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Staatlichkeit, der IS und der Irak

Welche Ordnung schafft IS?

Essay

Wenn dem »Islamischen Staat« (IS) die Staatlichkeit fehlt, was ist er dann? Die Suche nach Antworten und Vergleichen wirft eine noch entscheidendere Frage auf: Ist der Irak überhaupt noch ein Staat?

Anfang Oktober analysierten Daniel Gerlach und Naseef Naeem auf zenithonline die politische Form des IS und antworten auf die von Volker Perthes aufgeworfene Frage, inwieweit die Terrorgruppe wirklich als Staat oder Staatsbildend zu verstehen ist.

 

Gerlach und Naeem weisen die Parallelen, die Perthes zwischen IS und einem Staatsgebilde findet, zurück und argumentieren, dass IS in keinem Fall mit einem Staatskonstrukt gleichzusetzen sei, da es weder ein IS-Territorium, noch eine IS-Bevölkerung, noch eine ordnungsbildende IS-Gewalt gäbe – selbstverständlich sei IS gewalttätig, aber eben auf eine sehr andere Art und Weise als ein Staat. Viele dieser Punkte sind richtig und korrekt.

 

Trotzdem treffen sie nicht ins Schwarze. Wenn keine Terrormiliz, und kein Staatsprojekt, was ist IS denn dann? Gerlach und Naeem bleiben die Antwort schuldig, wie wir IS verstehen sollen, mit welchen Konzepten wir sie als politischen Akteur verstehen können. Dabei werden gute Hinweise und passende historische Parallelen bereits in der Öffentlichkeit diskutiert.

 

Die ersten historischen Parallelen, die auf verschiedenen Webseiten auftauchten, bezogen sich auf die entsetzlichen Enthauptungsvideos von IS und den globalen Aufschrei des Entsetzens, die diese Bilder auslösten.

 

Darauf hinweisend, dass weder die Tat des Enthauptens, noch die propagandistischen Zurschaustellung der geschändeten Leichen etwas ist, das der westlichen, abendländischen, Kriegskultur fremd ist, veröffentlichten verschiedene Seiten Fotos aus europäischen Kolonialkriegen, die der IS-Propaganda in wenig nachstehen: Postkarten aus den französischen Kolonialkriegen des 19. Jahrhundert, aber auch Fotos aus dem 20. Jahrhundert, unter anderem von einem britischen Royal Marine im Malaysia-Krieg, der die Köpfe zweier enthaupteter Guerillakrieger präsentiert.

 

Enthauptungen und Terror gegen Zivilisten gehören hier auf einmal doch irgendwie zu einer »ordnungsbildenden« Staatsgewalt, ausgeübt sogar von den Armeen liberaler, europäischer Staaten. Freilich keine binnenländische Ordnung, sondern eine Ordnung der absoluten Unterwerfung unter die Kolonialmacht. Stichwort IS? Die zweite Parallele, die Analysten derzeit zum IS ziehen, stammt aus der jüngeren Vergangenheit und bezieht sich auf das in einigen afrikanischen Staaten bekannte Phänomen der »Schurkenterritorien« (»rogue territories«) oder militarisierter Clan-Gebiete (»militant fiefdoms«).

 

Hierzu werden die derzeit in Nigeria aktive Gruppe Boko Haram gezählt und die inzwischen, nach jahrzehntelangem Kampf fast vollständig besiegte »Lord’s Resistance Army« (LRA), die lange Zeit in Uganda, der Zentralafrikanischen Republik und Sudan ein sich ständig änderndes Gebiet kontrollierte und dessen Anwohner terrorisierte. Ein Vergleich dieser Gruppen mit IS zeigt wichtige strukturelle Ähnlichkeiten, die zu größter Sorge Anlass geben müssen.

 

Doch tatsächlich ist die langfristige Gefährlichkeit der Gruppe noch nicht einmal der Hauptgrund, warum ein Vergleich mit den afrikanischen Terrorgruppen so deprimiert. Dieser liegt darin, dass ein Auftauchen einer solchen Gruppe auf die langfristige Wirkung weist, die der Kollaps des irakischen Staates nach 2003 auf die ganze Nahost-Region bereits jetzt hat. Denn, egal wie sehr IS nun einem Staat gleicht oder nicht, ihr monatelanger Erfolg ist hauptsächlich mit der tiefen Schwäche des irakischen Staates zu erklären.

 

Und während die Schwäche der afrikanischen Staaten, die mit »Schurkenterritorien« zu kämpfen haben, viel damit zu tun hat, dass sie noch nie die Ressourcen hatten, zur zentralen Ordnungsmacht über ihr Gebiet aufzusteigen, hatte der Irak fast das gesamte 20. Jahrhundert diese sehr erfolgreich errungen. Das Auftauchen von IS wirft daher hauptsächlich die Frage nach der aktuellen Form des irakischen Staates auf – und, ob man Irak überhaupt noch als Staat bezeichnen kann.

Von: 
Sophia Hoffmann

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