweizer Kunstverlag »JRP | Ringier« eine 200 Seiten umfassende Auswahl der farbigen Karikaturen aus »Molla Nasreddin« erschienen. Grundlage für diese Kompilation war die vor einigen Jahren in Baku auf Aserbaidschanisch erschienene, achtbändige Gesamtausgabe der von dem Schriftsteller und Journalisten Jalil Mammadgulzadeh (1866-1932) begründeten Zeitschrift. Der vorliegende, aufwendig gestaltete Band würdigt die thematische Vielfalt und zeichnerische Könnerschaft des Blattes in einer zweisprachigen Buchausgabe, auf Aserbaidschanisch und Englisch.

 

»East vs. West« und »Class«, »Women« und Colonialism«, »The Caucasus« und »The Ottoman Empire«, »Iran« und »The Balkans«, »Reforms« und »Islam«, »Education« und schließlich »Press« lauten in dem großformatigen Band die Überschriften der zwölf Kapitel. Auf kurze, einführende Texte folgen über 200 Karikaturen, die sich auf bissig-ironische bis tragikomische Weise mit den innen- und außenpolitischen Geschehnissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts befassen. Zu ihnen gehören vor allem die vielfältig bedingten Konflikte im Kaukasus, der langsame, von den Großmächten zuerst auf dem Balkan forcierte Zerfall des Osmanischen Reichs und die großen Unruhen im Iran unter Mohammed Ali Schah (1872-1924).

 

Beinahe aktuell erscheint der erste Abschnitt des Bandes: »East vs. West«. Dort ist etwa eine Zeichnung zu sehen, die sich mit dem Unwissen und Unverständnis über die jeweils fremde Lebenskultur auseinandersetzt. Eine Erfahrung, die gerade im Kaukasus immer wieder gemacht wurde, wo spätestens um 1900 Ost und West – nicht zuletzt aufgrund der großen Ölfunde – aufeinander trafen.

 

»Um Gottes Willen, liebe Schwester, ich erstarre innerlich. Was sind das bloß für Menschen?«, fragt eine auf der Straße gehende, in einen schwarzen Tschador verhüllte Aserbaidschanerin ihre beiden ebenfalls verschleierten Begleiterinnen. Mit ihren Worten gemeint ist ein russisches Ehepaar, das auf Ausritt ist und die muslimischen Frauen seinerseits genauso erschrocken anblickt, so dass die Russin ihren Gatten fragt, was jene drei für Ungeheuer seien.

 

Anklänge an das deutsche Pendant

 

Zum besseren Verständnis der Karikaturen sei hier noch die Einleitung zu Beginn des Bandes empfohlen. Darin werden die Entstehung des »Molla Nasreddin« sowie seine Herausgeber und Mitarbeiter behandelt. Thematisiert werden in diesem Zusammenhang aber auch die Geschichte Aserbaidschans, die Bemühungen um die politische und kulturelle Selbstbehauptung seiner Einwohner und der Kampf für (mehr) Pressefreiheit in der Zarenzeit, während der Unabhängigkeit des Landes von 1918 bis 1920 und zuletzt während der Anfänge der Sowjetherrschaft.

 

Schließlich kommen noch die schwierige, stets ambivalente Beziehung zum Iran und die Endphase der Zeitschrift zu Beginn der 1930er Jahre sehr dicht und informativ zur Sprache.

 

Auf den ersten Blick überrascht, wird den hiesigen Lesern der Witz und Humor der Zeitschrift dennoch bekannt vorkommen. »Molla Nasreddin« erinnert mit seinem Layout, hier vor allem dem Cover, seinem Umfang, der acht Seiten betrug, und insbesondere dem Stil seiner Karikaturen an ein seinerzeit in Deutschland erscheinendes, erfolgreiches Pendant. Gemeint ist die von Thomas Theodor Heine und Albert Langen 1896 in München gegründete satirische Zeitschrift »Simplicissimus«, die mit ihren Attacken auf Spießbürgerlichkeit und Obrigkeitsgehorsam, Bigotterie und Militarismus, deutsche Innen- und »Weltpolitik« zielte.

 

Erstaunlich ist, dass neben den aserbaidschanischen Mitarbeitern, wie dem berühmten Satiriker Mirza Alekper Sabir (1862-1911) und dem Zeichner Azim Azimzadeh (1880-1943), zwei Mitarbeiter dieses »orientalischen Simplicissimus« deutscher Herkunft waren, von denen zahlreiche der Karikaturen stammen: Es handelt sich dabei um Oskar Ivanovich Schmerling (1863-1938) und Josef Rotter, wobei der Erstere seinerzeit Direktor der Tifliser Schule für Zeichnen und Bildhauerei war.

 

Von Stalin zum Schweigen gebracht

 

So sehr die vor allem im Iran lange Jahre sehr erfolgreiche Zeitschrift ihrer Epoche einen kritischen Spiegel vorhielt, so sehr wurde sie auch selbst stark von ihrer Zeit geprägt. Die Umwälzungen infolge des Ersten Weltkriegs 1914-1918 und der Russischen Revolution sowie dem Russischen Bürgerkrieg 1917-21 verhinderten ihr Erscheinen nach 1917, dass das Blatt erst wieder 1921, und zwar in der iranisch-aserbaidschanischen Stadt Täbris, in Druck gehen konnte.

 

Allerdings erschwerten die Nachwirkungen jener Ereignisse, die auch den Nordwesten des Iran damals heimsuchten, die publizistische Arbeit auch hier. Und so zog die Redaktion 1922 in das zwei Jahre zuvor von den Sowjets eroberte Baku, wo »Molla Nasreddin« anschließend fast zehn Jahre erscheinen konnte.

 

Doch die zunehmende Konzentration der Macht in Stalins Händen und die damit einhergehende Ausschaltung kritischer Stimmen brachten 1931 schließlich auch das Satireblatt zum Verstummen. So krisenreich die gut zwanzig Jahre auch waren, in denen es erschienen ist, so sehr hat es das kritische Bewusstsein und Potenzial seiner Leser damals geschärft und ist damit in seiner Strahlkraft nicht zu unterschätzen.

 

Die vorliegende Auswahl daraus sei daher allen empfohlen, die sich ein eigenes Bild von der besonderen Qualität des aserbaidschanischen Journalismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts machen wollen. Die Karikaturen aus »Molla Nasreddin« unterhalten und sorgen zugleich für Nachdenklichkeit, widersprechen sie doch den Klischees vom trägen und unkritischen Orientalen, der alles fatalistisch hinnimmt.

Von: 
Behrang Samsami

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